Auch eine Geschichte der Philosophie (eBook)
1771 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76144-1 (ISBN)
Auch eine Geschichte der Philosophie stellt im Stil einer Genealogie dar, wie die heute dominanten Gestalten des westlichen nachmetaphysischen Denkens entstanden sind. Als Leitfaden dient der Diskurs über Glauben und Wissen, der aus zwei starken achsenzeitlichen Traditionen im römischen Kaiserreich hervorgegangen ist. Auch eine Geschichte der Philosophie ist aber nicht nur eine Geschichte der Philosophie. Es ist auch eine Reflexion über die Aufgabe einer Philosophie, die an der vernünftigen Freiheit kommunikativ vergesellschafteter Subjekte festhält: Sie soll darüber aufklären, »was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten - für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen«.
Das bei seiner Erstpublikation 2019 gefeierte Buch erscheint nun als Taschenbuch mit einem deutlich erweiterten Gesamtinhaltsverzeichnis und einem für diese Ausgabe geschriebenen Nachwort des Autors.
<p>Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Von 1949 bis 1954 studierte er in Göttingen, Zürich und Bonn die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Er lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main sowie der University of California in Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Jürgen Habermas erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kyoto-Preis (2004).</p>
I_9Vorwort
Ein Motiv, das mich auch zu der müßigen und ziemlich lange anhaltenden Altersbeschäftigung mit der Geschichte der Philosophie geführt hat, möchte ich nicht verschweigen. Es hat mir einfach Spaß gemacht, die Lektüre vieler bedeutender Texte, die ich nie gelesen hatte, nachzuholen, und viele andere Texte, die ich in aktuellen Zusammenhängen schon so oft konsumiert hatte, wieder zu lesen – aber dieses Mal aus der Sicht eines alt gewordenen, auf sein eigenes, vergleichsweise verschontes Leben zurückblickenden Philosophieprofessors: Zum ersten Mal habe ich die Werke nicht nur systematisch verarbeitet und »gebraucht«, in vielen Fällen habe ich sie nun auch mit einem gewissen biographischen Interesse an den herausfordernden Lebensumständen ihrer Autoren wahrgenommen.[1] Das rechtfertigt natürlich nicht ein so waghalsiges, eigentlich unseriöses Unternehmen, bei dem mir auf jeder Seite bewusst war, in meinem Alter Bibliotheken von Sekundärliteratur nicht mehr berücksichtigen zu können. Also kann es bei diesem erneuten Durchgang durch die Geschichte der westlichen Philosophie bestenfalls um die Plausibilisierung einer Lesart gehen, und zwar im Hinblick auf eine, wie man heute wohl sagt, metatheoretische Frage: Was kann heute noch ein angemessenes Verständnis der Aufgabe der Philosophie sein?
Das Buch sollte ursprünglich heißen: »Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Auch eine Geschichte der Philosophie, am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen«. Die Bedenken des Verlages gegen eine solch barocke Ausschweifung hätten mich nicht gestört, aber vor Abschluss des Manuskripts habe ich mich für die melancholische Kurzfassung des geplanten Titels entschieden – in Anspielung auf einen berühmten Essay von Johann Gottfried Herder. Nachdem ich die »Dritte Zwischenbetrachtung« fertiggestellt hatte, wurde mir nämlich klar, dass ich nur noch in der Traditionslinie von Kant und Hegel das Frühstadium des nachmetaI_10physischen Denkens um die Mitte des 19. Jahrhunderts grob würde skizzieren können. Die Darstellung der verzweigten Argumentationsketten, die sich seitdem in der Tradition von Hume und Bentham einerseits, von Kant, Schelling und Hegel andererseits ausdifferenziert haben, vor allem ein erneuter analytischer Durchgang durch jene Diskussionen, die sich zwischen diesen »Lagern« an zentralen Problemen entzündet haben, hätte mich bis tief in die Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also meiner eigenen Lebenszeit verwickeln müssen. An diesen Kontroversen war mir als einem teilnehmenden Beobachter aufgefallen, dass sich in der Konkurrenz der Ansätze immer wieder dieselbe Differenz von Hintergrundannahmen spiegelt – ob nun in den Wahrheits-, Rationalitäts- oder Sprachtheorien, ob in der Logik und Methodologie der Sozialwissenschaften, in den ethischen Ansätzen oder, und vor allem, in den Moral-, Rechts- und Politiktheorien. Die eine Seite setzt ihre Analysen bei den Vorstellungen und Intentionen, Verhaltensweisen und Dispositionen der einzelnen Subjekte an, während die andere Seite bei denselben Fragen von intersubjektiv geteilten Symbol- und Regelsystemen, von Sprachen, Praktiken, Lebensformen und Traditionen ausgeht, um dann erst, anhand der entsprechenden Diskurstypen, die notwendigen subjektiven Bedingungen für die Beherrschung dieser Strukturen und den Erwerb entsprechender Kompetenzen zu untersuchen.[2] Diese Konkurrenzlage darzustellen, hätte mindestens ein weiteres Buch erfordert, und dafür reichen meine Kräfte nicht mehr aus. Ich habe andernorts die wichtigsten Argumente, die aus meiner Sicht in diesen Kontroversen von paradigmatischer Relevanz den Ausschlag geben, ohnehin schon behandelt.[3]
Dann drängt sich allerdings die Frage auf, warum die Vorgeschichte dieser Paradigmenkonkurrenz, die sich auch noch innerhalb der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts fortgesetzt hat,[4] von InteI_11resse ist: Wozu soll eine ausschweifende Genealogie der entsprechenden theoretischen Weichenstellungen dienen? Die Kontroversen selbst sollten doch zur Klärung der systematischen Fragen genügen. Die kurze Antwort lautet: Weil es mir um ein anderes Thema geht, nicht um eine Reihe kontroverser Grundfragen, sondern um das implizite Verständnis von Philosophie, das sich in den paradigmatischen Voraussetzungen für die Behandlung dieser Fragen ausdrückt. Gründe im Streit um das professionelle Selbstverständnis der Philosophie sind auch Gründe für und gegen eine bestimmte »Lesart« der Geschichte der Philosophie. Freilich erheben sich gegen die Fruchtbarkeit einer solchen Fragestellung sogleich Einwände. Sprießen nicht Auffassungen von der eigentlichen Aufgabe philosophischen Denkens wie Zweige am Stamm der durchgeführten philosophischen Untersuchungen – und fallen sie nicht davon auch wieder wie dürre Zweige ab? Verdrängt nicht ein professionelles Selbstverständnis das nächste? Weiß man überhaupt, welche Art von Argumenten in einem solchen Streit zählen kann? Jeder überzeugende philosophische Ansatz spricht doch für sich selber; mit jedem neuen zeigt sich, was Philosophie leisten kann und was sie sein soll. Zu diesem Einwand passt das Kuhn'sche Bild vom kontingenten Auf und Ab der wissenschaftlichen Paradigmen; und aus der Sicht des mittleren Foucault lassen sich, wenn man will, hinter der Maske der Diskurse auch noch die herrschenden gesellschaftlichen Mächte entdecken.
Dem steht entgegen, dass Paradigmenwechsel auch in der Philosophie von Lernprozessen angestoßen werden und dass selbst das falsche Feyerabend'sche Bild vom zufälligen Auf- und Abstieg der Paradigmen noch eine gewisse Kontinuität voraussetzt: dass es überhaupt Theorien gibt, die sich als eine Fortsetzung der bisherigen Philosophiegeschichte zu erkennen geben. Bisher konnte man davon ausgehen, dass es auch weiterhin ernstzunehmende Versuche geben wird, Kants Grundfragen zu beantworten: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?« und: »Was ist der Mensch?«. Aber ich bin unsicher geworden, ob die Philosophie, wie wir sie kennen, noch eine Zukunft hat – ob sich nicht das Format jener Fragestellungen überlebt hat, sodass die Philosophie als Fach nur noch mit ihren begriffsanalytischen Fertigkeiten und als die VerI_12walterin ihrer eigenen Geschichte überlebt. Die Philosophie folgt wie alle Disziplinen dem Zug zu einer immer weitergehenden Spezialisierung. An einigen Orten geht sie schon in der Rolle einer begriffsanalytischen Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften auf; an anderen zerfasert der Kern der Disziplin in nützlichen Angeboten für einen wachsenden wirtschafts-, bio- oder umweltethischen Beratungsbedarf.
Solche aufgelesenen Beobachtungen müssen noch nicht viel heißen. Beunruhigender ist die Unvermeidlichkeit, ja Wünschbarkeit der fortschreitenden Spezialisierung, mit der auch die Philosophie der inneren Dynamik jeder wissenschaftlichen Arbeitsteilung und dem normalen Gang des wissenschaftlichen Fortschritts folgt; denn die Spezialisierung stellt für unsere Disziplin eine Herausforderung der besonderen Art dar. Was für andere Wissenschaften nur Fortschritte bringt, bedeutet für die Philosophie, die ja das Ganze nicht aus dem Auge verlieren darf, auch eine Herausforderung für jene Grundfragen, über die sie sich bisher definiert hat. Wenn sich die Philosophie »am Ganzen« orientieren soll, kann eine solche Formulierung heute natürlich nicht mehr auf ein metaphysisches, auch nicht auf ein sogenanntes »wissenschaftliches« Weltbild abzielen. Das Zeitalter der Weltbilder ist seit dem 17. Jahrhundert aus guten Gründen vorbei. Mich bewegt die Frage, was von der Philosophie übrigbleiben würde, wenn sie nicht nach wie vor versuchte, zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beizutragen – dabei markiert der Bindestrich genau jenes Thema, das im Fortgang der Spezialisierung unter die Räder zu geraten droht.
Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist keine Wissenschaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer »weniger«, das heißt enger und genauer definierte Gegenstandsbereiche zu lernen; sie unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
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ISBN-10 | 3-518-76144-7 / 3518761447 |
ISBN-13 | 978-3-518-76144-1 / 9783518761441 |
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