Von der Herausforderung, ein Stoiker zu sein (eBook)
192 Seiten
FinanzBuch Verlag
978-3-98609-063-0 (ISBN)
William B. Irvine ist Professor für Philosophie an der Wright State University. Er ist Autor von sieben Büchern, darunter Eine Anleitung zum guten Leben, und hat für das Wall Street Journal, die Huffington Post, Salon, Time und die BBC geschrieben. Er lebt in Dayton, Ohio.
William B. Irvine ist Professor für Philosophie an der Wright State University. Er ist Autor von sieben Büchern, darunter Eine Anleitung zum guten Leben, und hat für das Wall Street Journal, die Huffington Post, Salon, Time und die BBC geschrieben. Er lebt in Dayton, Ohio.
Einleitung
Ein Tag am Flughafen
Ich flog an diesem Tag quer über die Vereinigten Staaten und brauchte in Chicago einen Anschluss. Die Ankunft des Fluges, der mich nach Hause bringen sollte, wurde wegen schlechten Wetters verschoben. Als die Maschine schließlich doch landete, wurden wir Passagiere auch gleich an Bord gebeten, aber kaum dass wir saßen, mussten wir das Flugzeug wieder verlassen. Die Tür zum Laderaum, hieß es, schließe nicht richtig. Nachdem wir eine Viertelstunde im Terminal gewartet hatten, kam der Aufruf zum erneuten Boarding, dem wir erleichtert folgten.
Zehn Minuten später gab es eine weitere Ansage der Flugbegleiter. Das Bodenteam habe die Tür zum Laderaum zwar ordnungsgemäß zubekommen, dann aber festgestellt, dass noch ein Koffer eingeladen werden musste. Als man die Tür deswegen noch einmal öffnete, ließ sie sich danach wieder nicht schließen. So war ein kleines Problem zu einem großen angewachsen. Man bat uns erneut, das Flugzeug zu verlassen.
Am Flugsteig versicherte man uns, es werde eine andere Maschine eingesetzt, kurz darauf hieß es aber, es sei schon zu spät und man könne erst am nächsten Morgen ein Flugzeug bereitstellen. Aus der Passagiermenge stieg ein Seufzen auf. Man versprach, die Fluggesellschaft würde uns kostenlos in einem nahe gelegenen Hotel unterbringen. Die Reaktion war erneutes Seufzen. Ich war, so muss ich an dieser Stelle zugeben, unter den Seufzenden – bis mir klar wurde, was hier geschah: Die stoischen Götter hatten diesen Zwischenfall für mich ersonnen, sie wollten mich prüfen. »Die Wette gilt!«, willigte ich ein.
Denn die Erfahrung lehrte mich eins: Wenn ich Hindernisse als Herausforderung begriff – oder noch genauer: Wenn ich annahm, dass sich die stoischen Götter diese als Prüfung meiner Resilienz und meines Einfallsreichtums ausgedacht hatten –, drückten mich diese Rückschläge emotional weniger nieder und ich konnte meine Chancen erhöhen, einen guten Umgang mit dem Problem zu finden. An diesem Punkt ist jedoch eine Erklärung angebracht.
Zuerst einmal sei gesagt, dass ich keiner abstrusen Sekte angehöre. Ich bin vielmehr ein moderner Anhänger einer antiken Philosophie. Genauer gesagt bin ich praktizierender Stoiker – was bedeutet, dass ich mich entschieden habe, mein im 21. Jahrhundert verortetes Dasein nach Lebensstrategien auszurichten, die stoische Philosophen wie Mark Aurel, Seneca, Epiktet und andere vor zweitausend Jahren aufgestellt haben.
Mit diesem Entschluss stehe ich nicht allein da. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass ihnen etwas fehlt, was die antiken Philosophen eine Lebensphilosophie genannt hätten. Eine solche Philosophie sagt uns, was wir im Leben wirklich benötigen, und liefert gleichzeitig eine Strategie, wie wir es auch bekommen. Wer versucht, sich ohne Lebensphilosophie durchs Dasein zu schlängeln, der muss von Tag zu Tag neu improvisieren. Unsere Handlungsweise ist dann oft planlos, wie zufällig, und wir laufen Gefahr, unser Leben zu vergeuden. Was doch eine Schande wäre.
Wichtig: Der Stoizismus ist keine Religion. Die Stoa, die Schule beziehungsweise Lehre der stoischen Philosophie, legt ihre Aufmerksamkeit auf unsere Zeit auf der Erde, nicht auf das Leben nach dem Tod. Dabei ist sie mit vielen Religionen wie dem Christentum und dem Islam vereinbar. Wobei es hier einer weiteren Klärung bedarf: Oben habe ich von den »stoischen Göttern« gesprochen – ich glaube jedoch nicht, dass es diese als physische oder auch »geistige« Wesen gibt. Sie sind für mich rein fiktiv. Indem ich mich auf sie berufe, kann ich das, was viele Menschen als unglücklichen Zwischenfall betrachten, in eine Art Gedankenspiel verwandeln. Das ermöglicht mir, ohne Wut oder Frustration auf Rückschläge zu reagieren.
Wer sich als Teil einer psychologischen Strategie nicht gerne an imaginäre Götter wenden mag, der kann auch an einen Trainer oder Lehrer denken, ohne dass dies der psychologischen Wirkung abträglich wäre. Und wer gläubig ist, kann den Rückschlag als Gottes oder Allahs Vorsehung deuten, so wie es viele Christen und Muslime bereits tun. Im Folgenden möchte ich das Gedankenspiel der stoischen »Challenge« und die zugrunde liegende Forschung weiter erläutern und Tipps geben, wie sich das Spiel am besten spielen lässt. Zunächst aber zurück zu meiner Flughafengeschichte.
Man gab uns also Hotelgutscheine und sagte, wir sollten auf einen Shuttlebus warten. Der kam dann auch, wir stiegen ein und erreichten schnell unser Ziel. Nachdem ich einige Zeit vor der Rezeption in der Schlange gestanden hatte, bekam ich einen Schlüssel überreicht und wollte mich rasch zu meinem Zimmer aufmachen, um wenigstens noch vier Stunden Schlaf zu bekommen. Ich fuhr ziemlich lange mit dem Aufzug, lief über lange Flure, bis ich das Zimmer erreichte. Als ich schließlich die Tür öffnete, fand ich es unaufgeräumt vor.
Als Nicht-Stoiker wäre ich an diesem Punkt in Rage geraten: Unverschämt! Was denken die sich eigentlich! Da ich das Ganze aber als Teil einer Herausforderung betrachtete, vor die mich die stoischen Götter stellten, dachte ich vielmehr: Netter Versuch! Habe ich gar nicht mit gerechnet. Nicht schlecht, ihr stoischen Götter! Ich stiefelte zurück zum Empfang und erklärte die Situation.
Wäre ich vor dem Hotelmitarbeiter ausgerastet, so hätte das jeder, auch er selbst, verständlich gefunden. Aber wäre das die Sache wert gewesen? Natürlich nicht, falls mir an meinem Gleichmut etwas lag. Dass ich in dem Angestellten keinesfalls einen boshaften Menschen, sondern ganz einfach einen Komparsen der stoischen Challenge sah, half mir, die Ruhe zu bewahren.
Er gab mir darauf den Schlüssel zu einem Zimmer, das »sauber sein sollte«, wie er versicherte. Das traf auch zu. Ich bekam noch ein wenig Schlaf und trat frühmorgens wieder vor das Hotel, wo uns ein Shuttle erwartete und zum Flughafen fuhr. In dem Bus saßen fast nur Passagiere des abgesagten Flugs, die sich die gesamte Fahrt über in ihren Beschwerden über die Fluggesellschaft, den Flughafen und das Hotel zu übertreffen versuchten. Ich hörte mit halbem Ohr zu und freute mich, dass ich mich aus dieser allgemeinen Verärgerung heraushalten konnte.
Mir kam in den Sinn, was für unheimlich verwöhnte Blagen wir Menschen des 21. Jahrhunderts doch sind. Sitzen da in einem klimatisierten Bus, auf dem Weg zu einem klimatisierten Flughafen, von dem wir in einer klimatisierten Maschine zu einem Flug über die Staaten starten. Falls wir auf dieser Reise Durst verspürten, würde uns jemand ein Getränk unserer Wahl bringen. War der Flug lang genug, würde uns etwas zu essen angeboten. Müssten wir uns erleichtern, so wartete am Ende des Gangs eine Spültoilette auf uns. Und noch dazu würde diese Toilette sehr wahrscheinlich über Klopapier verfügen.
Was, fragte ich mich, würden die amerikanischen Pioniere wohl von uns halten, die doch ebenfalls das Land durchquert hatten, wobei bei ihnen Planwagen, wochenlange Strapazen und die Gefahr feindseliger Begegnungen mit den Native Americans im Spiel waren? Ihre Kutschbänke mögen breiter gewesen sein als moderne Flugzeugsitze, doch sind die meisten Siedler wohl gelaufen, damit die Wagen nicht noch mehr überladen wurden – oder auch, um beim Poltern über unbefestigte Wege nicht pausenlos durchgerüttelt zu werden. Nicht zuletzt gab es auf diesen langen Reisen natürlich weder Toiletten noch Toilettenpapier. Was wir modernen Flugpassagiere hier taten, wäre diesen Menschen (selbst angesichts der Pannen) wie ein Wunder erschienen. Wir aber saßen da und jammerten, wie schlimm wir es doch hatten und wie unfair das Leben war.
Der Ersatzflug startete und landete ohne weitere Zwischenfälle. Am Heimatflughafen stand mein Auto immer noch da, wo ich es stehen gelassen hatte (Puh!), und ich fuhr nach Hause, ohne auf weitere direkte oder indirekte Hindernisse zu treffen. Zu Hause angekommen, beschloss ich, dass die Prüfung damit beendet war, und setzte zu einer Bewertung an: Ich hatte mich ganz gut geschlagen, fand ich, und war trotz der verschiedenen negativen Reize ruhig und gelassen geblieben. Ich fühlte mich beschwingt wie ein Sieger: »Der Punkt geht an mich«, beschloss ich. Ich nahm an, dass meine Mitpassagiere mit weniger guten Gefühlen aus dieser unglücklichen Episode gingen. Ich habe diese Strategie im Umgang mit Rückschlägen inzwischen zu vielen Gelegenheiten, mit jeweils ähnlichen Ergebnissen angewendet.
Frustriert oder verärgert zu sein, wenn man nicht bekommt, was man will, erscheint vielen von uns als natürliche Reaktion. Gegen seine Wut kann man nicht an, heißt es. Zum Glück gibt es aber eine alternative Vorgehensweise, die leicht anwendbar und erstaunlich effektiv ist. Ich nenne sie die stoische Teststrategie: Rückschläge, denen wir begegnen, werden hier als eine von imaginären stoischen Göttern ersonnene Herausforderung an unsere Resilienz und unseren Einfallsreichtum betrachtet. Durch diese...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2022 |
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Übersetzer | Ursula Held, Karin Schuler |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Ängste besiegen • Antike • Balance • Epiktet • FBV • Griechische Philosophie • Klassik • Marc Aurel • Marcus Aurel • Resilienz • Römische Philosophie • Ruhe • Seneca • Stoa • Stoic Challange • Stoiker • Stoizismus • unerschütterlich • Zufriedenheit |
ISBN-10 | 3-98609-063-0 / 3986090630 |
ISBN-13 | 978-3-98609-063-0 / 9783986090630 |
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