Smyrna in Flammen (eBook)
368 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2934-2 (ISBN)
Wie der Brand von Smyrna Europa veränderte
Ein welthistorisches Ereignis jährt sich zum 100. Mal: der Brand von Smyrna, der legendären Hafenstadt des Osmanischen Reichs. Zehntausende Menschen kamen dabei 1922 ums Leben. Die blühende Metropole, das heutige Izmir, wurde völlig zerstört. Auf den türkisch-griechischen Krieg folgte ein Bevölkerungsaustausch, bei dem fast zwei Millionen Christen und Muslime aus ihrer Heimat fliehen mussten und der als Blaupause für alle ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts dienen sollte.
Während der aktuellen Flüchtlingskrise reist Lutz C. Kleveman ein Jahr lang auf die griechischen Inseln und nach Izmir - über Grenzen und durch die Zeit. Dabei entdeckt er das historische Smyrna wieder, wo Griechen, Türken, Juden, Armenier, Europäer und Amerikaner einst friedlich zusammenlebten. Er lässt die kosmopolitische Metropole erzählerisch auferstehen und uns verstehen, wie es zur Katastrophe von 1922 kommen konnte. Einer Katastrophe, die Europa für immer verändern sollte.
Lutz C. Kleveman, geboren 1974, hat Französische Literatur in Aix-en-Provence und Internationale Geschichte an der London School of Economics (LSE) studiert. Als Journalist hat Kleveman für Die Zeit, Spiegel Online, Newsweek und den Daily Telegraph geschrieben. Er ist Autor mehrerer historisch-politischer Reisebücher, u.a. von »The New Great Game« (2003), »Kriegsgefangen« (2011) und »Lemberg. Die vergessene Mitte Europas« (2017).
I
Freie Insel
Die Fähre legte spätabends ab.
Mit schwarz qualmendem Schornstein fuhren wir aufs Meer hinaus, selbst auf dem Oberdeck waren die Schiffsmotoren zu spüren. Die Luft wurde kühler, es roch nach Dieselruß und Tang. Möwen kreischten.
Ich stand an der Reling und blickte abwechselnd in den Heckstrudel und zurück auf das nächtliche Athen. Die angestrahlte Akropolis lag wie eine Insel im grauen Häusermeer, vom Bergrücken des Hymettos dunkel überragt. Je weiter wir uns vom Hafen entfernten, desto mehr schrumpfte der Parthenon zu einem hellen Pünktchen, bis er wie ein Funken verglomm.
Ein letzter fester Außenposten Europas, zumindest einer gewissen Vorstellung von Europa, so kam mir dieses Athen vor, dessen zittriger Lichtschein allmählich am Horizont verschwand.
Dann ging ich zum Schiffsbug und dachte an das Ziel meiner Reise: die Stadt Izmir an der türkischen Westküste, das alte Smyrna.
Allein wie dieser Name klang – fast schon mythisch, wie das versunkene Atlantis. Smyrna, das roch nach Myrrhe, feigenbeladenen Kamelen, Teppichen und dampfenden Wasserpfeifen. Es klang nach einem legendären Hafen, reichen Händlern und orientalischer Erotik. Als »Perle der Ägäis« wurde die osmanische Vielvölkerstadt einst gepriesen. Ihre griechischen Bewohner sprachen vom myrovolos Smyrni, dem süß duftenden Smyrna. Bis ins 20. Jahrhundert hinein lebten hier mehrere Kulturen und Religionen friedlich zusammen: Griechen, Türken, Armenier, Juden, Amerikaner und viele Europäer. Vor allem Engländer, Franzosen und Italiener suchten in dieser einzigartigen Metropole ihr Glück.
Die kosmopolitische Blütezeit der Stadt fand ein furchtbares Ende, als sie im griechisch-türkischen Krieg von 1919–1922 zwischen die Fronten geriet. Nachdem Smyrna im Mai 1919 von den Griechen besetzt worden war, eroberte die türkische Armee die Stadt im September 1922 zurück, steckte sie in Brand und ließ sie fast komplett niederbrennen. In den Flammen kamen in wenigen Tagen Zehntausende Zivilisten ums Leben. Sie verbrannten, wurden brutal massakriert oder ins Wasser getrieben, wo sie massenhaft ertranken. All dies geschah in Sichtweite mehrerer britischer, französischer und italienischer Kriegsschiffe, die vollbewaffnet in der Bucht von Smyrna ankerten. Deren Kommandeure aber intervenierten nicht, sondern sahen dem mörderischen Treiben tatenlos zu.
Das große Feuer von Smyrna war ein unfassbares Kriegsverbrechen. Es verursachte eine Flüchtlingskrise, die Europa nachhaltig verändern sollte. Fast alle überlebenden Christen wurden gewaltsam aus Kleinasien vertrieben, ebenso alle Muslime aus Griechenland, was zu einem nie dagewesenen Bevölkerungsaustausch führte.
Seitdem sind die schrecklichen Ereignisse der 1920er Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten oder wurden totgeschwiegen. Heute aber, fast genau hundert Jahre später, spielte sich in der Ägäis wieder eine große Flüchtlingskrise ab, während Europa erneut von aggressivem Nationalismus zerrissen wurde. Geschichte schien sich zu wiederholen. Es war an der Zeit, einige alte Lektionen hervorzukramen.
Deshalb wollte ich auf meiner Reise nach Izmir herausfinden, wie es zum Brand von Smyrna kommen konnte, was damals genau geschah, und welche Folgen die Tragödie für Europa und die Türkei bis in die heutige Zeit hatte.
Ich versuchte, mir eine Zigarette zu drehen, ohne dass der Fahrtwind den Tabak wegblies. Die attische Küste lag inzwischen weit entfernt. Auch die Möwen, die uns bisher begleitet hatten, flogen zurück. Nur noch das Rauschen der Bugwellen war zu hören. Die Fähre tauchte ein in die Nacht wie ein Raumschiff in das Weltall, in den ägäischen Kosmos, in dem die Lichter der vereinzelten Inseln wie Sterne funkelten.
In Griechenland kann ein Mann sich finden, hat Henry Miller geschrieben. Gerne auch das, dachte ich, denn seit der Trennung glich mein Leben dem ägäischen Archipel – es schien in tausend kleine Inseln zersprengt, von denen die meisten kahl und felsig waren.
Wenn jede große Expedition auch eine innere Reise ermöglichte, dann hoffte ich, wenn ich ehrlich war, auf dieser Recherchefahrt auch die verstreuten Scherben meines Selbst aufsammeln und neu zusammenfügen zu können. Dafür schien mir die Ägäis ein guter Ort zu sein, ohne dass ich sagen konnte, warum. Vielleicht lag es am Licht, diesem leicht schimmernden, diaphanen Blau, das ein schweres nordisches Gemüt doch aufhellen musste. Was ich suchte, war jedenfalls nicht nur eine Geschichte, sondern eine Erfahrung, die mich wieder mit anderen Menschen verbinden würde.
Ob mir all dies gelingen würde, fragte ich mich, als ich vom Oberdeck in meine Kajüte hinabstieg und mich schlafen legte.
Als ich am nächsten Morgen erwachte und durch das Bullauge blickte, hatten wir bereits die Gewässer vor der türkischen Westküste erreicht. Steuerbords ragten die Berge der anatolischen Landmasse empor. Auf ihren Kämmen drehten sich Windräder, hinter denen bald die Sonne aufgehen würde. Mein Telefon zeigte abwechselnd griechische und türkische Funknetze an. Ich war in das Grenzgebiet zwischen Europa und Asien gelangt.
Die nächtliche Fahrt war ruhig gewesen, flache, langgezogene Wellen hatten mich durch den Schlaf gewiegt. Seit unserer Abfahrt aus Piräus hatte das Schiff mehrere Inseln angesteuert – erst Syros und andere Zykladen, dann das ostägäische Ikaria und zuletzt Samos. Jetzt fuhren wir auf nördlichem Kurs, der thrakischen Hafenstadt Kavala entgegen.
Ich verließ die Kajüte, um zu den oberen Decks zu gehen. Das Schiff schien erst langsam zu erwachen. Auf den hölzernen Sitzbänken, unter Jacken und dünnen Decken, lagen einige Passagiere, die sich keine Kabine leisten konnten. Karge Besitztümer waren in Plastiktüten verstaut. Kinder schmiegten sich im Schlaf an ihre Mütter, die Väter rauchten eine erste Zigarette. Waren sie Reisende oder Flüchtlinge, fragte ich mich – woher kamen sie, wohin fuhren sie?
Im Dunst vor dem Bug tauchte nun Chios auf, wo ich auf eine kleinere Fähre zur türkischen Küste umsteigen wollte. Die Topographie der Insel war ungewöhnlich: Spitz gezackte Berge ragten steil in den Himmel, wie der Rücken eines schlafenden Drachen. Einige Hänge schienen, so viel war in der Morgendämmerung zu erkennen, mit Eichen und Kiefern bewaldet zu sein, andere waren wie auf den Zykladen kahl und kreidegrau. Im Westen der Insel fielen die Berge ziemlich direkt ins Meer hinab, im Süden und Osten breiteten sich hügelige und üppig grüne Küstenebenen mit vereinzelten Dörfern aus. Am Ufer schienen Obstbäume zu blühen.
Vor meiner Reise hatte ich, ehrlich gesagt, noch nie von Chios gehört. Die Insel, mit etwa 50 000 Einwohnern immerhin die fünftgrößte Griechenlands, war touristisch weit weniger bekannt als ihre ostägäischen Nachbarn Lesbos und Samos. Dabei spielte Chios offenbar lange, da hatte ich mich inzwischen etwas schlaugelesen, eine wichtige Rolle in der europäischen Geschichte. Dank der strategischen Lage auf den Seehandelsrouten zwischen dem westlichen und östlichen Mittelmeer wurde die Insel bereits in der Antike sehr wohlhabend. Aristoteles bezeichnete Chios in der Politiká als Heimat von Kaufleuten und Händlern, und der Athener Historiker Thukydides beschrieb die Chioten in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs als die reichsten aller Griechen, die in ihrer Polis schon früh demokratische Herrschaftsformen ausprobierten und viele Poeten und Philosophen hervorbrachten – der berühmteste war Homer, der im achten vorchristlichen Jahrhundert angeblich auf Chios aufwuchs und dichtete. War die wahre Heimatinsel von Odysseus etwa nicht Ithaka, sondern Chios?
Auch im Römischen Reich wuchs der Wohlstand der Insel weiter. Ein Zeugnis davon waren vier bronzene Prunkpferde, die vermutlich auf Chios hergestellt wurden und weltberühmt werden sollten. Im 5. Jahrhundert ließ man die Quadriga auf kaiserlichen Befehl in die oströmische Hauptstadt Konstantinopel bringen, von wo katholische Kreuzfahrer sie nach der ziemlich unchristlichen Plünderung der Stadt im Jahre 1204 als Beute nach Venedig verschleppten und sie auf das Hauptportal des Markusdoms stellten. Von dort raubte Napoleon knapp sechs Jahrhunderte später die vier Bronzerösser und ließ sie auf den Pariser Arc de Triomphe platzieren....
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | 100. Jahrestag • Bevölkerungsaustausch • Brand von Smyrna • Bruce Chatwin • ethnische Säuberungen • Europa • Geschichtspanorama • Globale Stadt • Griechenland • Gründung der Türkei • Izmir • Kosmopolitismus • Osmanisches Reich • Türkei • Vertrag von Lausanne • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-8412-2934-4 / 3841229344 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2934-2 / 9783841229342 |
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