Das Dreieck der Verleugnung (eBook)
256 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-5175-1 (ISBN)
Inke Jochims, Jahrgang 1963, lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Berlin. Sie hat viele Jahre als Coach und Therapeutin gearbeitet und gibt nun ihr Wissen in Form von Online-Kursen und Büchern weiter. Zudem ist sie auf YouTube mit ihrem Kanal "Jochims-Methode" aktiv. www.jochims-buecher.de, www.jochims-meditationen.de, www.jochims-methode.de
2 Bedürfnisse
Die Opfer-Kontroll-Dynamik (kurz: OKD) wird ausgelebt, weil der Initiator der Dynamik bewusst oder unbewusst ein wirtschaftliches, physisches, psychologisches, emotionales oder soziales Bedürfnis befriedigen möchte.
Sehr häufig ist das Bedürfnis im Kern sozial und menschlich akzeptabel, aber die Art, wie es ausgelebt werden soll, ist es nicht.
Hier ein Beispiel aus meiner Praxis: Eine junge Mutter kam zu mir und bat um Hilfe für die Erziehung ihrer „schwierigen“ Tochter. Die Tochter war vier Jahre alt. Die Mutter klagte darüber, dass dieses Kind sie jeden Morgen „zur Weißglut“ trieb, weil es sich einfach nicht anzog und stattdessen trödelte.
„Meine Tochter muss doch wissen“, so die Mutter, „dass ich alleinerziehend bin, dass ich morgens schnell losmuss, dass ich das Geld für die Familie verdienen muss. Sie muss doch wissen, wie eilig ich es morgens habe …“
Das Kind hatte im Rahmen seines vierjährigen Entwicklungsstandes keine Chance, das Konzept „Alleinerziehend“ mit all dem, was es für eine Frau bedeutet, auch nur ansatzweise zu erfassen, geschweige denn, sein Handeln danach auszurichten. Aber es spürte die Spannung und die Wut der Mutter und reagierte darauf mit Trödeln.
Die Mutter schrie das Kind jeden Morgen wieder an. Das Kind trödelte jeden Morgen wieder.
Der Auftrag der Mutter an mich war nicht, ihr zu helfen, ihre Wut zu vermindern, sondern das Kind zu ändern. Dieser Auftrag war nicht erfüllbar.
Das Bedürfnis dieser völlig überforderten, alleinerziehenden, vereinsamten Frau, jemand möge sie sehen und empathisch erfassen, wie es ihr geht und sein Handeln darauf ausrichten, war absolut angemessen. Das Bedürfnis war völlig in Ordnung. Aber von einem vierjährigen Kind zu verlangen, es möge das Gehirn und die Empathiefähigkeit eines Erwachsenen haben, es möge Leistungen erbringen, die es mit seinem Entwicklungsstand nicht erbringen kann, das war nicht angemessen.
Ich versuchte mein Bestes. Ich versuchte ihr sehr vorsichtig zu verdeutlichen, dass das Kind ihr nicht geben könne, was sie haben wolle. Aber die Mutter bestand darauf, dass das Kind sich ändert, sie verweigerte sich jedem Vorschlag, an den eigenen emotionalen Problemen zu arbeiten. Die Stunde scheiterte, die Mutter verlies so wütend und frustriert meine Praxis, wie sie gekommen war.
Abbildung 1: Beispiel für den Versuch, eine OKD zu initiieren.
Die OKD beginnt, wenn ein Mensch ein Bedürfnis empfindet, von dem er meint oder auch faktisch weiß, dass er es nicht auf offenem und/oder direktem Wege befriedigen kann. Im Falle der Mutter aus dem Beispiel wäre eine direkte Bedürfnisbefriedigung erreicht worden, wenn es einen Partner gegeben hätte, der sie versteht und begleitet.
Aber dieser Partner war schon vor Jahren gegangen. Und seither wurden die Bedürfnisse der Frau nicht befriedigt.
Damit die Opfer-Kontroll-Dynamik in ihrer Intensität verständlich wird, werde ich zuerst die ihr zugrundeliegenden Bedürfnisse darstellen.
Ein Bedürfnis, das einen Akteur motiviert, eine OKD zu initiieren, kann ein bewusstes Bedürfnis sein, das sozial und/oder juristisch verboten ist, oder ein Bedürfnis, das nicht verboten, aber vom Adressaten nicht erfüllbar ist.
Es kann ein wirtschaftlicher oder sozialer Vorteil sein, den sich zu nehmen im jeweiligen Kontext faktisch auch verboten wäre oder mindestens zu sozialer Ablehnung führen würde.
Es kann auch ein unbewusstes Bedürfnis sein wie das Heilen einer alten emotionalen Wunde. Solche Bedürfnisse sind die nach mehr Anerkennung, Wertschätzung oder Akzeptanz durch einen anderen.
Es kann ein legitimes Bedürfnis sein wie der Wunsch nach mehr Unterstützung für eine bestimmte Lebenssituation oder ein vollkommen illegitimes wie das Bedürfnis nach Sexualität eines Erwachsenen mit einem Kind oder einem Minderjährigen.
Entscheidend ist, dass das Bedürfnis vorhanden ist, aber nicht offen und direkt befriedigt werden kann.
Der entsprechende soziale Kontext kann eine Ehe, eine Familie, ein Freundeskreis, eine Gruppe, ein Land oder letztlich die Weltgemeinschaft sein, das spielt keine Rolle.
2.1 Die Hierarchie der Bedürfnisse
Jeder Mensch auf diesem Erdball hat Bedürfnisse, und dabei spielt es keine Rolle, ob er sie haben möchte oder nicht. Ein Bedürfnis ist etwas, was notwendig ist, um zu leben, Erfolg zu haben oder glücklich zu sein.
Der Punkt ist nun: Wenn ein Bedürfnis einmal entstanden ist, kann man es sehr häufig nicht mehr nicht haben. Man kann nicht einfach die Undo-Taste drücken und schon ist das Bedürfnis verschwunden.
Das gilt besonders für alle physiologischen Bedürfnisse wie Sicherheit, Essen und Schlafen oder auch das Bedürfnis nach sozialen Kontakten, nach Sexualität und nach sicheren emotionalen Bindungen.
Man kann ein primäres Bedürfnis nicht „löschen“, nicht wegreden, nicht verbieten. Man kann einige Bedürfnisse transformieren oder für eine Weile aufschieben, aber auch das gelingt nicht mit allen Bedürfnissen.
Wenn einem Bedürfnis Widerstand entgegengebracht wird, löst das in der Regel beim Betroffenen zuerst eine heftige Stressreaktion aus, die von Ärger begleitet wird.
Auch hier ein Beispiel. Nehmen wir an, Sie verlassen Ihren Arbeitsplatz rechtzeitig, um pünktlich zu Hause zu sein. Nach langer Zeit wollen Sie endlich mal wieder mit der Familie gemeinsam zu Abendessen. Auf diesen Moment haben Sie sich den ganzen Tag gefreut.
Und nun geraten Sie in einen Stau. Sie werden es nicht schaffen und schuld ist der Lkw-Fahrer da vorne, der die Straße blockiert, um auszuladen und damit den Stau verursacht. Das macht wirklich, wirklich ärgerlich. Was in solchen Momenten eigentlich die Wut auslöst, ist das Grundgefühl von Hilf- und Machtlosigkeit.
Diese Wut kann sich, wenn ein Mensch seine Reaktivität, also die ausgelöste Stressreaktion nicht unter Kontrolle bekommt, so steigern, dass der „schuldige“ Lkw-Fahrer unter Umständen tätlich angegriffen wird.
Man kann nicht mit dem freien Willen entscheiden, dass fundamentale Bedürfnisse nicht existieren, nur, weil sie innerhalb einer Gemeinschaft nicht akzeptabel oder nicht realisierbar sind und daher nicht offen und direkt befriedigt werden können.
Folglich hat man nur eine einzige Option, wenn es um primäre Bedürfnisse geht, und diese ist, das Bedürfnis zu befriedigen oder zu transformieren. Das allerdings setzt vor allem eines voraus: anzuerkennen, was ist.
Auch das scheinbar schlimmste und verwerflichste Bedürfnis muss anerkannt und gesehen werden, bevor es befriedigt oder transformiert werden kann.
2.1.1 Die Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow
Der Psychologe Abraham Maslow war einer der Ersten, der feststellte, dass es eine Hierarchie von Bedürfnissen gibt, dass es also Bedürfnisse gibt, die vorrangig und solche, die nachrangig sind. Vorrangige Bedürfnisse lösen im Falle ihrer fehlenden Befriedigung erheblich mehr Stress aus als nachrangige.
Maslow formulierte dieses Prinzip mithilfe der von ihm entworfenen Bedürfnispyramide.
Abbildung 2: Bedürfnishierarchie nach Abraham Maslow
Das Modell von Maslow teilt menschliche Bedürfnisse und Motivationen in Kategorien ein.
Die Kategorien, die Maslow fand, sind:
- Physiologische Bedürfnisse
- Sicherheitsbedürfnisse
- Soziale Bedürfnisse
- Individuelle Bedürfnisse
- Selbstaktualisierung
Die unterste Ebene der Maslowschen Bedürfnishierarchie bilden die sogenannten physiologischen Bedürfnisse, zu ihnen zählen Luft, Wasser, Nahrung und Schlaf.
Die Sicherheitsbedürfnisse umfassen die Abwesenheit von Feinden und die Anwesenheit von Schutz wie ein sicherer Schlafplatz oder eine sichere Unterkunft bei entsprechender Witterung.
Die dritte Stufe der Bedürfnishierarchie besteht aus den sozialen Bedürfnissen. Diese sind unter anderem Zuneigung, Liebe, Gemeinschaft, also all das, was soziale Kontakte umfasst.
Die wichtigsten Individualbedürfnisse sind Anerkennung, Achtung und Wertschätzung.
Die vier Kategorien physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale und individuelle Bedürfnisse bezeichnet man auch die sogenannten Defizitbedürfnisse. Das an der Spitze der Hierarchie stehende Bedürfnis nach Selbstaktualisierung ist ein sogenanntes Wachstumsbedürfnis. (Studyflix, 2020)
Maslows Theorie besagt, dass Menschen immer erst zu den Bedürfnissen der nächsthöheren Stufe übergehen, wenn die Bedürfnisse der unteren Stufe verwirklicht sind. In der Eindeutigkeit, wie er dies formulierte, ist das inzwischen widerlegt worden.
Die Polyvagal-Theorie von Stephen W. Porges und weitere Forschungen haben gezeigt, dass das höchste menschliche Bedürfnis (genauer gesagt das höchste Bedürfnis aller Lebewesen) die Sicherheit ist.
Das Überleben des Individuums kommt immer zuerst....
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Persönlichkeitsstörungen | |
ISBN-10 | 3-7526-5175-X / 375265175X |
ISBN-13 | 978-3-7526-5175-1 / 9783752651751 |
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Größe: 5,8 MB
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