Ausgewählte Übertreibungen (eBook)

Gespräche und Interviews 1993-2012
eBook Download: EPUB
2013 | 2. Auflage
476 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74540-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ausgewählte Übertreibungen -  Peter Sloterdijk
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Die hier versammelten mehr als fünfzig Interviews aus fast dreißig Jahren bilden den Kern des Sloterdijk'schen Denkens. Seine Dialoge in und mit der Öffentlichkeit handeln vom Doping und der »doxa«, von Gott und der Welt, vom Design und dem Dogma. Hier ist nachzulesen, wie Peter Sloterdijk die philosophische Tradition und deren neueste Strömungen beurteilt, welche Diagnosen er dem Zeitgeist stellt, wie alltägliche Phänomene durch eine überraschende Perspektivierung einen völlig neuen Sinn erhalten. Für alle Leser, die Peter Sloterdijk kennen oder kennenlernen wollen, bieten diese Dialoge eine ebenso aufschlussreiche wie überraschende und zugleich amüsante Lektüre der geistigen und politischen Ereignisse der letzten drei Jahrzehnte.

<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Statt eines Vorworts


Bernhard Klein im Gespräch mit Peter Sloterdijk
Karlsruhe, 17.?12.?2012


KLEIN:?Herr Sloterdijk, nach längeren Recherchen habe ich eine Auswahl Ihrer Interviews aus den letzten zwei Jahrzehnten zusammengestellt, eine enge Selektion aus einer nahezu unüberschaubaren Fülle, dennoch ein voluminöser Band. Mir ist bewußt, daß Interviews nur einen kleinen Teil Ihrer publizistischen Tätigkeit bilden – hier ist die Redewendung von der Spitze des Eisberges wirklich am Platz. Sie blicken auf eine Liste von mehr als 40 Buch-Veröffentlichungen zurück. Darüber hinaus ist eine große Zahl von Aufsätzen aus Ihrer Feder in unterschiedlichsten Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden verstreut. Sie sind seit zwanzig Jahren tätig auf Lehrstühlen in Karlsruhe und Wien – die österreichische Funktion haben Sie vor nicht allzu langer Zeit niedergelegt. Daneben hatten Sie eine Agenda als Redner bei allen möglichen Anlässen, sie nehmen an einer Vielzahl von Konferenzen, Tagungen und Symposien teil. Sie hielten Lesungen aus neuen Büchern, Sie gaben Seminare, Festvorträge, Dinner Speeches. Sie führten Interviews in vielen Medien und waren mehr als zehn Jahre lang Moderator einer eigenen Fernsehsendung. Man sagt im allgemeinen »weniger ist mehr« – wie kommt es, daß bei Ihnen mehr mehr ist? Ist Ihre geradezu verzweifelte Schaffenskraft nicht auch Ausdruck einer Ohnmacht angesichts der Stummheit der Bibliothek, wie sie jeder Schriftsteller empfindet?

SLOTERDIJK:?Mir scheint, die richtige Antwort auf die Frage nach den Triebfedern meiner Arbeit würde weniger ein Motiv als eine innere Verfassung offenlegen. Wenn ich auf die Jahre zurückschaue, aus denen die Auswahl dieser Gespräche genommen ist, dann ist mein erster Eindruck von mir selbst: Wehrlosigkeit, beziehungsweise Verführbarkeit. Auf mich kann man das Klischee von der endogen überschäumenden Produktivität des geborenen Autors jedenfalls nicht anwenden, ebensowenig wie das Modell der engagierten Literatur. Was man für Produktivität hält, ist in meinem Fall meistens nur die Unfähigkeit, mich gegen Vorschläge zu wehren. Eine gewisse Übernachgiebigkeit steht am Anfang. Sie ist letztlich schuld an dem ständigen Übergang von Passivität in Produktion. Allerdings wäre dieser Zustand ohne Übermut nicht zu halten gewesen. Wenn ich mich auf eine zusätzliche Aufgabe einließ, war ich offenkundig bereit, zu sagen: Das geht noch. Natürlich habe ich dabei mit der Erschöpfung Bekanntschaft geschlossen, doch stärker war ein unglaublich leichtsinniges Vertrauen auf regenerative Kräfte. Das ist im übrigen der einzig nennenswerte Unterschied zwischen früher und jetzt: Ich mache seit einer Weile die Erfahrung, wie die Regeneration sich Zeit läßt.

KLEIN:?Entführen Sie uns in die Werkstatt Ihrer Kreativität. Können Sie Ihre Arbeitstechnik beschreiben und die Organisation Ihrer Bibliothek erklären. Wie erinnern Sie sich?

SLOTERDIJK:?Kein Mensch kann wissen, wie sein Gedächtnis arbeitet. Ich weiß nur, daß ich ein gut aufgeräumtes inneres Archiv haben muß, selbst wenn es für Dritte als Durcheinander erschiene. Mein Archivar findet ziemlich regelmäßig Zugang zu den wichtigeren »files«, er ist ein Mitarbeiter, der mich nie enttäuscht hat. In guten Momenten holt er Dokumente hervor, von denen ich gar nicht wußte, daß sie zitierreif abgelegt sind. Er entdeckt manchmal unbewußt fast fertig geschriebene Stücke, die ich nur noch kopieren muß.

KLEIN:?Inwiefern wird Ihr publizistischer Elan durch Ihre Sprachlichkeit potenziert?

SLOTERDIJK:?Nun ja, Sprache wird generell als Medium der Verständigung aufgefaßt – eine Annahme, die von Schriftstellern nicht ohne weiteres akzeptiert werden dürfte. Eine kritische Minderheit sieht in der Sprache den Anfang aller Mißverständnisse. Wittgenstein meinte sogar, philosophische Probleme entstünden, wenn die Sprache feiert – was »feiern« bedeutet, wollte uns der Autor jedoch nicht verraten. Heißt es Nonsens treiben? Scheinprobleme wälzen, Überschüsse in die Luft pulvern? Jedenfalls spielte er mit der Vorstellung, man könne es genausogut bleiben lassen, die deflationäre Tendenz ist manifest. Wenn ich das lese, sehe ich einen zerknitterten Pedell ins Zimmer treten, der dem Unfug der Jungen ein Ende machen möchte. Mir kommen Anweisungen solcher Art beengend vor. Man weiß gar nicht, was noch alles möglich wird, wenn man sich aufs Feiern einläßt. Lieber halte ich es mit Wittgensteins Landsmann Egon Friedell, wenn er statuiert: Kultur ist Reichtum an Problemen. Man darf an allem sparen wollen, an den Problemen nicht.

KLEIN:?Von Ihren Interviews habe ich in diversen Zeitungsarchiven und im Internet bisher ungefähr dreihundert ermitteln können. Wenn wir hier davon etwas mehr als dreißig ausgewählte Stücke präsentieren, ergibt das tatsächlich nur den über Wasser sichtbaren Teil, um beim Eisberg-Bild zu bleiben. Welche Rolle spielen die Interviews in Ihrer publizistischen Tätigkeit? Dienen sie dazu, die »Geschäftsführung des eigenen Namens« zu betreiben, wie Sie das selbst einmal formuliert haben.

SLOTERDIJK:?Sehen Sie, es gab Autoren von hoher Reputation, die nie Interviews gegeben haben, und solche, die es selten taten und tun. Daneben andere, die sorglos Interviewvorschläge akzeptieren. Ich würde mich dem letzteren Typ zurechnen. Daß dabei Namens-Management betrieben wird, ist ein Nebenaspekt, den man in Kauf nimmt. An den meisten Gesprächen müßte der Leser merken, daß ich nach spätestens einer Minute dergleichen vergesse, sollte ich zuvor daran gedacht haben. Das Interview ist eine literarische Produktionsform unter anderen, ich verstehe es als eine Untergattung des Essays. Ich habe es häufig praktiziert, nachdem ich mich nach einigem Sträuben mit der Rolle des public intellectual abgefunden hatte, die sich aus dem Erfolg meiner ersten Veröffentlichungen ergab. Wie man leicht erkennt, bin ich ein behauptungsfroher Formulierer, und wenn ich mich erst einmal in den Redestrom gestürzt habe, sind Sorgen um Wirkung inexistent. Die werden nur in der Phase der Nacharbeit akut, ich bin empfindlich gegen mißglückte Wendungen.

KLEIN:?Insofern sind Ihre Interviews auch keine eins zu eins »live«-Veröffentlichung. Sie werden immer von Ihnen durchgesehen.

SLOTERDIJK:?Sagen wir, sie sind eine Mischform aus Improvisation und redigierter Arbeit. Wobei der redaktionelle Anteil manchmal nicht über die eine oder andere Retusche hinausreicht, in anderen Fällen geht er bis zu einer kompletten Neufassung.

KLEIN:?Aus dem jungen, scheuen Sloterdijk, den man in älteren Aufzeichnungen sehen kann, wird mit den Jahren ein Star. Auf mich wirkt er wie ein Koloss der Ausdrucksgewalt, mündlich und schriftlich. Diese Schaffenskraft, so kommt mir vor, mit normalen Maßstäben ist sie nicht zu erklären. Ein Rätsel bleibt, wie Sie das bewältigt haben.

SLOTERDIJK:?Daß durch mich eine Menge hindurchgegangen ist, soviel kann ich zugeben. Hin und wieder habe ich Freude an dem starken Durchzug, keineswegs immer. Mein Grundgefühl ist wie bemerkt nicht das von übertriebener Produktivität, sondern das von Empfänglichkeit für Evidenz aus allen Richtungen, was ich eben Wehrlosigkeit nannte. In der Entstehungsphase gefallen mir auch meistens die Dinge, die ich mache, ich verliere sie aber schnell aus dem Blick. Es mag seltsam klingen, Erfolgsgefühl kommt nur kurz und selten auf, sollte auch ein größeres Werk zustande gekommen sein. Ich kann solche Regungen entweder nicht entwickeln oder nicht festhalten. Vor mir liegt immer wieder das leere Blatt, das beweist, es ist noch nichts geleistet. Ich fahre also die Antennen aus und fange mit dem Neuen an. So absurd es klingt, ich habe mich meistens im Verdacht, nicht genug zu tun. Das zeigt wohl, daß ich nicht mit Rückblicks-Intelligenz ausgestattet bin. Ich sehe meine Vergangenheit nicht, es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als in Bewegung zu bleiben. Vielleicht wäre das die nächste Lektion: Verlangsamung und Rückkehr in den Augenblick. Aber ich mißtraue noch solchen Suggestionen und schimpfe sie Pensionärsgedanken.

KLEIN:?Es heißt, Sie hätten in jüngeren Jahren in einer Wohngemeinschaft gelebt. Wie schafften Sie es, mitten im Chaos kreativ zu sein? Viele würden sagen, in einem solchen Umfeld könnte ich nie etwas zu Papier bringen!

SLOTERDIJK:?In der Münchener Wohngemeinschaft war ich nicht als Interner, aber als besuchendes Mitglied auf täglicher Basis. Was mir schon damals an mir selber auffiel, war die Fähigkeit, durch nichts aus der Bahn geworfen zu werden. Ich hatte immer ein intensives Beziehungsleben, ich war mit Frauen und Freunden eng liiert, wir waren viel aus und oft unterwegs. Seit zwanzig Jahren dominiert bei mir die Lebensform Familie, das ist auch keine reine Solitüde. Sehr gut erinnere ich mich an die Zeit, als ein wirbeliges Kleinkind durch mein Arbeitszimmer stürmte. Es amüsierte mich, ich konnte nicht gestört werden. Heute kommt mir das seltsam vor, da die Irritierbarkeit zugenommen hat. Auch durch das Telefon war ich nicht zu stören, ebensowenig durch Handwerker und Zeugen Jehovas. Ich sah in allem Anregung, nicht Unterbrechung. Ein wundertätiger Aberglaube war am Werk: Was auch immer kommt, verwandelt sich auf der Stelle in einen Teil der Produktion. In jener mittleren Phase lebte ich wie unter einer Schutzhülle, ich war meiner Themen sicher oder die Themen waren sich meiner sicher. Ich war durch nichts aus der Spur zu...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften
Schlagworte Dialog • Europapreis für politische Kultur 2021 • Gespräche • Helmuth-Plessner-Preis 2017 • Interview • Interviews • Ludwig-Börne-Preis 2013 • Peter • Sloterdijk • ST 4564 • ST4564 • suhrkamp taschenbuch 4564
ISBN-10 3-518-74540-9 / 3518745409
ISBN-13 978-3-518-74540-3 / 9783518745403
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