Die größte aller Revolutionen (eBook)

November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
384 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-15622-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die größte aller Revolutionen - Robert Gerwarth
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Ein neuer Blick auf ein epochales Ereignis deutscher Geschichte
Die deutsche Revolution von 1918 - sie gilt noch heute als gescheitert. Eine verpasste Chance, die den Weg zum Aufstieg der Nazis und zur Katastrophe ermöglichte. Ein Fehlurteil, wie der renommierte Zeithistoriker Robert Gerwarth zeigt. Nicht nur zerschlug die Revolution die autoritäre Monarchie der Hohenzollern, sie schuf auf erstaunlich unblutige Weise den ersten deutschen demokratischen Nationalstaat. Gerwarth schildert die dramatischen Ereignisse zwischen den letzten Kriegsmonaten 1918 und dem Hitlerputsch 1923 und beschreibt dabei, wie grundlegend und nachhaltig die Novemberrevolution Deutschland veränderte. Denn wer das Geschehen nur vom Ende her betrachtet, ignoriert, wie sehr die Zukunft damals offen war.



Robert Gerwarth, geboren 1976, hat Geschichte in Berlin studiert und in Oxford promoviert. Nach Stationen an den Universitäten Harvard und Princeton lehrt Gerwarth heute als Professor für Moderne Geschichte am University College in Dublin und ist Gründungsdirektor des dortigen Zentrums für Kriegsstudien, das vom European Research Council und der Guggenheim Stiftung gefördert wird. Er ist Fellow der Royal Historical Society, Mitglied der Royal Irish Academy und Autor zahlreicher Publikationen. Sein Buch »Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler« (2007) wurde mit dem renommierten Fraenkel Prize ausgezeichnet. Bei Siedler erschienen von ihm zuletzt »Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs« (2017) und »Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit« (2019). 2020 erhielt Gerwarth den Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschaftsvermittlung von der Alexander von Humboldt-Stiftung.

KAPITEL I

1917 und die Revolution
der Erwartungen

Am 19. Januar 1917 ging in der deutschen Gesandtschaft in Mexiko-Stadt ein Telegramm mit einer höchst bemerkenswerten und ebenso folgenreichen Anweisung ein. Der deutsche Außenminister Arthur Zimmermann forderte darin Heinrich von Eckardt, den deutschen Gesandten in Mexiko, auf, die Möglichkeiten einer militärischen Allianz mit Mexiko auszuloten. Sollte Mexiko aufseiten der Mittelmächte in den Krieg eintreten, das möge er der mexikanischen Regierung unter Venustiano Carranza ausrichten, werde Berlin dem Land finanzielle und logistische Hilfe zukommen lassen. Zudem werde man etwaige Bestrebungen unterstützen, die ehemals mexikanischen, im Jahr 1848 von den USA annektierten Gebiete Texas, Neumexiko und Arizona zurückzugewinnen. Neben dieser brisanten Offerte enthielt das Telegramm noch den Hinweis auf die militärische Rückendeckung durch die »rücksichtslose Anwendung unserer U-Boote« im Atlantik. In einer weiteren Depesche vom 5. Februar drängte Zimmermann seinen Gesandten dann, unverzüglich mit dem mexikanischen Präsidenten in Kontakt zu treten.1

Der scheinbar aberwitzige Vorschlag – eine Idee des jungen Außenamtmitarbeiters Hans Arthur von Kemnitz, die rasch Anklang in höchsten politischen und militärischen Kreisen fand – verdient eine eingehendere Erläuterung. Denn letztlich haben die »Zimmermann-Depesche« und die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs durch Deutschland, die einige Tage zuvor erfolgte, die USA zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg aufseiten der Entente veranlasst.2 Zimmermann, ein Karrierediplomat, der im November 1916 deutscher Außenminister wurde, hatte schon 1914 dafür plädiert, indigene Aufstände in den imperialen Territorien der Alliierten zu provozieren. Tatsächlich schmiedete das Auswärtige Amt seit Kriegsbeginn insgeheim Pläne zur Destabilisierung der Alliierten, indem man revolutionäre Bewegungen unterschiedlicher politischer Couleur förderte: irische Republikaner, die sich von London lossagen wollten, Dschihadisten in den britischen und französischen Kolonialreichen sowie russische Revolutionäre, die sich gegen das autokratische Regime in Petrograd verschworen hatten.3 Die Regierung in Berlin stand den politischen Zielen all dieser Bewegungen im Grunde genommen ziemlich gleichgültig gegenüber und suchte diese lediglich für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, und das hieß, die Alliierten von innen heraus zu schwächen.4 Zimmermann zeigte sich dabei von Anfang an sehr engagiert. Schon 1914 traf er mit dem Menschenrechtsaktivisten und Republikaner Roger Casement zusammen, der die britische Herrschaft über Irland gewaltsam beenden wollte. Mit diesem verhandelte er über Hilfe bei der Bewaffnung der irischen Revolutionäre. Darüber hinaus unterstützte er die Errichtung des sogenannten Halbmondlagers in Wünsdorf bei Zossen, in dem etwa 30000 kriegsgefangene Muslime aus der britischen und französischen Armee interniert waren. Diese sollten zum Überlaufen animiert und für den »Heiligen Krieg« gegen ihre Kolonialherren ausgebildet werden.5 Zum Leidwesen der Strategen im deutschen Außenamt schienen alle diese Bemühungen aber kaum zu fruchten. Den rund 3000 muslimischen Kriegsgefangenen, die von Wünsdorf in ihre Heimat zurückgeschickt wurden und dort Unruhe stiften sollten, gelang es nie, Dschihadisten in nennenswerter Zahl zu mobilisieren. Im Frühjahr 1916 erlitt Berlin einen weiteren Rückschlag, als der von Deutschland unterstützte Osteraufstand in Irland nicht zur erhofften landesweiten Revolution führte und Roger Casement, der die ersten beiden Kriegsjahre im Reich verbracht und versucht hatte, aus Landsleuten in deutscher Gefangenschaft eine »Irische Brigade« zu rekrutieren, kurz nach seiner geheimen Reise nach Irland in einem deutschen U-Boot und Landung an der Küste von Kerry verhaftet wurde.

Der so glücklos agierende Zimmermann war Ende November 1916 als Nachfolger Gottlieb von Jagows zum neuen Außenminister ernannt worden. Jagow war am 22. November aus Protest gegen die geplante Ausweitung des U-Boot-Kriegs durch die deutsche Militärführung zurückgetreten. Nach der Versenkung des amerikanischen Passagierschiffs Lusitania durch ein deutsches U-Boot im Mai 1915, bei der 1200 Menschen umkamen, hatte die kaiserliche Marine auf Druck des Reichskanzlers den Einsatz von U-Booten zurückgefahren, um den Kriegseintritt Washingtons nicht zu provozieren. Während der Jahre 1915 und 1916 war dies ein Hauptstreitpunkt zwischen Kanzler Bethmann Hollweg und der deutschen Admiralität. Der Kanzler hielt es politisch wie militärisch für erstrebenswert, dass Amerika neutral blieb, da die Vereinigten Staaten die einzige westliche Großmacht waren, die noch einen Verhandlungsfrieden vermitteln und die verfahrene Pattsituation auflösen konnten, in der sich die Kriegsparteien an der Westfront befanden.6 In dem Maße, wie die Aussicht auf einen Verhandlungsfrieden schwand, stieg allerdings der Druck der deutschen Armee- und Marineführung auf den Reichskanzler, die U-Boote für einen entscheidenden Schlag gegen Großbritannien einzusetzen. Am 9. Januar 1917 gab Bethmann Hollweg dem Drängen der Obersten Heeresleitung (OHL) schließlich nach und stimmte der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs zu.7

Außenminister Zimmermann, der die Pläne der OHL und der Seekriegsleitung (Skl) schon seit Längerem unterstützte, traf nun – unter anderem mit der Depesche an die deutsche Gesandtschaft in Mexiko – seine eigenen Vorbereitungen für den Fall einer Kriegserklärung Washingtons. Doch zu Zimmermanns Pech wurde das Telegramm vom britischen Geheimdienst abgefangen, dechiffriert und dem amerikanischen Botschafter in London, Walter Hines Page, vorgelegt, der es umgehend an US-Präsident Woodrow Wilson weiterleitete.8 Wilson ließ den Text der Depesche veröffentlichen, deren Authentizität Zimmermann zu allem Überfluss auch noch bestätigte. Die Kunde von der deutschen Offerte an die Mexikaner schlug in den USA ein wie eine Bombe, und dafür gab es vor allem zwei Gründe: Erstens zeigte die Depesche nach Wilsons Auffassung die Unaufrichtigkeit der deutschen Regierung, die sich nach außen hin offen gab für eine amerikanische Vermittlung bei der Suche nach einem Kompromissfrieden, aber insgeheim ein Bündnis gegen die Vereinigten Staaten schmiedete.9 Anstatt sich nach Kräften um eine Friedenslösung zu bemühen, gieße Deutschland Öl ins Feuer und stachle Amerikas Nachbarn auf, zu dem die USA ohnehin ein schwieriges Verhältnis hatten. Mexiko war seit Beginn des Jahrhunderts ein von revolutionären Umtrieben geschütteltes Land. Bereits zweimal, 1914 und erneut 1916, hatten US-Truppen dort militärisch eingegriffen, um die Interessen der Vereinigten Staaten zu wahren.10 Der zweite Grund, der die Zimmermann-Depesche so bedeutend wie brisant machte, war deren unglücklicher Zeitpunkt. Die Nachricht des britischen Geheimdienstes über das abgefangene Fernschreiben erreichte Washington am 1. Februar 1917, just als Deutschland die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs verkündete, was die öffentliche Meinung in den USA noch weiter zum Eintritt der USA in den Konflikt tendieren ließ.

Die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs hatte eine längere Vorgeschichte. Kurz nachdem die Deutschen ihre U-Boot-Angriffe gegen britische Frachtschiffe verstärkt hatten, die sie – oft zu Recht – verdächtigten, im Frachtraum Rüstungsgüter geladen zu haben, torpedierten sie am 24. März 1916 den britischen Dampfer Sussex im Ärmelkanal, wobei achtzig Menschen starben und etliche Amerikaner verletzt wurden. Washington reagierte darauf ungewöhnlich scharf, indem man der Berliner Führung ein Ultimatum stellte: Falls Deutschland die Attacken auf Passagier- oder Handelsschiffe nicht einstelle, erfolge der Abbruch aller diplomatischen Beziehungen. Damit rückte die Kriegserklärung der USA gefährlich nahe. Daraufhin erklärte Reichskanzler Bethmann Hollweg den verstärkten U-Boot-Krieg für beendet. Des Weiteren legte er das »Sussex-Gelöbnis« ab, das deutsche Unterseeboote zur Einhaltung der Prisenordnung verpflichtete, nach der U-Boote auftauchen, Handelsschiffe auf Kriegsgüter untersuchen und die Mannschaften in Sicherheit bringen mussten, bevor sie das Schiff versenkten. Die Deutschen hatten diese Prisenordnung nicht mehr befolgt, seitdem Großbritannien sogenannte Q-Ships einsetzte, vermeintliche Handelsschiffe, die U-Boote an die Oberfläche lockten und dann mit verdeckten Bordgeschützen angriffen. Nach Schätzungen sollen diese »U-Boot-Fallen« im Verlauf des Krieges vierzehn deutsche U-Boote versenkt und über sechzig beschädigt haben. Im Gegenzug für sein Zugeständnis forderte Bethmann Hollweg daher von den USA ein strengeres Vorgehen gegen die illegale, gegen die deutsche Zivilbevölkerung gerichtete Seeblockade der Briten. Denn nach Ansicht der Deutschen verhielt sich Washington gegen die Briten und ihren Einsatz von Q-Ships und Seeblockaden weitaus nachsichtiger als gegen die Deutschen.11

Als Ende August 1916 der Chef der Obersten Heeresleitung, Erich von Falkenhayn, wegen Erfolglosigkeit an der Westfront entlassen und durch den beliebten »Sieger von Tannenberg«, Paul von Hindenburg, ersetzt wurde, verlor Bethmann Hollweg aber zunehmend...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2018
Übersetzer Alexander Weber
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Berlin • eBooks • Erster Weltkrieg • Geschichte • Kaiserreich • Kriegsende • Matrosenaufstand • Novemberrevolution • Revolution 1918 • Versailler Vertrag • Weimarer Republik
ISBN-10 3-641-15622-X / 364115622X
ISBN-13 978-3-641-15622-0 / 9783641156220
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