Kaiserdämmerung (eBook)
880 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11683-0 (ISBN)
Rainer F. Schmidt ist Professor für Geschichte der Neuzeit und der Didaktik der Geschichte an der Universität Würzburg. Er ist u.a. Autor einer Biographie über Graf Julius Andrássy und einer Studie über den Flug von Rudolf Heß nach Schottland.
Rainer F. Schmidt ist Professor für Geschichte der Neuzeit und der Didaktik der Geschichte an der Universität Würzburg. Er ist u.a. Autor einer Biographie über Graf Julius Andrássy und einer Studie über den Flug von Rudolf Heß nach Schottland.
1.
Die »Urkatastrophe« und die Frage nach der Verantwortung
Am Anfang standen düstere Vorzeichen. Sie konnten unterschiedlicher nicht sein. Sie zeigten sich auf Ebenen, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun hatten: auf dem Feld der Militärpolitik, der Technik und der Kultur. Das mag der Grund dafür gewesen sein, wenn die Zeitgenossen ihre sinistere Symbolik gar nicht erkannten, wenn sich ihre Botschaften und ihre Bedeutung erst im Rückblick erschlossen. Gleichwohl: In den Ereignissen versinnbildlichte sich, dass die vertrauten Muster des Daseins brüchig geworden waren, dass sich die Regeln der traditionellen Ordnung in Auflösung befanden, ja, dass die Fundamente, auf denen die alte Welt ruhte, ins Wanken geraten waren. Diese Menetekel kündigten etwas Neues, Umstürzendes, ja, Unheilvolles an. Das Tor zur Sintflut stand schon weit offen, als sich die europäischen Großmächte im August 1914 im Akt einer Selbstzerfleischung in den großen Krieg stürzten.
Das erste dieser Vorzeichen kam 1911. In den Jahren vor dem Weltkrieg bot sich den morgendlichen Besuchern des Londoner Hyde Parks ein seltsames Schauspiel. Sie begegneten einem hochgewachsenen, hageren Anglo-Iren, der in der Uniform eines Brigadegenerals, aber nur mit einer Morgenzeitung bewaffnet, die er aus der Tasche zog, wenn er außer Atem war, dort seine Runden vor dem Frühstück drehte. Sir Henry Wilson war der Leiter des Operationsbüros im Londoner Kriegsministerium. Er war der entscheidende Mann, wenn es darauf ankam, die britischen Truppen zur Verteidigung der Interessen des Vereinigten Königreichs ins Feld zu stellen. Sein Aufgabengebiet umfasste die Mobilmachung der Landarmee, die er bis ins Kleinste ausgetüftelt hatte: die Unterkünfte für jedes Bataillon, die Zahl der Eisenbahnwaggons, die bereitzustellen waren, die Anweisungen für die Dolmetscher, die Vorbereitung von Chiffren für die Übermittlung von Nachrichten, ja, selbst die Orte und Zeitpunkte der Teeausgabe hatte er präzise festgelegt.
Wilson war wenige Meilen von Belfast Lough von französischen Gouvernanten erzogen worden, sprach fließend Französisch und war ein großer Verehrer der französischen Kultur. Das war auch der Grund, weshalb er über Jahre hinweg im Sommer auf den Kontinent reiste, um dort wochenlang mit Kraftwagen, per Bahn und vor allem mit dem Fahrrad die Schlachtfelder des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 zu besichtigen. Die französischen Festungsanlagen kannte er beinahe ebenso gut wie seine Pariser Kollegen. Das voraussichtliche Kampfgebiet im Raum Elsass-Lothringen und entlang der belgischen Grenze hatte er genau inspiziert. Und die aus Belgien kommenden Einfallstraßen in Nordfrankreich hatte er alle mit dem Fahrrad erkundet. Denn eines stand für Wilson außer Zweifel: Der nächste große bewaffnete Zusammenstoß, der auf England wartete, war derjenige mit Deutschland. Diesmal würden die britischen Truppen Schulter an Schulter mit den Soldaten Frankreichs fechten.
Auf seinen Touren hatte er mit dem damaligen Direktor der obersten Kriegsschule der französischen Armee, General Ferdinand Foch, Freundschaft geschlossen. Wilson fragte ihn bei einer Plauderei beim Tee vor dem Kamin geradeheraus, wie umfangreich eine britische Streitmacht sein müsse, die für Frankreich von Nutzen sein könne? Die Antwort Fochs kam blitzschnell und wie aus der Pistole geschossen. Sie ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »Ein einziger gemeiner Soldat«, so replizierte er, »und wir würden schon dafür Sorge tragen, dass er getötet wird.«[1] Die französischen Militärs um Generalstabschef Joseph Joffre und dessen Stellvertreter Noël de Castelnau lüfteten Wilson gegenüber sogar ihr bestgehütetes militärisches Geheimnis: Sie besaßen eine Abschrift des deutschen Feldzugplans für den Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland, mitsamt den handschriftlichen Notizen, die der deutsche Generalstabschef von Moltke darauf angebracht hatte.[2]
Das war die Trumpfkarte, die Wilson gegenüber den Londoner Politikern ausspielte, um Premierminister Asquith, den »Trunkenbold«, wie er ihn mit Verachtung nannte, und sein »dreckiges Kabinett« auf Linie zu bringen.[3] Für die Versammlung des Committee of Imperial Defence im August 1911, bei der er die Weichen hierfür zu stellen gedachte, hatte er eine Denkschrift über die Notwendigkeit der Unterstützung Frankreichs durch England im Kriegsfall mit Deutschland verfasst.[4] Nur ein Zusammenwirken mit Frankreich und die Entsendung eines britischen Expeditionskorps, so hatte er zu Papier gebracht, könne Deutschland daran hindern, »in eine dominierende Stellung auf dem europäischen Kontinent einzurücken«. Eine solche aber werde sich auf Dauer für England »als verhängnisvoll« erweisen. Für die Sitzung der Londoner Spitzenpolitiker hatte Wilson sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. In seinem Büro befand sich eine riesige Karte von Belgien, die dort eine ganze Wand bedeckte und auf der jede einzelne Straße markiert war, die nach Nordfrankreich führte. In einem großen, mit Pferden bespannten Wagen ließ er diesen virtuellen Schauplatz des Geschehens ins Regierungsviertel schaffen. Dort erklärte er den anwesenden Politikern geduldig und über fast zwei Stunden hinweg, Punkt für Punkt und in allen strategischen Details, die Logik und das Siegesrezept des deutschen Kriegsplans: den zu erwartenden simultanen Krieg an zwei Fronten in zwei nacheinander zu führende Einfrontenkriege aufzulösen; mittels einer Umfassung der französischen Truppen durch den aus Belgien vorstoßenden rechten Heeresflügel im Westen einen schnellen Sieg zu landen; und dann alles nach Osten gegen Russland zu werfen, das circa sechs Wochen benötigte, um seine gigantische Armee gefechtsbereit zu machen. Wilson beschrieb alles genau so, so hielt Churchill später fest, wie die deutschen Aktionen im Herbst 1914 dann tatsächlich ablaufen sollten.[5]
In dieser Sitzung des Verteidigungsrates stellte Wilson die militärischen Weichen für Englands Position im kommenden Krieg. Bis dahin hatte die Insel als neutrale Macht die Rivalitäten in Europa von außen gesteuert und, statt die Kräfte dort zu verschwenden, eine »balance of power«-Politik befolgt. London gehörte keinem der waffenstarrenden Bündnissysteme an, die sich auf dem Kontinent belauerten: weder dem russisch-französischen Zweibund noch dem Dreibund mit Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Die Zustimmung der entscheidenden Männer des Kabinetts in der Sitzung vom August 1911 war ein Triumph für Wilson. Deshalb begab er sich im September 1911 erneut auf den Schauplatz der künftigen Auseinandersetzung.
Auf den Schlachtfeldern von Mars-La-Tour hatte er bei seinen Radwanderungen ein französisches Denkmal entdeckt, zu dem er seither immer wieder zurückgekehrt war. Es war ein Mahnmal für die französischen Gefallenen in den Schlachten des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71, erbaut mit Unterstützung des französischen Präsidenten Marschall de Mac-Mahon im Jahre 1875. In allegorischer Überhöhung zeigte es die trauernde Marianne, die einen toten französischen Soldaten in ihren Armen hielt. Ihr Haupt war mit einem Siegeskranz geschmückt. Er barg das Versprechen, die dort erlittene Schmach dereinst zu rächen. Zu ihren Füßen waren zwei Kinder zu sehen. Das eine ergriff das Gewehr des Sterbenden, um erneut in den Kampf zu ziehen und die Scharte der Niederlage auszuwetzen. Das andere stützte sich auf den Anker der Hoffnung und blickte unverwandt gen Osten in die Ferne: auf den Tag der Revanche gegen das Deutsche Kaiserreich.
Ungezählte Male hatte Wilson schon vor dem Denkmal gestanden. Jetzt aber war er sich sicher, dass die Stunde der Abrechnung nicht mehr fern war. Diesmal würde England an der Seite Frankreichs stehen. Inmitten der wabernden Herbstnebel, die ihn umfingen, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Die »Frankreich«, so hielt er in seinem Tagebuch fest, war »schön wie immer«. Und dann bückte er sich nieder und vollzog eine rituelle Handlung, die einem Versprechen gleichkam. Zu den Füßen der Marianne legte er »ein Stückchen der Karte« nieder, »welche die Versammlung der britischen Streitkräfte auf Frankreichs Boden zeigte«.[6]
Ein halbes Jahr nach dieser Begebenheit kam das zweite Menetekel. Mitte April 1912 jagte der Oceanliner Titanic dem Blauen Band nach, der prestigeträchtigen Prämie für die schnellste Atlantiküberquerung auf der Route Southampton – New York. Die Jungfernfahrt des...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2021 |
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Zusatzinfo | ca. 17 Abbildungen in schwarz-weiß, sowie einer Karte |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Antisemitismus • balkankrise • Berlin • Bismarck • Bülow • Bündnispolitik • Caprivi • Demokratie • Deutsches Kaiserreich • Deutsch-französischer Krieg • Diplomatie • Edward Grey • Erster Weltkrieg • Flotte • flottenpolitik • Gründerzeit • Helmut von Moltke • Hindenburg • Imperialismus • Industrialisierung • Julikrise • Kaiser • Kolonialzeit • Kriegsausbruch • Krügerdepesche • Kulturkampf • Max von Baden • Militär • Militarismus • Moderne • Monarchie • Moskau • Nationalismus • Parlamentarismus • Poincare • Preußen • Reichsgründung • Reichswehr • Schlieffenplan • SPD • Spiegelsaal • Theobald von Bethmann Hollweg • Verdun • Versailles • Westfront • Wettrüsten • Wien • Wilhelm II. • Wilhelminische Zeit • Zarenreich |
ISBN-10 | 3-608-11683-4 / 3608116834 |
ISBN-13 | 978-3-608-11683-0 / 9783608116830 |
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