Blut und Eisen (eBook)

Wie Preußen Deutschland erzwang

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
368 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75543-9 (ISBN)
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Was am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles inszeniert wurde, war die wohl folgenreichste machtpolitische Revolution des 19. Jahrhunderts: die Gründung des deutschen Kaiserreiches. Während jahrhundertelang eine lose verbundene Ansammlung von Staaten der Mitte Europas ihr Gesicht gegeben hatte, war nun ein Nationalstaat entstanden, der durch seine Lage, Größe und wirtschaftliche Stärke den Kontinent nachhaltig veränderte. Wie konnte damals gelingen, woran zuvor Generationen gescheitert waren? Christoph Jahr erzählt die dramatischen Ereignisse neu, durch die Preußen Deutschland erzwang, und zeigt, wie die Reichsgründung bis heute fortwirkt.
«Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden ..., sondern durch Eisen und Blut.» So begründete Otto von Bismarck am 30. September 1862 im preußischen Abgeordnetenhaus die Notwendigkeit erhöhter Militärausgaben. Zehn Jahre später hatten die Waffen gesprochen - im Krieg gegen Dänemark 1864, im innerdeutschen Krieg zwischen Österreich und Preußen 1866 und schließlich im deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Christoph Jahr lässt die Geschichte der Reichsgründung lebendig werden und zeigt, wie groß die Widerstände waren - von Außen, aber auch im Inneren. Dabei verbindet er die Ereignisgeschichte mit den großen Trends der Zeit und die Perspektive von oben mit den Erfahrungen von unten. Ob überzeugungstreue Liberale, entschiedene Konservative oder preußenkritische Süddeutsche: die zynische Machtpolitik Bismarcks fand viele Kritiker. Nichts war alternativlos und alles hätte anders kommen können. Doch die Art und Weise, wie Preußen Deutschland erzwang, hatte Konsequenzen, die bis heute spürbar sind.

Christoph Jahr lehrt Geschichtswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Er publiziert regelmäßig zu historischen Themen in der Neuen Zürcher Zeitung und anderen überregionalen Zeitungen.

«Ich erwachte aus meiner Vertiefung»


Zur Einleitung

Am Vormittag des 18. Januar 1871 war der Maler so sehr von der äußeren Erscheinung des sich vor ihm entfaltenden Spektakels gebannt, dass er beinahe dessen Höhepunkt verpasste. Ich «sah, daß König Wilhelm etwas sprach und daß Graf Bismarck mit hölzerner Stimme etwas Längeres vorlas, hörte aber nicht, was es bedeutete, und erwachte aus meiner Vertiefung erst, als der Großherzog von Baden neben König Wilhelm trat».[1] Der Künstler, der König und Kanzler sprechen sah, sie aber nicht sprechen hörte, war Anton von Werner, dem wir das bis heute erinnerungsprägende Bildnis der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles verdanken. In Schulbüchern hundertfach reproduziert, ist es die Ikone der Reichsgründung. Bärtige, uniformgeschmückte Männer haben, so sagt dieses Bild, zu Wege gebracht, woran Generationen davor gescheitert waren. Wo jahrhundertelang eine lose verbundene Ansammlung von Staaten, Stätchen und Städten der Mitte Europas ihr Gesicht gegeben hatte, war beinahe über Nacht ein Nationalstaat entstanden, der durch seine Lage, Größe und wirtschaftliche Stärke den Kontinent nachhaltig veränderte. Doch es waren nicht nur eine Handvoll adliger Männer in Uniform, die die Reichsgründung vollbracht hatten. Jene, die auf dem Werner’schen Bild fehlen, die Frauen, die Zivilisten, die Politiker, die Dichter, die Friedfertigen, die Machtlosen und die Armen: Sie fehlten nicht in der Geschichte selbst. Dieses Buch bringt ihre Stimmen zu Gehör.

Abb. 1: Die «Kaiserproklamation» am 18. 1. 1871, gemalt von Anton von Werner: Ein Propagandabild prägt das Geschichtsbewusstsein. Was wird gezeigt, was nicht, wer fehlt?

Von Werners Gemälde lieferte die Bildikone der Reichsgründungszeit. Otto von Bismarcks donnernde Worte aus seiner ersten Rede als preußischer Ministerpräsident am 30. September 1862 vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses sind so etwas wie die Sprachikone dieser Zeit. Nicht durch Reden würden «die großen Fragen der Zeit entschieden», hatte er den Abgeordneten entgegengeschleudert, «sondern durch Eisen und Blut». Schon die Zeitgenossen machten daraus häufig «Blut und Eisen», und heute ist diese sprachlich gefälligere Version bekannter als Bismarcks ursprüngliche Worte.[2] Doch die deutsche Nationalstaatsgründung, so gewalttätig sie verlief, war keineswegs nur aus «Blut und Eisen» modelliert. Ohne die großen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die Industrialisierung, die neuen technischen Erfindungen, den Nationalismus als vorherrschende Gesellschaftsideologie und soziale Praxis, ist nicht zu verstehen, was vor 150 Jahren geschah.

Vordergründig entschieden die großen Männer; so wurde die Geschichte lange erzählt. Doch es ist eine alte Erkenntnis des Zeitgenossen der Reichsgründung, Karl Marx, dass Menschen ihre Geschichte machen, freilich nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter vorgefundenen Umständen. Die Reichsgründungszeit war ein Abschnitt der Geschichte, in dem sich diese vorgefundenen Umstände in hohem Tempo veränderten, sich jahrzehntelang abzeichnende Umwälzungen in oft dramatischen, gewaltsamen Ereignissen verdichteten.

Und die Öffentlichkeit war dabei, denn Kriegsberichterstatter, Korrespondenten, Maler, Zeichner und die ersten Photographen hielten ihre Eindrücke fest; in schnell geschriebenen Tagesberichten und eilig aufs Papier geworfenen Skizzen, in kunstvoll komponierten Reportagen und Historiengemälden und in grobkörnigen Photographien. Viele bekannte Chronisten werden uns durch diese Jahre begleiten. Das «einfache Volk» hatte es schwer, seine Meinung kundzutun; doch sooft es geht, soll es hier ebenfalls zu Wort kommen. Die Angehörigen der «gebildeten Stände» redeten sich sowieso die Köpfe heiß und schrieben sich die Finger blutig. Dichter, Publizisten und Intellektuelle werden hier sprechen. Sie gründeten Vereine und Parteien, organisierten Versammlungen und nationale Feste. Und in den Parlamenten versuchten sie, die Politik mitzugestalten. Doch die Macht lag noch fast ganz in den Händen der monarchischen Staaten, deren Verfassungen wenig Spielraum für das politische Handeln der Bürger ließen. Ohne die Herrschenden und ihre Soldaten kann die Geschichte der Reichseinigung daher nicht erzählt werden.

Die Gründung des deutschen Nationalstaats war auch keineswegs nur die Angelegenheit der Deutschen gewesen, allein schon deshalb nicht, weil lange unklar blieb, wer zu diesem Staat gehören würde. Auch Dänen, Böhmen und Franzosen, Polen und Italiener, Slowaken und Slowenen mussten den oft schmerzhaften Preis für die deutsche Nationalstaatsgründung zahlen – und selbst die neutrale Schweiz blieb nicht unbeteiligt.

Die Zeitgenossen hatte die Frage, ob und wie «Deutschland» von einem geografischen zu einem politischen Begriff werden sollte, schon lange umgetrieben. Wer diese Geschichte erzählen will, verliert sich daher leicht in den Weiten der Jahrhunderte. Der Dreißigjährige Krieg, die Rivalität Österreichs und Preußens im 18. Jahrhundert und die Französische Revolution sind bedeutsam. Die Revolution von 1848/49, in der um Freiheit und Einheit gekämpft wurde, ist ein zentraler Teil der Vorgeschichte, ebenso wie der 1856 beendete Krimkrieg. 1859 tat Italien einen großen Schritt in Richtung Nationalstaatsgründung, die zum Vorbild und Ermöglichungsfaktor der deutschen Einigung wurde. Da in dieser Zeit auch die Rivalität zwischen Österreich und Preußen immer schärfer wurde, verflochten sich nun jene schon lange vorher gesponnenen Fäden allmählich so miteinander, dass die nationalstaatliche Einigung Deutschlands zu einer konkreten Möglichkeit wurde.

Doch der eigentliche Startpunkt einer Erzählung, die sich auf die dramatischen Ereignisse konzentriert und der die ihnen zu Grunde liegenden Strukturen und Prozesse gewissermaßen als Bühnenbild dienen, ist der Konflikt um Holstein, Lauenburg und Schleswig. Mit ihm begann 1863/64 jene Reihe von Ereignissen, die 1871 ihren Abschluss fand. Die lange Vorgeschichte verdichtete sich und kam zur Explosion. Als «Experimentalfeldzug» hat der damalige preußische Oberstleutnant Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen den Krieg gegen Dänemark bezeichnet. Weit über den von ihm gemeinten, militärischen Sinn dieses Begriffs hinaus hat er damit dessen Bedeutung charakterisiert. Tatsächlich war dieser Konflikt mehr als nur ein Auftakt zu 1866 und 1870/71. «1864» zeigte schon alles, was die kommenden Jahre prägen sollte – politisch, gesellschaftlich, diplomatisch und militärisch.

Doch wer mit 1863/64 beginnt, läuft Gefahr, die Preußen-fixierte Geschichtsschreibung fortzuführen und die drei militärischen Machtproben mit Dänemark, Österreich und Frankreich zu zielbewusst geführten «Einigungskriegen» zu stilisieren. Doch das ist ein Trugschluss, denn nichts spaltete die Deutschen mehr als die Kriege von 1864 und vor allem 1866, zumal beide den bestehenden deutschen Staat zerstörten. Noch im Frühjahr 1870 war «Deutschland» in mancher Hinsicht zerrissener als in den Dezennien davor.

Die dramatischen Ereignisse des knappen Jahrzehnts von 1863 bis 1871 waren auch zu keinem Zeitpunkt alternativlos. Beständig wurden Ideen entwickelt und verworfen, Allianzen geschmiedet und gebrochen, Gewissheiten überlebten häufig nicht den nächsten Tag, klug geschmiedete Pläne wurden in Windeseile Makulatur. Oft spielte der Zufall eine Rolle, Glück und Pech und manchmal auch das Wetter, die Zahnschmerzen eines Königs und die Beredsamkeit eines Großherzogs. Es brauchte viel, um die alte Ordnung Europas hinwegzuspülen.

Die Reichsgründungszeit begann nicht an einem Tag und endete ebenso wenig an einem anderen. Eine ereignisorientierte Erzählung sollte nicht weiter reichen als bis zum Friedensschluss, doch ein Ausblick auf das Erbe dieser Zeit darf nicht fehlen. Die «Gründerzeit» war schnell zu Ende, auch wenn der Begriff heute oft als Entsprechung zur französischen «Belle Epoque» dient, als Chiffre für eine Zeit der Dynamik und des Aufbruchs, aber ebenso als Beschreibung der vermeintlich «guten alten Zeit» vor 1914.

Wir erleben gegenwärtig dauernde, sich beschleunigende Veränderungen. Den Menschen vor einhundertfünfzig Jahren erging es nicht anders. 1864 lag der Sturz Napoleons so lang zurück, wie es bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs noch dauern sollte. Das 1871 gegründete Reich wurde als Monarchie 47 Jahre alt, als Staat 74; 1945 lag es, wie Europa und große Teile der Welt, in Trümmern, physisch, aber, viel schlimmer noch, ...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 1871 • 19.Jahrhundert • Bismarck • Deutsche Frage • Deutschland • Geschichte • Kaiserreich • Krieg • Nationalismus • Nationalstaat • Preußen • Reichsgründung • Sachbuch
ISBN-10 3-406-75543-7 / 3406755437
ISBN-13 978-3-406-75543-9 / 9783406755439
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