Das Leben lesen (eBook)
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44231-9 (ISBN)
Dr. Ulrich Bahnsen, Jahrgang 1959, ist Diplom-Biologe und wurde am Hamburger Uniklinikum im Bereich molekulare Neurogenetik promoviert. 1994 wechselte er in den Wissenschaftsjournalismus. Seit 2001 ist er Redakteur im Ressort Wissen der Wochenzeitung Die Zeit. Sein Buch ist das Ergebnis von fünf Jahren Recherche und Beschäftigung mit dem Thema Blutdiagnostik. Ulrich Bahnsen wurde für seine journalistische Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Best Cancer Reporter Award (2008) und dem Medienpreis Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2016).
Dr. Ulrich Bahnsen, Jahrgang 1959, ist Diplom-Biologe und wurde am Hamburger Uniklinikum im Bereich molekulare Neurogenetik promoviert. 1994 wechselte er in den Wissenschaftsjournalismus. Seit 2001 ist er Redakteur im Ressort Wissen der Wochenzeitung Die Zeit. Sein Buch ist das Ergebnis von fünf Jahren Recherche und Beschäftigung mit dem Thema Blutdiagnostik. Ulrich Bahnsen wurde für seine journalistische Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Best Cancer Reporter Award (2008) und dem Medienpreis Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2016).
Code-Brecher: der Aufstieg der Maschinen
Als die Wissenschaftler 2008 das »1000 Genomes Project« planten, war bereits klar, dass die Kosten des Lesens im menschlichen Genom enorm sinken würden. Jedes Genom schlägt inzwischen dank des Fortschritts der Labortechnologie nur noch mit wenigen Tausend Euro zu Buche – ein paar Promille des Preises, der noch 2008 für die Dekodierung der Erbanlagen von Jim Watson fällig war, nämlich eine Million Dollar. Doch selbst dies war bereits ein Schnäppchen, bedenkt man, welche Summen ganz zu Beginn des Genomzeitalters aufgewendet werden mussten: Als Wissenschaftler 1990 mit der Planung für das »Human Genome Project« (HGP) fertig waren, also die menschlichen Erbanlagen zum ersten Mal vollständig entziffern wollten, wurden die Kosten auf astronomische drei Milliarden US-Dollar taxiert. Tatsächlich wurde diese Summe am Ende nur wenig unterboten.
Schon zu Beginn war das HGP von reichlich Querelen begleitet. Das gewaltige Budget weckte natürlich bei Wissenschaftlern anderer Disziplinen einerseits Begehrlichkeit, andererseits die Befürchtung, man würde das Geld bei ihnen wieder einzusparen suchen. Andere zweifelten den wissenschaftlichen Sinn des Unterfangens massiv an. Selbst Jim Watson, der später als Direktor des HGP fungierte, äußerte sich zunächst abfällig. Die Kritik aus der scientific community traf durchaus einen wahren Kern: HGP war das erste Großprojekt der Biowissenschaften, und es trat nicht an, um eine Hypothese zu prüfen. Es gab keine Idee über das menschliche Erbgut, die bewiesen oder widerlegt werden sollte. Es diente allein der Erzeugung von Daten. Man wollte einfach nur die Abfolge der vier Genbausteine in allen menschlichen Chromosomen bestimmen, alle insgesamt drei Milliarden, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Es ging darum, eine Datenbank zu schaffen, in der die menschlichen Gencodes allen Wissenschaftlern zur Verfügung stehen. Das Ziel war also nicht eine wissenschaftliche Erkenntnis. Mit dem Human Genome Project begann, was heute in aller Munde ist: Big Data.
Als der technische Fortschritt das Human Genome Project in den letzten Jahren des vergangenen Jahrtausends endlich in eine realistische Idee verwandelte, hatten die Codeknacker der Erbanlagen bereits einen langen Weg hinter sich. Marjolein Kriek war noch ein Kleinkind, da ließen sich Wissenschaftler die ersten Verfahren einfallen, mit denen sie die Gene lesen wollten. Wenige Hundert Bausteine zu dechiffrieren, vielleicht die Information für ein einziges Eiweiß, das hielten diese Pioniere damals für den bestmöglichen Erfolg. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Technik es erlauben würde, die Genome von Menschen routinemäßig zu entziffern, also in kurzer Zeit und zu vertretbaren Kosten.
1977 stellten der amerikanische Biochemiker Walter Gilbert und sein Student Allan Maxam eine verlässliche Methode für die Bestimmung der DNA-Sequenz vor. Die sogenannte Maxam-Gilbert-Sequenzierung war ein rein chemisches Verfahren, das die Molekülbindung zwischen bestimmten DNA-Bausteinen lösen konnte. In der Praxis im Labor war es allerdings eine Quälerei: Man benötigt hochgiftige Chemikalien, die Prozedur ist langsam, umständlich und erlaubt nur sehr kurze Stückchen DNA zu dechiffrieren. Wäre es darum gegangen, alle Texte in einer großen Bibliothek zu lesen, so konnte man auf diese Weise in der Arbeit von Tagen nur ein einziges Wort entziffern. Mit der Technik von Maxam und Gilbert das Erbgut eines noch so einfachen Lebewesens zu lesen blieb also vollkommen utopisch.
Doch zur gleichen Zeit hatte der Brite Frederick Sanger bereits ein weitaus effizienteres Verfahren erdacht, das sich später auch als Standardtechnik in den Forschungsstätten durchsetzte. Im Prinzip wird es bis heute zum Lesen der Gene verwendet. Ab 1975 arbeitete Sanger an der raffinierten Idee für seine Lesetechnik: Statt giftiger Chemie benutzte er einfach eine Erfindung der Natur. Eigentlich kein Wunder – Sanger war ein Proteinfachmann, also verwendete er ein Zellprotein. Das Kernstück seines Verfahrens ist ein Enzym. Es kopiert die gesamte DNA in einer Zelle vor der Teilung, Baustein für Baustein, damit beide Tochterzellen ihr Erbgut erhalten können. Mithilfe dieses Eiweißes, die Fachleute nennen es DNA-Polymerase, perfektionierte Sanger eine biochemische Prozedur für die Entzifferung beliebiger DNA-Sequenzen.
Und 1977 sorgte er damit weltweit für Schlagzeilen: Sanger und seine Mitarbeiter stellten das erste komplett entzifferte Erbgut eines Lebewesens vor. Das Virus φX174 ist zwar sicherlich eines der simpelsten Geschöpfe auf dieser Erde. Es kann nur Bakterien befallen. Doch die Entschlüsselung seiner 5386 DNA-Bausteine umfassenden Erbinformation gilt bis heute als ein Triumph der Biowissenschaften. Sie markiert den Start der Genomforschung, denn die Bausteinfolge aus A, G, T und C beherbergt den Quellcode für Leben jeglicher Art – vom mit bloßem Auge unsichtbaren Virus oder Bakterium bis zu allen Pflanzen, Tieren und natürlich uns Menschen. 1980 wurde Frederick Sanger (und auch Walter Gilbert) mit dem Nobelpreis belohnt. Es war bereits sein zweiter.
Ein guter Laborforscher konnte bald mithilfe von Sangers Technik in wenigen Arbeitstagen durchaus mehrere Tausend DNA-Bausteine lesen. Einzelnen Genen ihre Information zu entlocken wurde mit »Sanger-Sequencing« nach und nach zur Routine. In den 80er-Jahren entschlüsselten Wissenschaftler mehr und mehr Gene von Menschen, Tieren und Pflanzen. Aber das gesamte menschliche Erbgut – drei Milliarden Bausteine? Die Entzifferung unseres Genoms blieb auch nach Sangers Erfindung zunächst unerreichbar. Selbst zu Beginn der 90er-Jahre glaubten sehr viele Experten noch, die Sequenzierung des Menschen werde ein aussichtsloser Versuch bleiben.
Allerdings waren nicht alle dieser Ansicht. Denn Sangers Erfindung hatte noch weitere, zunächst verborgene Vorteile. Die einzelnen Schritte des Verfahrens konnten auch von speziellen Geräten bewältigt werden. Nach und nach gelang es Labortechnikunternehmen, die einzelnen Schritte des Sanger-Sequencings komplett zu automatisieren. Bald kamen die ersten Sequenzer auf den Markt, damals noch groß wie Kühlschränke. Schließlich sollten in den Dechiffrierzentren der Industriestaaten weit mehr Maschinen arbeiten als Wissenschaftler.
Mit der Entwicklung der Sequenzer hatten die Genexperten, die von der Entzifferung des Humangenoms träumten, das nötige Handwerkszeug bekommen, um die Utopie in Realität zu verwandeln. Denn bereits die erste Generation dieser Geräte besaß schon für sich genommen eine viel höhere Leseleistung, als die Arbeit von Hand erreichen konnte. Und der Datenausstoß ließ sich leicht vervielfachen: Man musste nur genügend Maschinen in große Hallen stellen und sie Tag und Nacht mit menschlichem Erbmaterial füttern. So jedenfalls sah der Plan aus, und genau so geschah es auch. Das HGP wurde 1990 als ein internationales Verbundprojekt konzipiert und zunächst vor allem von den Vereinigten Staaten und Großbritannien vorangetrieben. Als sich auch andere Industriestaaten wie Japan und Frankreich engagierten, betraute man die beteiligten Länder einfach mit der Entzifferung einzelner Chromosomen. Deutschland hatte lange gezögert, erst 1995 schloss man sich dem HGP an und beteiligte sich an der Dekodierung der Chromosomen 21 und 22. Vor allem in britischen und amerikanischen Universitäten waren währenddessen riesige Sequencing Center entstanden, in denen Hunderte Laborautomaten unablässig Gendaten ausspuckten. Eines der größten ist bis heute das vom Wellcome Trust betriebene Sanger Institute im englischen Hinxton.
Trotz dieser erheblichen Investitionen machte das Jahrhundertprojekt zunächst nur langsame Fortschritte, jedenfalls für den Geschmack einiger Leute, die noch im Hintergrund agierten. Bald fanden die ersten Kongresse über die noch junge Genomik und ihre ersten Erkenntnisse statt. Unter den Rednern war immer häufiger ein Mann, ein Amerikaner mittleren Alters, der bald darauf einen der wohl bizarrsten Kriege in der Geschichte der modernen Naturwissenschaften anzetteln sollte.
J. Craig Venter war zu dieser Zeit schon ein ziemlich bekannter Forscher, ausgestattet mit einer ausgesprochen charismatischen Persönlichkeit und geradezu schussfestem Selbstbewusstsein. Das erzeugte von Anfang an zwiespältige Gefühle in der Forscherszene. Manche bewunderten Venter für die zupackende Art, mit der er seine Forschungsvorhaben vorantrieb. Von vielen anderen aber wurde er genau deswegen gefürchtet. Seine Arroganz erbitterte seine Gegner in der Wissenschaft zusätzlich.
Venter machte nie einen Hehl daraus, dass er die Arbeitsweise des staatlichen internationalen Genomprojekts für lahm, umständlich und antiquiert hielt (was nicht zur Gänze falsch, aber stark übertrieben war) und dass er dessen Führungspersönlichkeiten als verknöcherte Bürokraten betrachtete (was völlig ungerecht war). Seine Jugend an der amerikanischen Westküste hatte er mit nichts anderem als Surfen und am Strand verbracht, bis er als Sanitäter im Vietnamkrieg die schrecklichen Verletzungen kennenlernte, die moderne Waffen anrichten. Das veränderte alles. Venter studierte Biochemie, begann zu forschen. Er war ungeduldig, er wollte seine Vorhaben voranbringen, nichts ging ihm schnell genug. Er beteiligte sich nebenbei an der Neugründung von Biotechnologiefirmen, meldete Patente an und fand stets großes Vergnügen daran, seinen Fachkollegen ihr eigenes Forschungsgebiet noch einmal ganz neu zu erklären. All das verschaffte ihm natürlich erst recht keine Sympathien in den Fachkreisen, und trotz seiner intellektuellen Brillanz (er soll laut einem Test einen IQ von 142 haben) blieb er zunächst ein Underdog in der akademischen High Society der Genetik. Dass er über...
Erscheint lt. Verlag | 27.2.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Blut • Bluttest • Diagnostik • Erzählendes Sachbuch • Ethik • Fortschritt • Krebsfrüherkennung • Krebsvorsorge • Mammographie • Medizin • Medizinethik • Pränataldiagnostik • Verantwortung • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-426-44231-0 / 3426442310 |
ISBN-13 | 978-3-426-44231-9 / 9783426442319 |
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