Der große Wind der Zeit (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
528 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-22157-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der große Wind der Zeit -  Joshua Sobol
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Ein humanistisches Meisterwerk, ein großer Roman über vier Generationen der Familie Ben-Chaim, eine umfassende Geschichte Israels: Libby, Offizierin der israelischen Armee und Verhörspezialistin, nimmt sich nach einer beunruhigenden Begegnung mit einem mutmaßlichen Terroristen Urlaub von der Armee und fährt zu ihrem Großvater Dave in den Kibbuz. Dort stößt sie auf das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und taucht fasziniert in ihre Welt ein. Eva war eine starke, lebenslustige Frau, die in den frühen dreißiger Jahren Kibbuz, Mann und Kind verließ und in Berlin als Tänzerin auftrat, bevor sie floh.

Joshua Sobol, 1939 in Tel Mond geboren, lebte in einem Kibbuz und studierte u.a. in Paris Philosophie. Als einer der führenden israelischen Dramatiker lehrte er u. a. an der Universität in Tel Aviv. Weltweit bekannt wurde er mit den Theaterstücken »Weiningers Nacht« (1982) und »Ghetto« (1984), inzwischen hat er über 50 Stücke geschrieben und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Bei Luchterhand erschienen die Romane »Schweigen« (2001) und »Whisky ist auch in Ordnung« (2005).

1. ENTLASSUNGSURLAUB


»Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Und es liegt in unseren Händen und nicht in unseren Händen.« In Libbys Kopf hallten die Worte nach, die ihr der letzte Verdächtige, den sie verhörte, zugeflüstert hatte, während er ihr den winzigen zusammengerollten Zettel, auf dem seine Mail-Adresse stand, in die Haare steckte. Libby raste mit ihrem Motorrad auf der Straße nach Norden, und unablässig toste der Wind in ihren Ohren: Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Der Vorderreifen der schweren Maschine verschlang den schwarzen Asphalt. Der starke Motor dröhnte zwischen ihren Schenkeln. Sie beugte sich nach vorn, stemmte sich gegen den Wind. Näherte sich aufheulend den schnellen Autos, die vor ihr zu kriechen schienen, ging in Schräglage und fegte an den Blechkisten mit ihren abgeschirmten Insassen vorbei, ließ sie weit hinter sich zurückfallen. Sie lieferte sich ungeschützt und schrankenlos dem reinen Erleben aus, das auf sie eindrang, sie bestürmte, sich donnernd vor und hinter ihr brach. Gejagt.

Noch am Morgen hatte Assi, Oberstleutnant Assaf Morag, Chef der Verhörabteilung, sie zu überreden versucht, ihren Entlassungsurlaub um einige Tage zu verschieben.

»Heute Nacht ist ein megafetter Fisch eingetroffen«, so bezeichnete er den letzten fahndungsdienstlich Gesuchten, der ins Netz gegangen war, »ein weißer Hai, eine Bestie. Hättest du keine Lust, ihm den Bauch aufzuschlitzen und ihn für den Schabbat auszunehmen?«

»Jeder im Team wird diese Arbeit gerne machen«, hatte sie erwidert.

»Aber du erledigst in zwei Tagen, was andere in zwei Wochen nicht schaffen«, konstatierte Assi.

»Übertreib nicht«, sagte sie.

»Seit siebenundzwanzig Jahren mach ich jetzt den Job«, sinnierte Assi laut. »Seit der ersten Intifada. Ermittler und Ermittlerinnen habe ich hier schon einige erlebt. Keiner kam auch nur in die Nähe von deiner Verhörtechnik. Dutzende Male hab ich dich dabei beobachtet. Jedes Mal, wenn man dir einen dicken Fisch zur Behandlung reingebracht hat, bin ich fasziniert vor dem Monitor gesessen. Hab dir zugeschaut, wie du sie schuppst …«

»Was hab ich mit ihnen gemacht?«

»Du ziehst ihnen die Schuppen ab, du bringst sie dazu, zu lachen, ernst zu werden, sich aufzuregen, feuchte Augen zu kriegen, zu würgen, zu heulen. Ja! Du bringst sie zum Weinen – die hartgesottensten Mörder, die ich liebend gern umgelegt hätte, bevor wir sie dummerweise lebend erwischt haben. Du berührst einen verborgenen Punkt in ihnen, den nur du mit deinen Laseraugen siehst, und die Hunde machen den Mund auf und spucken die ganze Scheiße aus, die sie im Bauch haben. Und das alles ohne jede Anstrengung. Du versuchst nicht, Empathie zu demonstrieren, du täuschst kein Mitleid, keine Teilnahme oder Verständnis für die Motive und Taten dieser Kerle vor. Ein Wort hier, ein Wort da, und der kälteste Fisch macht den Mund auf und redet. Blubbert von seinem Vater, von seiner Mutter, von den Brüdern und Schwestern und Freunden! Merkt gar nicht – oder erst recht –, wie er locker von seinen Freunden erzählt. Plaudert Namen aus. Einzelheiten. Redet mit dir über Bücher, die er geliebt hat und die sie nicht verstanden haben. Bis an mein Lebensende werde ich diese Giftnatter, diesen Mawasi Abu-l-Wadib, nicht vergessen. Wie du mit ihm in ein Symposium über Glauben und Nichtglauben gedriftet bist, und ich sitz vor dem Monitor und bin fast geplatzt! Hör mir an, wie du über den Tod von Heiligen und über Märtyrertum redest. Wie du ihn davon überzeugst, dass er alles überwinden wird, wenn er diesen Ehrgeiz bewältigt, den Dämon besiegen wird, der ihn daran hindert, seine Schwäche zu überwinden und Freiheit zu erlangen – und ich frag mich, von was zum Teufel redet sie da? Und plötzlich faltet dieser Schuft die Hände, als ob er gleich beten oder flehen will, kriegt brennende, tränennasse Augen, sein Mund klappt auf, und der ganze Müll, der in ihm gärt, kommt in einem solchen Schwall raus, dass ich nur noch gebetet hab, jetzt bloß kein technischer Defekt in der Aufnahme, bevor er fertig ist. Noch nie hatte ich eine, die die Leute so zum Reden bringt wie du«, lamentierte er, »wie machst du das bloß?«

»Ich weiß es nicht«, bekannte sie. »Ich rede eben mit ihnen.«

»Das muss eine gewaltige Befriedigung für dich sein, wenn du sie knackst.«

Befriedigung?, fragte sie sich, während sie das Motorrad beschleunigte und mühelos an einem silbernen BMW vorbeizog. Leere, war die Antwort. Eine Leere, in die sie nun mit rasender Geschwindigkeit hineinjagte, während sie Gesichter hinter sich ließ, Gesichter über Gesichter von Häftlingen, die sie in den Jahren ihres Militärdienstes in den abgeschotteten Verhörräumen zum Reden gebracht hatte. Tausende von Menschen, die jetzt wie ein riesiges Feld, dicht an dicht, vor ihr standen, die Köpfe nach hinten geworfen, die Gesichter mit aufgerissenen Augen himmelwärts gewandt, die Münder offene schwarze Wunden, aus denen sich Ströme von Worten ergossen, rauchende, brennende, blutende Worte. Ein Tosen rachgieriger Wut.

Bis sie auf den »Cousin« gestoßen war.

»Also, was meinst du, Libby«, hatte Assi seinen Vorschlag heute Morgen wiederholt, »kürz deinen Entlassungsurlaub um eine Woche ab, bleib noch ein paar Tage bei uns, bring diesen Megahai zum Plaudern, der uns nach drei Jahren endlich ins Netz gegangen ist, und dann scheidest du mit dem Wissen aus, dass du wer weiß wie viele unschuldige Menschen vor dem Tod gerettet hast.«

Sie schwieg, und Assi schloss in seinem überzeugenden Ton: »Also, du bleibst!«

»Nein«, entgegnete sie knapp. »Ich verhöre nicht mehr, und ich bringe niemanden mehr zum Reden.«

Die Entschlossenheit in ihrer Stimme überraschte Assi. Er schaute sie an, wartete auf eine Erklärung, doch es kam keine.

»Was ist los?«, fragte er.

»Das muss ich mit mir selber klären.«

»Hat es was mit der Arbeit zu tun?«

»Hatte ich ein Leben außerhalb der Arbeit?«, gab sie zurück.

»Hat es was mit dem ›Cousin‹ zu tun?«

»Auch.« Obwohl ihr Herz zu explodieren drohte, schwieg sie wieder. Es war das erste Mal, dass Libby ihrem Vorgesetzten ihre Gedanken vorenthielt.

»Was genau hat er dir getan, der ›Cousin‹?«, fragte Assi verwundert. »Bei seinem Verhör ist doch nichts Besonderes rausgekommen?«

»Stimmt«, pflichtete sie ihm rasch bei, um zu kaschieren, was sie entdeckt hatte, »nichts Besonderes.«

Und sie sagte sich: Wenn du deine Gedanken verrätst, führt das zur Vernichtung des Plans des »Cousins«, vielleicht sogar zur Beseitigung des »Cousins« selbst. Denn sie kannte die Abwicklungen der Angelegenheiten sehr gut, die im Gefolge ihrer Arbeit als Verhörspezialistin schon etliche Male mit Liquidierungen auf diverse Arten geendet hatten.

Der »Cousin« war ihr letzter Verhörkandidat gewesen. Assi selbst hatte sie präpariert. Der »Cousin« sei ein besonders schwieriger, heikler Fall, hatte er sie gleich eingangs gewarnt. Sie wollte wissen, was es mit dem Namen auf sich habe, und Assi hatte ihr erklärt, der Mann sei ein Cousin dieses zwölfjährigen Mädchens, das wie besessen am Eingang eines Einkaufszentrums herumgehüpft war, mit einer Stricknadel vor Zivilisten herumgefuchtelt hatte und auf das ein zufällig anwesender Polizist der Grenzwache das Magazin seiner Pistole entleert hatte. Der Cousin, Inhaber eines britischen Passes, sei von Coventry eingetroffen und sollte laut seiner Einreiseerklärung einen Tag nach dem Begräbnis seiner Cousine, das vor einer Woche stattgefunden hatte, nach England zurückfliegen. Der Mann, der von dem Moment an, in dem er in das Flugzeug nach Israel stieg, unter Beobachtung stand, habe aber seine Rückkehr nach England verschoben und sei, eine Riesendummheit, verhaftet worden, als er in Be’er-Scheva ein Auto zu mieten versuchte.

»Wieso Riesendummheit?«, erkundigte sich Libby, und Assi hatte erläutert, dass es viel leichter und effektiver gewesen wäre, sich in dem Moment seiner anzunehmen, in dem er den Wagen in einer der Autowerkstätten in der Westbank mit Sprengstoff gefüllt hätte, denn dann hätten sie mit einem Schlag das ganze Netzwerk aufgedeckt, mit dem dieser Intellektuelle verknüpft war.

»Intellektuelle?«, fragte sie nach.

»Student, Doktorand der Geschichte in Coventry«, präzisierte Assi und betonte, da er Untertan der britischen Krone sei, wäre es opportun, seine Vernehmung so schnell wie möglich abzuschließen, und falls sich herausstellen sollte, dass er doch keine tickende Bombe war, ihn unverzüglich loszuwerden und per Express nach Moschee-City zurückzuschicken. Libby fragte, was dieser Ausdruck bedeuten solle.

»Zwölf Moscheen sind in Coventry in Betrieb«, erklärte Assi, »und soweit wir informiert sind, betet der Cousin regelmäßig in der Nazi-Moschee der Muslimbrüder im Adlernest.«

»Adlernest?«, echote Libby.

Assi grinste. »Nu, in der Eagle Street …« Dann fuhr er fort: »Du gehst in einem langen grauen Kleid mit einem schwarzen Hidschab um den Kopf und einer Brille mit schwarzem Gestell in den Vernehmungsraum und nimmst, quasi als Lehrerin, in Hebroner Arabisch Kontakt mit ihm auf. Ausgangssituation: Ihr wartet beide auf Ungewisses. Du vermutest, dass ihr auf jemand wartet, der euch verhören soll. Du bist verhaftet worden, weil man dich verdächtigt, die Freundin des Lehrers des Mädchens mit der Stricknadel zu sein, aber du bist sicher, dass das Ganze ein Irrtum ist. Du kennst das Mädchen nicht und auch keinen Lehrer von ihr. Es ist anzunehmen, dass er anfängt, Informationen über seine Cousine zu liefern, und von...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2021
Übersetzer Barbara Linner
Sprache deutsch
Original-Titel Chufschat schichrur
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte Ausdruckstanz • Berlin • Conditio Humana • Dreißiger Jahre • eBooks • Familiensaga • Generationenroman • Geschichte Israels • Grausamkeit • Israel • israelischer Dramatiker • Kibbuz • Menschenliebe • Opus Magnum • Roman • Romane
ISBN-10 3-641-22157-9 / 3641221579
ISBN-13 978-3-641-22157-7 / 9783641221577
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