»Eyn sonderlicher Gottisdienst«? (eBook)

Evangelische Theologinnen und Theologen als Parlamentarier
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
302 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45006-3 (ISBN)

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»Eyn sonderlicher Gottisdienst«? -
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Wie war und wie ist der theologische Berufsstand in deutschen Parlamenten repräsentiert? In welchen Parteien engagieren sich evangelische Theologinnen und Theologen in welchen Epochen vorrangig? Welche fachpolitischen Aufgaben übernahmen sie im Parlament schwerpunktmäßig? Lässt sich eine bestimmte Typologie von Karriereverläufen feststellen? Die Beiträge dieses Bandes behandeln erstmals das Wirken evangelischer Theologinnen und Theologen in deutschen Parlamenten seit 1848. Neben umfangreichem statistischem Material legt er exemplarische Studien zur Lerngeschichte des deutschen Protestantismus vor, in denen die historischen Kontexte, der rechtliche Rahmen und das politische Wirken der theologischen Parlamentarier beleuchtet werden.

Uta Elisabeth Hohmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation« der Universität Münster. Arnulf von Scheliha ist Professor für Theologische Ethik und Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Uta Elisabeth Hohmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster »Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation« der Universität Münster. Arnulf von Scheliha ist Professor für Theologische Ethik und Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

»Politische Pastoren sind ein Unding«. Rechtshistorische Aspekte zur Vereinbarkeit von geistlichem Amt und politischem Mandat


Martin Otto

Ein hellsichtiger Kaiser?


Der evangelische »politische Pastor« ist älter als die Bundesrepublik, aber jünger als die ältesten deutschen Verfassungen, ein Kind des »langen 19. Jahrhunderts«. Für Karikaturen sind evangelische Pfarrer, gut erkennbar am ebenfalls im 19. Jahrhundert zur Regel gewordenen schwarzen Talar mit Beffchen23, gut geeignet. Am 16. August 1881 veröffentlichte die in Altona erscheinende ursprünglich radikalliberale, später sozialdemokratische Tageszeitung Die Reform24 die Lithographie Wer Hass sät, wird Gewalt ernten, eine Anspielung auf Hosea 8,7.25 Die Illustration war zweigeteilt, die obere Hälfte »Saat« zeigte eine »Antisemiten-Versammlung« mit den Namen »Stöcker« und »Henrici«, den evangelischen Pfarrer und Reichstagsabgeordneten Adolf Stoecker als Karikatur. Die untere Hälfte »Frucht« zeigte einen antisemitischen Mob in »Pommern«. Das bezog sich auf den »Synagogenbrand von Neustettin« vom 18. Februar 188126; am 13. Februar war der »Radauantisemit« Ernst Henrici27 dort aufgetreten. Die Kausalität war evident. Der nicht abgebildete Henrici war kein Pfarrer, sondern Lehrer und radikaler als Stoecker, doch dessen Rolle als antisemitischer Politiker besaß durch sein Pfarramt besondere Brisanz. Eine Aussage Kaiser Wilhelms II. vom 28. Februar 1896 erscheint unerwartet hellsichtig:

»Stoecker hat geendigt, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial; christlich-sozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.«28

Wilhelm II. hatte seinem ehemaligen Erzieher, dem strengen Calvinisten Georg Hinzpeter29 telegraphiert, doch als private Äußerung war es nicht gedacht; auf »allerhöchsten Befehl« wurde das Telegramm über den Industriellen und konservativen Reichstagabgeordneten Carl-Ferdinand von Stumm-Halberg30 an die Presse lanciert, eine Reaktion auf Stockers endgültiges und von wechselseitigen Intrigen begleitetes Ausscheiden aus der konservativen Partei.31

Frühkonstitutionalismus: Theologen als Parlamentarier der »Ersten Kammern«


Der erste »politische Pastor« oder Theologe im Parlament war Stoecker nicht. Viele Verfassungen des Frühkonstitutionalismus32, die bis 1918 in Geltung waren, räumten Theologen ausdrücklich Sitze in den Parlamenten ein.

Württemberg, Bayern, Baden: Der Landesbischof im Landtag


So bestimmte die Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 181933 in § 133, dass zu den Mitgliedern der »zweiten Kammer« die sechs »protestantischen General-Superintendenten« gehören; im gemischtkonfessionellen Württemberg wurde auf Parität geachtet, entsprechendes galt für den katholischen »Landesbischoff [d.i. der Bischof von Rottenburg], einem von dem Domkapitel aus dessen Mitte gewählten Mitgliede, und dem der Amtszeit nach ältesten Dekan katholischer Confession«. Die Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 181834 sah eine »Stände-Versammlung« als Zweikammerparlament vor (Tit. VI § 1). Der ersten »Kammer der Reichs-Räthe« gehörten der »vom Könige ernannte[n] Bischof[e]« der evangelische Landeskirche35 und der »jedesmalige[] Präsident[en] des protestantischen General-Consistoriums« an (Tit. VI § 6 Nr. 5); in der »Kammer der Abgeordneten« stand »Geistlichen der katholischen und protestantischen Kirche« (Tit. VI § 7), »ein Achttheil« der Mitglieder (Tit. VI § 9) zu. Ähnlich bestimmte § 27 die Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 181836, dass in der ersten Kammer »dem Landesbischoff [d.i. der katholische Erzbischof von Freiburg] und einem vom Großherzog lebenslänglich ernannten protestantischen Geistlichen mit dem Range eines Prälaten« Sitze zustehen. Eine Verfassungsänderung am 24. August 190437 änderte an der Mitgliedschaft von »dem katholischen Landesbischof und dem Prälaten der evangelischen Landeskirche« nichts. Eine ähnliche Regelung kennt bis heute das englische Verfassungsrecht38; zum Oberhaus House of Lords gehören 26 englische Bischöfe der Church of England als Lords Spiritual, die zudem als Mitglieder des Oberhauses nicht zum Unterhaus House of Commons wahlberechtigt sind. Nicht nur der Erzbischof von Canterbury ist gleichzeitig Parlamentarier und Theologe; das erinnert an ständische Wurzeln des Parlamentarismus, in denen sich die Frage nach »politischen Pastoren« nicht stellte, da Staat und Kirche nicht getrennt waren und geistliche Macht mit politischer Macht verbunden war.

Bundesrepublikanisches Nachspiel: Der Bayerische Senat


In der Bundesrepublik besaß der Freistaat Bayern nach seiner Verfassung vom 8. Dezember 1946 neben dem Landtag einen »Senat« als »Vertretung der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und gemeindlichen Körperschaften des Landes« (Art. 34 BayVerf aF), der 1999 ersatzlos abgeschafft wurde.39 Ihm gehörten fünf Vertreter der »Religionsgemeinschaften« an (Art. 35 Nr. 7 BayVerf. aF) , faktisch der katholischen und der evangelischen Kirche sowie der Israelitischen Kultusgemeinde.40 Diese Senatoren, die als einzige nicht »nach demokratischen Grundsätzen gewählt«, sondern von den Religionsgemeinschaften »bestimmt« wurden (Art. 36 Abs. 1 BayVerf aF) , mussten keine Theologen sein, doch gehörten von 1946 bis 1999 neun evangelische Pfarrer dem Senat an, Thomas Breit41, Heinrich Grießbach42, Gerhard Hildmann43, Georg Lanzenstiel44, Helmut Lindenmeyer45, Hugo Maser46, Heinrich Riedel47 und Friedrich Veit48; bekanntester Senator war Bischof Theodor Heckel49, ein Bruder des evangelischen Kirchenrechtlers Johannes Heckel50, vom 1. April 1961 bis zu seinem Tod am 24. Juni 1967. Anders als die bayerische Verfassung von 1946 sah die preußische Verfassung von 1850 keine Repräsentation der Kirchen vor. Im Herrenhaus waren von 1850 bis 1918 nur wenige Theologen vertreten, vorwiegend katholische Priester. Evangelische Pfarrer waren nur Wilhelm Faber51 und Johannes Hesekiel52. Sie wurden von Domstiften vorgeschlagen.

Das zweite Deutsches Kaiserreich: Der politische Pastor im Kulturkampf


Der »Kanzelparagraph«


Die erste gesetzliche Maßnahme gegen »politische Pastoren« stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kulturkampf, der »Kanzelparagraph«, der am 10. Dezember 1871 auf Antrag Bayerns als § 130a in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.53

»Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche, oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft.«54

Der Tatbestand richtete sich nicht gegen eine bestimmte Konfession oder Religion, zielte aber auf die katholische Kirche; nach der gegen den preußischen Kulturkampf gerichteten Enzyklika Papst Pius IX. Quod numquam vom 5. Februar 1875 wurde der Tatbestand erweitert.

»Gleiche Strafe trifft denjenigen Geistlichen oder anderen Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufes Schriftstücke ausgibt oder verbreitet, in welchen Angelegenheiten des Staats in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstand einer Verkündigung oder Erörterung gemacht sind.«55

Praktisch verlor der »Kanzelparagraph« nach dem Ende des Kulturkampfs an Bedeutung; er wurde 1953...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2022
Reihe/Serie Religion und Moderne
Religion und Moderne
Co-Autor Benedikt Brunner, Roxane Camen-Vogel, Uta Elisabeth Hohmann, Catharina Jacob, Claudia Lepp, Martin Otto, Stephan Reimers, Arnulf von Scheliha, Christian Schulze-Pellengahr, Rasmus Wittekind
Mitarbeit Sonstige Mitarbeit: Jacob Catharina
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Demokratie • Deutscher Bundestag • Deutsches Reich • Deutschland • evangelische Theologen • evangelische Theologinnen • Geschichte • Kirchengeschichte • Kirchenrecht • Mandatsträger • MdB • MDL • MDR • Parlament • Parlamentarier • Parlamentarierinnen • Parlamentarismus • Partei • Parteien • Politische Ethik • Protestantismus • Reichstag • Theologie
ISBN-10 3-593-45006-2 / 3593450062
ISBN-13 978-3-593-45006-3 / 9783593450063
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