Die Moskauer (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491045-1 (ISBN)
Die Stärke des Buches liegt in [...] Lebensgeschichten mit oft schwer fassbaren Schrecknissen
Petersens Buch liest sich wie ein Roman. Es ist spannend, enthält dramatische Höhepunkte und fordert Empathie
Das Buch von Andreas Petersen [...] sollte Pflichtlektüre in den Schulen und für DDR-Nostalgiker werden.
Insgesamt liegt ein informatives und lesenswertes Werk vor, das insbesondere in den biographischen Abschnitten und zur "Kultur des Vergessens" reichhaltige Beiträge leistet.
Das Ergebnis des Großen Terrors, das beleuchtet Petersen in dem akribisch recherchierten Buch [...], war eine von Stalin atomisierte, total ergebene und widerspruchslose Funktionärskaste.
ein aufregendes und erschütterndes Buch
Wer sein eindrückliches Buch liest, erfährt viel über die kommunistische Herrschaft, die auf Paranoia und Denunziation basierte.
Ein aufregendes und erschütterndes Buch, das ernst und wahrgenommen werden sollte - auch wenn es schmerzliche Wahrheiten vermittelt, die Geschichte einer großen, verratenen Idee erzählt.
Andreas Petersen hat ein wichtiges, notwendiges Buch geschrieben. [...] Über die DDR und ihre Gründungsväter wird man nach der Lektüre dieses klugen Buches anders sprechen müssen
1. Die Sowjetunion-Projektion
Die Remmeles – eine sowjetische Tragödie
Berlin/Moskau 1932 »Was sahen 58 deutsche Arbeiter in Russland?« Diese Broschüre musste jedes gute Parteimitglied gelesen haben. Das Land der großen proletarischen Revolution erschien darin als Paradies. Während sich in Deutschland Arbeitslose vor Suppenküchen drängten, fehlten dort die Arbeiter. Eine Arbeiterdelegation war 1925 durch die ganze Sowjetunion gereist, unter der Leitung von Hermann Remmele. Was die Teilnehmer zu sehen bekamen, konnte man nun – staunend – nachlesen. Mit der Broschüre wurden ganze Arbeiterviertel überschwemmt. Wer mehr wissen wollte, griff zu Remmeles Zweibänder »Die Sowjetunion«, dreißigtausendmal verkauft. Eine einzige Lobeshymne, die Sowjetunion ein Schlaraffenland.[3] Und Remmele musste es wissen: Neben Ernst Thälmann waren er und der zwanzig Jahre jüngere Heinz Neumann die Politbürogrößen, das »Politsekretariat«, der linke Flügel in der Partei. Die, denen die arbeitslose Parteijugend in vollen Sälen zujubelte. Der Eisendreher Remmele, zweiundfünfzig, markant geschnittenes Gesicht, gehörte zum Urgestein der Partei. Mit siebzehn Jahren, 1897, trat er der SPD bei, übernahm ein Gewerkschaftsamt nach dem anderen, durchlief Parteischulen, schrieb in Parteiblättern, immer auf dem linken Politflügel. Als Soldat erlebte er fast vier Jahre Kriegsgrauen an der Westfront. 1917 war er Mitbegründer der USPD und im Arbeiter- und Soldatenrat der Mannheimer Räterepublik. Er war dabei, als sich 1920 die USPD mit der KPD vereinigte. Und fortan immer im Zentralkomitee, immer im Reichstag, 1924 gar Parteivorsitzender. Remmele kannte die Sowjetunion: Seit 1926 war er Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) und über längere Zeit in Moskau. Sohn Helmut, keine siebzehn Jahre, musste mit. 1929 hielt Hermann Remmele auf dem XII. Parteitag der KPD eine elektrisierende Rede über die Verteidigung der Sowjetunion. Aber die Partei, die er mitgegründet hatte, hatte sich verändert. Von den sechzehn Mitgliedern des Politbüros fünf Jahre zuvor waren nur noch er und Ernst Thälmann übrig. Die anderen waren Opfer der internen Säuberungen, der Ausschlüsse wegen Abweichungen von der in Moskau vorgegebenen Parteilinie. Immer wieder war das Politbüro umbesetzt worden. Und abermals drehte im Machtgeschacher des Kreml der Wind: Der ultralinke Kurs Remmeles und Neumanns, bisher von Stalin befeuert, wurde auf einmal verdammt. Ihr Versuch, Thälmann – der sich inzwischen von diesem Kurs distanziert hatte – vom Parteivorsitz zu verdrängen, scheiterte. Im August 1932 befahl man Remmele nach Moskau. Zwei Monate später schloss man ihn aus allem aus: dem ZK der KPD, dem Politbüro, dem Exekutivkomitee der Internationale. Zwei Jahre zuvor hatte man ihn noch als »einen der Besten der eisernen bolschewistischen Garde« gefeiert. Nun war Hitler an der Macht und Remmele ausgebürgert. Seine Frau Anna floh aus Deutschland. Sie saßen im Zimmer 176 des Lux, des Hotels der Weltrevolution, und der bisher so bejubelte Genosse war allein. Ein abgehängter Abweichler, wie so viele andere vor ihm. Degradiert zu einem einfachen Mitarbeiter der Komintern-Propagandaabteilung, beobachtete er über Monate und Jahre, wie die Machtränke ihre Wellen warfen und die Genossen in ihnen ertranken.
Auch seine Kinder gingen in die Sowjetunion, der dreiundzwanzigjährige Helmut und die drei Jahre ältere Schwester Hedwig. Beide waren früh der kommunistischen Jugend beigetreten. Hedwig Remmele kannte die Moskauer Politik. Seit sieben Jahren arbeitete sie als Stenotypistin bei der Internationalen Pressekorrespondenz, einem Informationsdienst für die kommunistische Presse, Medienstimme Moskaus im Ausland. Als die Nazis das Verlagshaus in der Lindenstraße schlossen, tauchte die junge Frau unter. Ihr Mann wurde sofort verhaftet. Im August 1933 delegierte man sie nach Moskau. Sie besuchte die Kommunistische Universität der nationalen Minderheiten, verliebte sich Hals über Kopf in den deutsch-rumänischen Kommunisten Philipp Gentz, von dem sie anfangs wohl nur seinen Decknamen Wilhelm Aldan kannte. Im September heirateten beide, im Juli 1934 kam Tochter Ilona zur Welt. Ein Jahr später, Mitte 1935, wurde Gentz von der Komintern nach Rumänien »zur Arbeit« zurückkommandiert. Bald blieben seine Briefe aus.[4] Im Mai 1936 heiratete Hedwig Remmele Niklaus Seeholzer, einen studierten Kommunisten aus Bayern, Deutschlehrer an einer Moskauer Schule. Doch auf Befehl der Kaderabteilung ließen sie sich bald darauf wieder scheiden. Inzwischen war Hedwigs Bruder Helmut als Schlosser zusammen mit seiner Frau in die ab 1929 als Vorzeigeprojekt errichtete Industriestadt Magnitogorsk gegangen.
Als Hedwig Remmele in der Nacht vom 15. Mai 1937 von einem Fest nach Hause kam, wollte sie bei ihren Eltern noch schnell etwas Kaffee holen. Im langen Flur des Lux standen NKWD-Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr vor der Zimmertür. »Mein Vater war nicht erregt, er machte einen gefassten Eindruck«, erzählte sie drei Jahrzehnte später in einem seltenen Moment ihrem Ostberliner Untermieter, der mitstenographierte. »Als sie ihn mitnahmen, sagte ich zu ihm: ›Du wirst sicher bald wiederkommen. Es handelt sich sicher nur um eine Auskunft über deine sogenannten Freunde.‹ Er sah mich erstaunt an: ›Wiederkommen? Ich werde nicht wiederkommen.‹ ›Aber wieso denn?‹ Fast nachsichtig sagte er: ›Ja, glaubst du, ich weiß nicht, was gespielt wird? Nein, ich werde euch nicht wiedersehen.‹ Meine Mutter versuchte, ihm Mut zu machen. ›Sicher wird sich alles aufklären. Ich gehe gleich morgen zu Dimi[troff] und Wilhelm [Pieck].‹ Mein Vater beschwor sie: ›Du gehst keinen Schritt aus der Wohnung. Du verlässt das Haus nicht. Das ist doch sinnlos, zu denen zu gehen.‹«[5]
Auch Heinz Neumann war in seinem Zimmer verhaftet worden, einen Monat vor Remmele. »Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte«, beschrieb Margarete Buber-Neumann die Wochen zuvor, »schreckte ich zusammen. Und die Nächte wurden zur Qual. (…) Nach Mitternacht pflegten die schweren Schritte zu kommen. Aus dem Zimmer gegenüber hatten sie Bulgaren geholt, aus dem Stockwerk unter uns einen Polen. Wenn ich am Tag durch die Gänge des Lux ging, musterte ich scheu die Türen, ob wieder irgendwo eine vom NKWD versiegelt worden war.« Im November 1939 wurde Neumann erschossen.[6]
Verzweifelt ging Anna Remmele am nächsten Tag zu Wilhelm Pieck. »Er empfing sie«, berichtete ihre Tochter Hedwig später, »drückte sie an sich und sagte mit beschwörendem Ton: ›Du glaubst nicht, Anna, wie mir die Verhaftung von Hermann nahegeht. Wir werden selbstverständlich alles tun, um sie rückgängig zu machen.‹ (…) Meine Mutter ging, wenn nicht getröstet, so doch mit einiger Hoffnung. Unter der Türe stieß sie mit [Hugo] Eberlein zusammen. Er (…) schloss die Innentür hinter sich. Meine Mutter lehnte momentan betäubt am Türrahmen. Sie hörte, wie Eberlein auf Wilhelm einredete: ›Aber das geht doch zu weit, dass sie Genossen wie Hermann verhaften.‹ Darauf erwiderte Wilhelm: ›Ach was, sei doch froh, dass wir solche Schweinehunde wie diesen Hermann auf diese Weise endlich loswerden.‹«[7] Wenige Tage später wurde Hugo Eberlein verhaftet. Auch er wurde erschossen. Remmele, Pieck, Eberlein – mehr kollektive Parteierfahrung war nicht möglich: Seit 1921, sechzehn Jahre lang, hatten die drei in jedem KPD-Zentralkomitee gesessen.
Nun standen auch Mutter und Tochter in den langen Schlangen vor den Moskauer Gefängnissen auf der Suche nach Hermann Remmele. Dann griff die Sippenhaft: Als Angehörige eines Volksfeindes wurden sie aus der KPD ausgeschlossen, Anna Remmele verlor ihre Stelle als Schneiderin, Hedwig ihre Arbeit als Stenotypistin bei der Komintern, deren kleiner Tochter Ilona entzog man den Krippenplatz. Unterstützungen wurden gestrichen. Arbeit konnten beide Frauen als Politemigrantinnen ohne Anweisung der Komintern nicht bekommen. Im Lux verbannte man die Frauen mit der anderthalbjährigen Ilona in einen Verschlag ohne Bett und Stuhl im Hofflügel. Nach zwei Monaten, im Juli 1937, wurde auch Mutter Remmele verhaftet. Täglich schleppte sich Hedwig Remmele nun allein von Gefängnis zu Gefängnis auf der Suche nach ihren Eltern. Nirgendwo gab es Auskunft, nicht aus den Luken der Gefängnispförtner, nicht von der deutschen Sektion der Komintern. Um sie herum tobte das Inferno. Genosse für Genosse wurde verhaftet. Nacht für Nacht. Viele von ihnen wurden nach Deutschland abgeschoben, direkt in die Arme der Gestapo. Hedwig Remmele war schwanger. Der Vater: Willi Lampert, ein Freund ihres Bruders, nun auf der Durchreise nach Magnitogorsk. Sie schlug sich durch den Winter, lebte von den spärlichen hundert Rubeln, die sie von der Roten Hilfe als Frau eines Kommunisten im Einsatz (Philipp Gentz) bekam. Im Januar 1938 erfuhr sie von der Verhaftung ihres Bruders und seiner Frau in Magnitogorsk sowie von der Verhaftung Willi Lamperts.
Im April 1938 kam das Kind zur Welt. Ruth. Und obwohl sie umso mehr auf Geld angewiesen war, wurde Hedwig Remmele nun von der Roten Hilfe die letzte...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Bauhaus • Brandenburg • DDR • Erich Honecker • Exil • GULAG • Hotel Lux • Kommunismus • KPD • Moskau • NKWD • SED • Sowjetunion • Stalinismus • Terror • Walter Ulbricht • Wilhelm Pieck • Zentralkomitee |
ISBN-10 | 3-10-491045-6 / 3104910456 |
ISBN-13 | 978-3-10-491045-1 / 9783104910451 |
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