Die Geschichte des Lebens (eBook)
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490242-5 (ISBN)
Neil Shubin, geboren 1960, ist Paläontologe und Leiter des Instituts für organische Biologie und Anatomie an der University of Chicago. Er publiziert in renommierten Fachzeitschriften wie »Nature« und »Science«. Als Expeditionsleiter birgt er Fossilien aus dem ewigen Eis. Mit der Untersuchung von Fossilienfunden mittels moderner DNA-Technologie war er an der Erschließung eines revolutionären Forschungsgebietes beteiligt. Seit 2011 ist er Mitglied der »National Academy of Science«. Shubin lebt in Chicago.
Neil Shubin, geboren 1960, ist Paläontologe und Leiter des Instituts für organische Biologie und Anatomie an der University of Chicago. Er publiziert in renommierten Fachzeitschriften wie »Nature« und »Science«. Als Expeditionsleiter birgt er Fossilien aus dem ewigen Eis. Mit der Untersuchung von Fossilienfunden mittels moderner DNA-Technologie war er an der Erschließung eines revolutionären Forschungsgebietes beteiligt. Seit 2011 ist er Mitglied der »National Academy of Science«. Shubin lebt in Chicago. Sebastian Vogel, geboren 1955 in Berlin, ist promovierter Biologe und langjähriger Übersetzer. Neben den Werken Neil Shubins hat er Bücher von Richard Dawkins, Jared Diamond, Stephen Jay Gould und Steven Pinker ins Deutsche übertragen.
Gekonnt und spannend verknüpft der Autor verschiedene Erzählstränge miteinander.
Ein tolles Sachbuch, das Naturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte miteinander verknüpft!
Mitfiebern über dem Mikroskop garantiert!
Wie Shubin [...] Informationen präsentiert, während er seine eigene Evolution vom steineklopfenden Fossiliensammler zum heutigen DNA-Detektiv schildert, ist große Erzählkunst.
Hier wird jeder fündig, der es wirklich wissen will. Viele spannende Lesestunden sind garantiert.
Kombination, Übernahme und Zweckentfremdung sind nach Shubin die Prinzipien, welche die Vielfalt des Lebens ermöglicht haben. Sein Buch gibt einen hervorragenden Überblick
1. Fünf Wörter
Manche Menschen finden das Thema, dem sie ihre ganze Karriere widmen, in einem Labor oder im Freiland. Ich fand meines in einem einzigen projizierten Dia.
Kurz nach Beginn meines Studiums nahm ich an einem Seminar teil, das von einem führenden Wissenschaftler geleitet wurde. Es handelte von den größten Volltreffern in der Geschichte des Lebens und war eine Art Crashkurs, ein Schnelldurchgang durch die größten Rätsel der Evolutionsforschung. Das Thema war jede Woche ein anderer entscheidender Übergang in der Evolution. In einer der ersten Sitzungen projizierte der Professor eine einfache Karikatur; sie zeigte, was man damals, 1986, über den Entwicklungsweg von den Fischen zu den landlebenden Tieren wusste. Ganz oben in der Skizze war ein Fisch abgebildet, unten ein frühes fossiles Amphibium. Vom Fisch zum Amphibium zeigte ein Pfeil, und er, nicht der Fisch, fesselte meinen Blick. Ich sah mir die Zeichnung an und kratzte mich am Kopf. Ein Fisch, der auf dem Trockenen ging – wie hatte es jemals dazu kommen können? Es schien mir ein erstklassiges wissenschaftliches Rätsel zu sein, an dem ich mich abarbeiten konnte. Es war Liebe auf den ersten Blick. So begannen vier Jahrzehnte mit Expeditionen zu beiden Polen und auf mehrere Kontinente, immer auf der Suche nach Fossilien, die zeigen konnten, wie das große Ereignis sich abgespielt hat.
Aber wenn ich mich bemühte, Freunden und Verwandten mein Anliegen zu erklären, traf ich häufig auf gequälte Blicke und höfliche Fragen. Damit sich ein Fisch in ein landlebendes Tier verwandeln konnte, musste sich ein neuartiges Skelett entwickeln, zu dem keine Flossen zum Schwimmen mehr gehörten, sondern Gliedmaßen zum Gehen. Notwendig war außerdem eine neue Art der Atmung mit einer Lunge anstelle der Kiemen. Ebenso mussten sich Ernährung und Fortpflanzung verändern – Fressen und Eierablage laufen im Wasser ganz anders ab als an Land. Damit ein solcher Übergang stattfinden konnte, mussten sich praktisch alle Körpersysteme gleichzeitig wandeln. Wozu sollten Gliedmaßen zum Gehen an Land nützlich sein, wenn das Tier an Land nicht atmen, fressen oder sich fortpflanzen konnte? Das Leben auf dem Trockenen setzt keine einzelne Erfindung voraus, sondern das Wechselspiel mehrerer hundert Neuerungen. Die gleiche Schwierigkeit stellt sich auch bei den vielen tausend anderen Übergängen in der Geschichte des Lebens, vom Ursprung der Flugfähigkeit und des aufrechten Ganges bis hin zur Entstehung vielzelliger Organismen und des Lebens selbst. Meine Bestrebungen schienen von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein.
Die Lösung des Dilemmas ist in einer Bemerkung der Dramatikerin Lillian Hellman enthalten, die in den 1950er Jahren vom Komitee für unamerikanische Umtriebe auf die schwarze Liste gesetzt wurde und ein schweres Leben hatte. Als sie ihr Leben schilderte, sagte sie einmal: »Natürlich beginnt nichts zu der Zeit, zu der man es glaubt.« Mit dieser Formulierung umriss sie unwissentlich eines der wichtigsten Konzepte aus der Entwicklungsgeschichte des Lebens, ein Konzept, das den Ursprung nahezu jedes Organs, jedes Gewebes und jedes DNA-Stückchens aller Lebewesen auf der Erde erklärt.
In der Biologie wurde der Samen für diese Idee durch die Arbeiten eines Wissenschaftlers gelegt, der selbstzerstörerisch war wie kaum ein anderer und das Fachgebiet gerade dadurch veränderte, dass er unrecht hatte.
Um zu verstehen, welche Entdeckungen man in jüngster Zeit im Genom gemacht hat und was sie bedeuten, müssen wir uns erst einmal mit einem früheren wissenschaftlichen Zeitalter beschäftigen. Das viktorianische England war ein Nährboden für bleibende Ideen und Entdeckungen. Der Gedanke hat etwas Poetisches: Unsere heutigen Kenntnisse darüber, welche Funktion die DNA in der Geschichte des Lebens erfüllt, basieren auf Gedanken aus einer Zeit, als man noch nicht einmal wusste, dass Gene überhaupt existieren.
St. George Jackson Mivart (1827–1900) war der Sohn strenggläubiger, evangelikaler Eltern. Die Familie wohnte in London. Sein Vater war vom Butler zum Eigentümer eines der größten Hotels in der Stadt aufgestiegen. Die Position von Mivart senior verschaffte seinem Sohn die Chance, im gesellschaftlichen Leben aufzusteigen, und gewährte ihm das Vorrecht, eine Berufslaufbahn seiner Wahl einzuschlagen. Wie sein Zeitgenosse Charles Darwin, so hatte auch Mivart von klein auf eine Leidenschaft für die Natur. Als Kind sammelte er Insekten, Pflanzen und Mineralien, wobei er sich häufig im Freiland umfangreiche Notizen machte und Klassifikationsschemata entwickelte. Eine Karriere als Naturforscher schien für Mivart vorgezeichnet zu sein.
Aber dann kam ihm das beherrschende Thema seines persönlichen Lebens dazwischen: der Kampf mit Autoritäten. Schon als Teenager fühlte sich Mivart in dem anglikanischen Glauben seiner Familie zunehmend unwohl. Zur großen Verblüffung seiner Eltern konvertierte er zum Katholizismus. Diese – für einen 16-Jährigen sehr kühne – Entscheidung hatte unvorhergesehene Folgen. Mit seiner neuen Bindung an die katholische Kirche konnte er weder in Oxford noch in Cambridge studieren, denn der Zugang zu englischen Universitäten war Katholiken zu jener Zeit verschlossen. Da er sich in keinen naturhistorischen Studiengang einschreiben konnte, ergriff er die einzige Gelegenheit, die ihm noch blieb: Er studierte Jura am ›Inns of the Court‹, wo die Religionszugehörigkeit kein Hindernis war. So wurde Mivart zum Anwalt.
Ob er jemals juristisch tätig war, ist nicht geklärt, aber in jedem Fall blieb die Naturgeschichte seine Leidenschaft. Mit seiner Stellung als Gentleman fand er Zugang zur wissenschaftlichen Oberschicht und trat in Beziehung zu Schlüsselfiguren seiner Zeit, insbesondere zu Thomas Henry Huxley (1825–1895). Huxley wurde schon bald zum öffentlichen Fürsprecher der Ideen Darwins. Er war aber auch selbst ein angesehener vergleichender Anatom und hatte ein ganzes Gefolge aus eifrigen Schülern um sich gesammelt. Mivart wurde zu einem engen Vertrauten des großen Wissenschaftlers, arbeitete in dessen Labor und nahm sogar an Zusammenkünften der Familie Huxley teil. Unter Huxleys Anleitung schrieb Mivart wichtige, allerdings meist deskriptive Werke über die vergleichende Anatomie der Primaten. Seine detaillierten Untersuchungen am Skelett sind bis heute nützlich. Als Darwin 1859 die erste Auflage seines Werkes Der Ursprung der Arten herausbrachte, betrachtete Mivart sich selbst als Anhänger von Darwins neuer Idee, was vermutlich auch daran lag, dass Huxleys Eifer ihn angesteckt hatte.
Bald aber erging es Mivart wie mit dem anglikanischen Glauben seiner Jugendzeit: Ihm kamen starke Zweifel an Darwins Gedanken, und er entwickelte theoretische Einwände gegen das darwinistische Prinzip des allmählichen Wandels. Irgendwann bekannte er sich – zuerst verschämt, später mit größerem Nachdruck – in der Öffentlichkeit zu seinen Vorstellungen. Er sammelte Belege, die seine abweichenden Ansichten stützen sollten, und stellte sie in einer Antwort auf Darwins Der Ursprung der Arten zusammen. Wenn er unter seinen alten Kollegen in der Welt der Naturgeschichte noch Freunde hatte, verlor er sie mit seiner Abwandlung von Darwins Titel: Über die Genesis der Arten.
St. George Jackson Mivart, der es schaffte, in der Evolutionsdebatte alle Seiten gegen sich aufzubringen.
Auch der katholischen Kirche machte Mivart es jetzt schwer. Er schrieb in Kirchenblättern, die Jungfrauengeburt und die Unfehlbarkeit der kirchlichen Lehre seien ebenso wenig plausibel wie Darwins Ideen. Mit der Veröffentlichung von Über die Genesis der Arten war Mivart in der Wissenschaft de facto exkommuniziert, und seine Schriften führten dazu, dass auch die katholische Kirche ihn im Jahr 1900, sechs Wochen vor seinem Tod, exkommunizierte.
Sein Widerspruch zu Darwin bietet einen Einblick in die intellektuellen Grabenkämpfe des viktorianischen Englands. Er formulierte einen Stolperstein, auf den viele Menschen seit Darwins Zeit immer wieder gestoßen sind. Zur Eröffnung seines Angriffs schreibt Mivart über sich selbst in der dritten Person und bedient sich einer Sprache, die ihm eine aufgeschlossene Glaubwürdigkeit verleihen soll: »Ursprünglich war er nicht geneigt, Darwins faszinierende Theorie abzulehnen.«
Zu Beginn seiner Argumentation umreißt Mivart in einem langen Kapitel, was er für Darwins tödlichen Fehler hielt. Er nennt ihn »die Unfähigkeit der natürlichen Selektion, die Anfangsstadien nützlicher Strukturen zu erklären«. Mit dem Titel nimmt er den Mund voll, aber er beschreibt ein wichtiges Thema. Darwin stellte sich vor, dass die Evolution aus unzähligen Zwischenstadien besteht, die von einer Spezies zur anderen führen. Damit das funktioniert, muss jedes dieser Zwischenstadien der Anpassung dienen und die Lebensfähigkeit des Individuums steigern. Mivart erschienen die Zwischenstadien in vielen Fällen nicht völlig plausibel. Ein Beispiel ist die Entstehung der Flugfähigkeit. Welchen Nutzen konnte ein Frühstadium in der Entstehung von Flügeln haben? Der verstorbene Paläontologe Stephen Jay Gould bezeichnete dies als »das zwei Prozent eines Flügels Problem«: Es scheint, als sei ein winziger, im Entstehen begriffener Flügel bei einem Vorfahren der Vögel zu überhaupt nichts nütze. Irgendwann ist er groß genug, um dem Tier beim Gleitflug zu helfen, aber ein winziger Flügel...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2021 |
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Übersetzer | Sebastian Vogel |
Zusatzinfo | 41 s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Geisteswissenschaften ► Archäologie | |
Technik | |
Schlagworte | Antarktis • Anthropologie • Archäologie • Arktis • Artenvielfalt • Ausgrabungsstätte • Darwin • Das Universum in dir • Der Fisch in uns • Dinosaurier • DNA • DNS • Entstehung des Lebens • Evolution • Evolutionsgeschichte • Expedition • Experiment • Forschung • Fossilien • Gen • Genetik • Gentechnik • Gestein • Naturgeschichte • Naturwissenschaften • Organismus • Paläontologie • Salamander • Tiktaalik • Vorfahren • Wissenschaft • Wissenschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-10-490242-9 / 3104902429 |
ISBN-13 | 978-3-10-490242-5 / 9783104902425 |
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