Personen, Normativität, Moral (eBook)
436 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74096-5 (ISBN)
<p>Derek Parfit war Senior Research Fellow am All Souls College in Oxford sowie Gastprofessor an der Harvard University, der New York University und der Rutgers University. Er starb am 1. Januar 2017 in Oxford.</p>
1. Die Bedeutungslosigkeit der Identität[1]
Beginnen wir mit einem Science-Fiction-Szenario. Hier auf der Erde betrete ich einen Teletransporter. Wenn ich einen Knopf drücke, zerstört eine Maschine meinen Körper und registriert dabei den genauen Zustand all meiner Zellen. Diese Informationen werden per Funk zum Mars gesendet, wo eine andere Maschine aus organischem Material eine perfekte Kopie meines Körpers herstellt. Die Person, die auf dem Mars aufwacht, scheint sich daran zu erinnern, mein Leben bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich den Knopf drückte, gelebt zu haben, und ist auch in jeder anderen Hinsicht genau wie ich.
Innerhalb der philosophischen Debatte über solche Fälle glauben manche, dass ich es wäre, der auf dem Mars aufwacht. Ihres Erachtens ist Teletransportation lediglich die schnellste Art zu reisen. Andere glauben, dass ich einen schrecklichen Fehler machen würde, wenn ich mich dazu entschlösse, teletransportiert zu werden. Nach ihrem Verständnis wäre die Person, die dort aufwacht, nur eine Kopie von mir.
I
Es handelt sich hierbei um einen Disput über personale Identität. Um diesen Streit zu verstehen, müssen wir zwischen zwei Arten von Identität [sameness] unterscheiden. Zwei Billardkugeln können qualitativ identisch, das heißt genau gleich sein. Aber numerisch sind sie nicht identisch, sie sind nicht ein und dieselbe Kugel. Wenn ich eine dieser Kugeln umfärbe, ist sie nicht mehr qualitativ identisch mit der Kugel, wie sie früher war, aber sie ist immer noch ein und dieselbe Kugel. Betrachten wir nun eine Aussage wie die folgende: »Seit ihrem Unfall ist sie nicht mehr dieselbe Person.« Hier sind beide Bedeutungen von »Identität« im Spiel. Es heißt, dass sie, ein und dieselbe Person, nun nicht mehr die gleiche Person ist. Dies ist kein Widerspruch. Es wird lediglich behauptet, dass der Charakter der Person sich verändert hat. Die numerisch identische Person ist nun qualitativ anders.
Wenn Psychologen über Identität sprechen, geht es ihnen normalerweise darum, was für eine Art von Person jemand ist oder sein möchte. Um diese Frage geht es beispielsweise bei einer Identitätskrise. Aber wenn Philosophen über Identität sprechen, meinen sie numerische Identität. Und auch wenn wir uns über unsere Zukunft Gedanken machen, ist es dies, was wir im Sinn haben. Es mag sein, dass ich glaube, dass ich nach meiner Hochzeit eine andere Person sein werde. Aber das macht eine Hochzeit nicht zum Tod. Egal wie sehr ich mich verändere, ich werde immer noch leben, solange eine Person am Leben ist, die mit mir identisch ist. Ebenso wäre, wenn ich teletransportiert würde, meine Kopie auf dem Mars mit mir qualitativ identisch, aber nach Auffassung des Skeptikers wäre sie nicht ich. Ich würde nicht mehr existieren. Und das, so denken wir verständlicherweise, ist das, was von Bedeutung ist, das, worauf es ankommt [what matters].
Fragen bezüglich unserer numerischen Identität haben alle die folgende Form: Es gibt zwei unterschiedliche Arten, auf eine Person Bezug zu nehmen, und wir fragen danach, ob dies Arten sind, auf dieselbe Person Bezug zu nehmen. So könnten wir beispielsweise fragen, ob Boris Nikolajewitsch und Jelzin dieselbe Person sind. Bei den wichtigsten Fragen dieser Art identifizieren unsere zwei Weisen der Bezugnahme eine Person zu verschiedenen Zeitpunkten. So könnten wir fragen, ob die Person, mit der wir jetzt sprechen, dieselbe ist wie die Person, mit der wir gestern telefoniert haben. Dies sind Fragen der diachronen Identität.
Um solche Fragen zu beantworten, müssen wir das Kriterium der personalen Identität kennen: die Relation zwischen einer Person zu einer Zeit und einer Person zu einer anderen Zeit, die diese zu ein und derselben Person macht.
Verschiedene Kriterien sind vorgeschlagen worden. Einer Sichtweise zufolge ist dasjenige, was mich über die Dauer meines Lebens zu ein und derselben Person macht, dass ich denselben Körper habe. Dieses Kriterium erfordert ununterbrochene körperliche Kontinuität. Zwischen meinem Körper auf der Erde und dem Körper meiner Kopie auf dem Mars besteht keine solche körperliche Kontinuität; also wäre dieser Position zufolge meine Kopie nicht ich. Andere Autoren berufen sich auf psychologische Kontinuität. So behauptete Locke, dass ich, wenn ich Erinnerungen an ein vergangenes Leben in einem anderen Körper hätte, auch die Person sei, die dieses Leben lebte. Manchen Versionen dieser Position zufolge wäre meine Kopie ich.
Vertreter dieser unterschiedlichen Positionen berufen sich oft auf Fälle, in denen die Positionen divergieren. Die meisten dieser Fälle sind, wie der Teletransportationsfall, vollkommen fiktiv. Manche Philosophen wenden dagegen ein, dass unser Begriff der Person auf einem Gerüst von Tatsachen aufbaut und dass wir nicht erwarten sollten, dass der Begriff in fiktiven Situationen, in denen wir uns diese Tatsachen wegdenken, anwendbar ist. Dem stimme ich zu. Aber ich glaube, dass es sich aus einem anderen Grund lohnt, über diese Fälle nachzudenken. Mit ihrer Hilfe können wir zwar nicht die Wahrheit herausfinden; wir können aber herausfinden, was wir glauben. Es hätte sein können, dass wir beim Nachdenken über Science-Fiction-Szenarien einfach nur mit den Schultern gezuckt hätten. Aber so ist es nicht. Viele von uns bemerken, dass wir bestimmte Überzeugungen darüber haben, was für eine Art von Tatsache die personale Identität ist.
Diese Überzeugungen lassen sich am besten aufdecken, wenn wir über solche Fälle aus der Erste-Person-Perspektive nachdenken. Wenn ich mir also vorstelle, dass mir etwas passiert, sollten Sie sich vorstellen, dass es Ihnen passiert. Stellen wir uns vor, ich lebe in einem zukünftigen Jahrhundert, in welchem die Technik weit vorangeschritten ist, und bin im Begriff, mich einer Operation zu unterziehen. Vielleicht werden mein Gehirn und mein Körper umgestaltet oder zum Teil ersetzt. Es wird eine aus der Operation hervorgehende Person geben, die morgen aufwachen wird. Ich frage mich: »Wird diese Person ich sein? Oder bin ich im Begriff zu sterben? Ist dies das Ende?« Es mag sein, dass ich die Antwort auf diese Frage nicht weiß. Aber es ist natürlich, anzunehmen, dass es eine Antwort geben muss. Die resultierende Person muss, so scheint es, entweder ich sein oder jemand anderes. Und es muss sich um eine Alles-oder-nichts-Antwort handeln. Es kann nicht sein, dass diese Person zum Teil ich ist. Wenn diese Person morgen Schmerzen empfindet, kann dieser Schmerz nicht zum Teil mein Schmerz sein. Also können wir davon ausgehen, dass entweder ich diesen Schmerz fühlen werde oder dass nicht ich es sein werde, der diesen Schmerz fühlt.
Wenn wir solche Fälle auf diese Weise betrachten, gehen wir von der Annahme aus, dass unsere Identität genau bestimmt ist. Wir setzen voraus, dass die Frage nach unserer Identität für jeden vorstellbaren Fall eine Antwort haben muss, welche schlicht entweder Ja oder Nein lautet.
Fragen wir uns jetzt: Kann das wahr sein? Es gibt eine Position, der zufolge dies sein könnte. Dieser Ansicht zufolge gibt es immaterielle Substanzen: Seelen oder cartesische Egos. Diese Entitäten haben die besonderen Eigenschaften, die einst Atomen zugeschrieben wurden: Sie sind unteilbar, und ihre weitere Existenz ist ihrer Natur nach durch das Alles-oder-nichts-Prinzip bestimmt. Jeder von uns sei in Wirklickeit solch ein Ego.
Im Gegensatz zu einigen Autoren glaube ich, dass solch eine Ansicht wahr sein könnte. Aber wir haben keine überzeugenden Belege dafür, zu glauben, dass sie es ist, und einige Belege dafür, zu glauben, dass sie es nicht ist. Also werde ich davon ausgehen, dass keine solche Position wahr ist.
Wenn wir nicht glauben, dass es cartesische Egos oder andere solche Entitäten gibt, sollten wir die Position, die ich anderswo als reduktionistisch bezeichnet habe, akzeptieren. Diese Position behauptet Folgendes:
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Die Existenz einer Person besteht lediglich in der Existenz eines Körpers und der Aufeinanderfolge einer Reihe von Gedanken, Erfahrungen und anderer mentaler und physischer Ereignisse.
Erscheint lt. Verlag | 13.6.2017 |
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Übersetzer | Anneli Jefferson |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Moral • Normativität • Philosophie • STW 2149 • STW2149 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2149 |
ISBN-10 | 3-518-74096-2 / 3518740962 |
ISBN-13 | 978-3-518-74096-5 / 9783518740965 |
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