Die Kunst der Revolte (eBook)

Snowden, Assange, Manning
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
150 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74434-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kunst der Revolte - Geoffroy De Lagasnerie
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Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning sind entscheidende Akteure in den zentralen Auseinandersetzungen unseres Internetzeitalters um Freiheit und Überwachung, Geheimdienste, Krieg und Terrorismus. Für den jungen französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie sind sie aber noch mehr als das: Sie sind »exemplarische Figuren« einer neuen Kunst der Revolte, einer neuen Form des politischen Handelns und Subjektseins. Sein scharfsinniger Essay trifft ins Herz der Gegenwart. Das Prinzip der Anonymität, wie es WikiLeaks, aber auch die Hackergruppe Anonymous praktizieren, und die Gesten der Flucht und des Exils von Snowden und Assange brechen mit den traditionellen Formen des zivilen Ungehorsams. Sie fordern uns dazu auf, die demokratische Öffentlichkeit und den politischen Raum neu zu denken: Was bedeutet es heute, politisch das Wort zu ergreifen, ein Bürger, ein Teil eines Kollektivs zu sein? Mit ihren Aktionen formulieren diese Internetaktivisten und Hacker für de Lagasnerie nicht weniger als eine neue kritische Theorie und entwerfen ein Ideal der Emanzipation in pluralen, heterogenen und flüchtigen Gemeinschaften.

<p>Geoffroy de Lagasnerie, geboren 1982, ist Philosoph und Soziologe. Seit 2013 ist er Professor f&uuml;r Philosophie an der &Eacute;cole nationale sup&eacute;rieure d&rsquo;arts de Cergy-Pontoise. Zusammen mit dem Schriftsteller und Soziologen &Eacute;douard Louis geh&ouml;rt er zu einem Kreis junger Pariser Intellektueller, die mit Aktionen f&uuml;r die Rechte Homosexueller und gegen eine neue Fremdenfeindlichkeit in der franz&ouml;sischen &Ouml;ffentlichkeit f&uuml;r Aufsehen gesorgt haben. Er ist Herausgeber der Reihe <em>&agrave; venir</em> bei Fayard und bloggt bei <em>Mediapart</em>.</p>

Einleitung

Es geschieht etwas

Nur selten taucht im Bereich der Politik etwas Neues auf. Selbstverständlich meine ich nicht, daß radikale Infragestellungen oder Bewegungen selten zutage treten: Die gesellschaftliche Welt ist zum Glück ein Ort, an dem unablässig neue Gegenstände des Protests, neue Empörungen und daher auch neue Kämpfe entstehen, die dazu beitragen, für jeden von uns den Raum der Freiheit, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit zu erweitern.

Aber die Vielzahl und starke Vermehrung der Kampfschauplätze können die Tatsache nicht verbergen, daß die Mobilmachungen im Zeichen von bereits etablierten Traditionen stehen. Sie laufen nach eingefahrenen Mustern ab. Das Vokabular, die Werte, die Ziele, um die es geht, sind häufig weitgehend vorherbestimmt und drängen sich den Akteuren selbst auf. Solide eingerichtete Institutionen strukturieren die Zeit und den Raum des Protests.

Die Politik ist vielleicht paradoxerweise einer der am meisten kodifizierten Bereiche des Gesellschaftslebens. Wir leben und wir konstituieren uns als Subjekte in einem gegebenen Umfeld. Politik zu machen bedeutet, präexistierende Formen aufzunehmen, sich in sedimentierte Rahmen einzufügen, mit ihnen zu handeln, um zu einem bestimmten Zeitpunkt ein konkretes Ziel zu erreichen. Der Streik, die Demonstration, die Petition, die Lobbyarbeit usw. stellen verschiedene institutionalisierte Mittel des Protests dar (was die Sozialwissenschaften im Gefolge von Charles Tilly als »Repertoire kollektiven Handelns«1 bezeichnen). Selbst die radikalsten Forderungen entgehen diesen Kodifizierungen nicht, die den demokratischen Raum abstecken. Eine politische Handlung gibt sich als solche dadurch zu erkennen, daß sie sich in einen bereits existierenden Rahmen des Protests einfügt; durch das Akzeptieren dieser Repertoire stellt sich das Subjekt als Bürger dar, der an der öffentlichen Deliberation teilnimmt. Sobald ein politischer Kampf sich nicht den vorgeschriebenen Ausdrucksformen beugt, wird er in seiner Art zu etwas Umstrittenem: In diesem Raum der Unentschiedenheit erscheinen beispielsweise Debatten über die »kriminelle«, »terroristische« oder »politische« Natur dieser oder jener Bewegung.

Die verschiedenen Rahmen, die die politische Sphäre regulieren, prägen auch die Gehirne: Sie hinterlassen ihren Abdruck auf unseren Wahrnehmungen der Dinge. Infolgedessen läßt sich die Schwierigkeit, im Bereich der Politik Raum für Neues zu schaffen, auch durch die Tatsache erklären, daß eine singuläre Bewegung höchstwahrscheinlich nicht als solche erkannt wird, nachdem sie einmal aufgetaucht ist. Ihre Besonderheit und ihr beispielloser Charakter liegen quer zu den Kategorien der Wahrnehmung und entgehen daher der Aufmerksamkeit. Eine solche Bewegung ist häufig dazu verurteilt, in ihrer Originalität nicht erkannt und mit Hilfe einer bereits existierenden Sprache beschrieben zu werden, und zwar auch durch ihre Akteure selbst.

Die theoretischen Interpretationen politischer Bewegungen sind durch die Tendenz gekennzeichnet, ein festgelegtes Vokabular zu übernehmen. Die kämpferischen Auseinandersetzungen werden in eine Geschichte, eine Tradition eingeschrieben; ihre Einsätze werden dadurch umgedeutet, damit sie mit einem bereits bestehenden Paradigma übereinstimmen. Die Haltung des Intellektuellen, des Philosophen, aber auch des Historikers führt oft dazu, die Kämpfe zu kolonisieren, ein altes Raster auf sie anzuwenden. Gerade gegen diese Tendenz zur Summierung, zur Verallgemeinerung, zur Universalisierung hat Michel Foucault für uns das Programm einer kritischen Analyse neu formuliert, indem er auf der Notwendigkeit bestand, im Sinne der Singularität, der Besonderheit und daher auch der Zäsur zu denken.

Neuheit

Die These, die ich vorbringen möchte, besagt, daß wir im Umfeld der Figuren von Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning gegenwärtig das Auftauchen von etwas Neuem erleben. Eine neue Weise des politischen Handelns, des politischen Denkens, der Vorstellung der Formen und Praktiken des Widerstands ist im Begriff, sich abzuzeichnen. Die Auseinandersetzungen, die sich um die Fragen der Staatsgeheimnisse, der Massenüberwachung, des Schutzes der Privatsphäre, der bürgerlichen Freiheiten im Zeitalter des Internets gruppieren, stellen neue Probleme: Für uns müssen sie den Ausgangspunkt einer kritischen Reflexion verkörpern, der Frage nach der Möglichkeit, anders zu denken und anders zu handeln.

Snowden, Assange und Manning können nicht einfach als »Whistleblower« betrachtet werden, deren Vorgehensweise nur im Verbreiten von Informationen bestehen würde. Sie sind viel mehr als das. Sie tun viel mehr als das. Ich schlage vor, sie als Aktivisten anzusehen, als exemplarische Figuren, die einer neuen politischen Kunst zur Existenz verhelfen – einer anderen Weise zu verstehen, was es bedeutet, Widerstand zu leisten. In ihren Handlungen, in ihrem Leben selbst gibt es etwas, das man vernehmen muss, dem man Aufmerksamkeit schenken muss, nämlich das Aufkommen eines neuen politischen Subjekts.

Mit anderen Worten, mit Snowden, Assange und Manning erscheinen nicht nur neue politische Gegenstände; nicht nur neue Punkte des Dissenses treten zutage und werden in die Arena der Öffentlichkeit getragen: Es handelt sich um neue Weisen der Subjektivierung. Diese drei Persönlichkeiten stellen nicht nur das in Frage, was sich auf der politischen Bühne abspielt, und die Art und Weise, wie es sich abspielt: Sie stellen die politische Bühne selbst in Frage.

Reaktion

Wie könnte man ansonsten auch die Heftigkeit der Reaktion der Staaten ihnen gegenüber erklären, wenn nicht durch die Radikalität der Destabilisierung, die sie betreiben? Ihre Tätigkeiten (aber auch, das ist wichtig festzuhalten, die Tätigkeiten anderer Whistleblower oder anderer Hacker, die weniger bekannt sind) haben eine strafrechtliche Verfolgung seltener Intensität ausgelöst. Die strafrechtliche Reaktion, insbesondere die der USA, hat unerhörte, außergewöhnliche und im Grunde unverständliche Ausmaße angenommen. Dafür, daß sie einfach vertrauliche Dokumente veröffentlicht hat, von denen einige illegale Aktivitäten von Regierungen enthüllten, wurde Chelsea Manning von der amerikanischen Justiz verfolgt. Der Staatsanwalt wollte sie wegen Verrat zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt sehen;2 schließlich wurde sie zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Vor ihrer Untersuchungshaft war sie 23 von 24 Stunden eingesperrt, ohne Kopfkissen und ohne Decke, und es war ihr verboten, Gymnastik zu machen (sie wurde laufend von einem Aufseher überwacht).3 In den Vereinigten Staaten wurde die Organisation WikiLeaks von Julian Assange, die sich darauf beschränkt, einen Raum für die Veröffentlichung von Daten anzubieten, in die juristische Kategorie der »Staatsfeinde« eingeordnet (dieselbe, der der australischen Tageszeitung The Sydney Morning Herald zufolge auch Al-Qaida oder die Talibanbewegung angehören), so daß Julian Assange und alle, die bei dieser Organisation mitwirken, wegen »Zusammenarbeit mit dem Feind« verurteilt werden, das heißt von Militärgerichten bestraft werden können, und zwar sogar mit der Todesstrafe.4 Dafür, daß er die Öffentlichkeit über (häufig illegale) Programme der amerikanischen National Security Agency (NSA) zur Massenüberwachung von Bürgern auf der ganzen Welt und bestimmter Staatschefs und Diplomaten alarmiert hat, wurde Edward Snowden der Spionage beschuldigt und läuft ebenfalls Gefahr, den Militärgerichten ausgeliefert und dann bis zum Ende seines Lebens eingesperrt zu werden; die Vereinigten Staaten bieten beträchtliche diplomatische Energie auf, um zu verhindern, daß er ihrer Strafverfolgung dadurch entkommt, daß er in einem anderen Land Asyl erhält.

Sei es in der verwendeten Rhetorik (»Feiglinge«, »Feinde«, »Spione«, »Verräter« usw.), den Anschuldigungen (»Verrat«, »Hilfe für den Feind«), den verlangten und/oder verhängten Strafen sowie den auferlegten Haftbedingungen, wir haben es hier mit einer wahrhaften Inszenierung des staatlichen Repressionsapparats in seiner ganzen Brutalität und Unnachgiebigkeit zu tun. Diese strafrechtliche Gewalt und diese unverhältnismäßige Reaktion stellen eine bedeutende Tatsache dar. Und das sollte uns dazu führen, Fragen bezüglich der Funktion der zeitgenössischen politischen und rechtlichen Ordnung zu stellen. Die Repression ist nicht deshalb heftig, weil die »Verbrechen« schwerwiegend sind: Sie ist deswegen so massiv, weil diejenigen, die man als »Whistleblower« bezeichnet, die Ordnung des Rechts und der Politik, das heißt des staatlichen Rahmens, zutiefst destabilisieren. (Im Grunde könnte man diese Situation mit der Art und Weise vergleichen, wie die Staaten auf das allmähliche Wegbröckeln der innerstaatlichen Ordnung und der territorialen Souveränität reagieren, indem sie an ihren Grenzen ostentativ gewaltige Mauern errichten.)5 Diese Destabilisierung, ihre Gründe und Form sollen hier untersucht werden, um zugleich ihren Sinn und ihre Tragweite zu erfassen.

Würdigung

Dieses Buch möchte als eine Würdigung der Taten und des Lebens von Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning gelesen werden. Sein Ausgangspunkt liegt nicht im Bereich der Theorie oder der Politik; er liegt in einer Art von Bewunderung ihrer Vorgehensweise sowie in einem Gefühl der Empörung und auch des Zorns gegen die Repression, die über sie hereingebrochen ist und auch weiterhin über sie...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2016
Übersetzer Jürgen Schröder
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel L'art de la révolte. Snowden, Assange, Manning
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Anonymous • Frankreich • Internet • L'art de la révolte. Snowden Assange Manning deutsch • NSA • Prix de l’Ecrit Social 2016 • Überwachung
ISBN-10 3-518-74434-8 / 3518744348
ISBN-13 978-3-518-74434-5 / 9783518744345
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