Psychotherapie an der Grenze des Machbaren -  Joachim Küchenhoff,  Ralf T. Vogel

Psychotherapie an der Grenze des Machbaren (eBook)

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2020 | 1. Auflage
107 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-035659-7 (ISBN)
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Wie in jeder Wissenschaft geht es auch in der Psychotherapie darum, keine sozialen oder klinischen Gruppen von vornherein auszuschließen, sondern neue Anwendungsfelder zu erschließen und so die Grenzen des Machbaren zu erweitern. Allerdings steht je nach Indikation nur eine Auswahl aus zahlreichen Verfahren und Methoden zur Verfügung; soziale und körperliche Realitäten lassen sich u. U. durch Psychotherapie nicht verändern. Die beiden Autoren beschreiben die Grenzen der therapeutischen Verfahren und der Beziehungsfähigkeit in der Therapie und zeigen exemplarisch auf (Psychotherapie mit Geflüchteten und psychotisch erlebenden Menschen), wie sich diese verschieben lassen.

Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychoanalytiker. Er ist em. Direktor der Erwachsenenpsychiatrie der Klinik für Psychiatrie u. Psychotherapie Baselland, Gastprofessor und Aufsichtsratsvorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut sowie Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden.

Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychoanalytiker. Er ist em. Direktor der Erwachsenenpsychiatrie der Klinik für Psychiatrie u. Psychotherapie Baselland, Gastprofessor und Aufsichtsratsvorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut sowie Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden.

2. Vorlesung
Die Grenzen der therapeutischen Verfahren


Ralf T. Vogel


Was ist ein psychotherapeutisches Verfahren?


Der Begriff des psychotherapeutischen Verfahrens wurde im deutschsprachigen Raum lange unscharf und z. T. auch berufspolitisch motiviert verwendet, was nicht zuletzt für die Psychotherapieforschung und damit verbunden auch für die Zulassungspraxis etwa zur kassenärztlichen Versorgung ganz wesentliche Probleme aufwarf. Die in Deutschland maßgeblichen Psychotherapierichtlinien zum Beispiel haben diesem Problem Rechnung getragen und treffen seit einigen Jahren eine sinnvolle Unterscheidung zwischen psychotherapeutischen Verfahren, Methoden und Techniken. In § 5 des von dem mächtigen sog. »Gemeinsamen Bundesausschuss« erlassenen Grundlagenpapiers erfolgt folgende Definition eines Psychotherapieverfahrens:

1.  Ein zur Krankenbehandlung geeignetes Psychotherapieverfahren ist gekennzeichnet durch eine umfassende Theorie der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und ihrer Behandlung oder verschiedene Theorien der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und ihrer Behandlung auf der Basis gemeinsamer theoriegebundener Grundannahmen,

2.  eine darauf bezogene psychotherapeutische Behandlungsstrategie für ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen oder mehrere darauf bezogene psychotherapeutische Behandlungsmethoden für ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen und

3.  darauf bezogene Konzepte zur Indikationsstellung, zur individuellen Behandlungsplanung und zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung.

Die therapeutischen Verfahren sind nun historisch bedingt eng verknüpft mit sog. Psychotherapieschulen. Dabei ist der Begriff der Schulen wohl abgeleitet aus den antiken Einteilungen philosophischer Denkrichtungen in sog. Philosophische Schulen und unterlegt damit die in Punkt eins der Definition der Psychotherapierichtlinien benannte umfassende Krankheits- und Behandlungstheorie mit dem zugrundeliegenden Element der philosophischen Grundausrichtung, also der Erkenntnistheorie, des Menschenbildes, der Weltanschauung oder wie immer diese Basis therapeutischen Denkens und Handelns auch benannt werden mag. Die Merkmale einer therapeutischen Schulrichtung können in einem Strukturmodell folgendermaßen aufgelistet werden29:

1.  Darstellung des zugrundeliegenden anthropologischen Verständnisses und Bemühens um eine maximale Breite desselben (philosophische Perspektive),

2.  Theorie der psychischen Störungen und deren Therapie (Krankheits- und Veränderungstheorie) (psychopathologische Perspektive),

3.  Theorie des therapeutischen Geschehens (Prozess- und Beziehungstheorie, Wirkfaktorentheorie) (psychologische Perspektive i. e. S.),

4.  umfassende Aussagen zur Einbettung des Verfahrens in die aktuellen kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse (soziologische Perspektive),

5.  wissenschaftlicher Nachweis der Quantität und Qualität ihrer Wirkung (Wirksamkeitsperspektive).

Die Beobachtung des konkreten, sichtbaren Handelns des Therapeuten ist also nicht, wie man zunächst glauben könnte, die prominente Bestimmungsmethode einer Therapieschule wie denn auch die Psychotherapieforschung schon lange weiß, dass die wirklich schulspezifischen Techniken wenige sind und auch nur Geringes zum Therapieerfolg beitragen30. Man könnte von einer »psychotherapeutischen Hierarchie« sprechen, mit den Menschenbildannahmen als bedeutsamstem Ausgangspunkt über die sog. Metapsychologie zur therapeutischen Haltung, zur Methode und schließlich zur konkreten und dann u. U. auch manualisierbaren Behandlungstechnik.

Soziologisch können die therapeutischen Schulrichtungen und die in ihnen und aus ihnen heraus erwachsenen therapeutischen Verfahren auch als »epistemische Kulturen« oder »Wissenskulturen« bezeichnet werden.

Wissenskulturen werden von der Bielefelder Wissenssoziologin Karin Knorr-Cetina – zunächst für das Feld der Naturwissenschaften – definiert als »… diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen. Wissenskulturen generieren und validieren Wissen«31. Das Konzept wird vorwiegend in den Kulturwissenschaften32 rezipiert und birgt ein großes Potenzial für eine konstruktive Begegnung der therapeutischen Schulrichtungen. Die Konzeption von Wissenskulturen folgt einem sog. »kontextuellen« Verständnis der Generierung, Anwendung und Begründung von Wissen, heraus aus einer primären Ebene von Erfahrungen. Der Kontext ist dabei neben den subjektiven Bedingungen der beteiligten Akteure primär ein sozialer Beziehungsraum (mit dazugehöriger Gruppendynamik, mit Machtverhältnissen etc.), der sich vor dem Hintergrund einer grundlegenden Weltsicht (philosophische Perspektive) herausbildet. Die erreichten Wissensbestände der einen Kultur können nicht einfach in eine andere »exportiert« werden, sondern bleiben stets an ihren eigenen Kontext gebunden, und die Verdeutlichung der Kontextbedingungen innerhalb derer ein öffentlich gemachtes Wissen entstanden ist, ist unbedingt zu fordern. Wichtig ist für unseren Zusammenhang auch: Die Binnenkommunikation innerhalb der Wissenskulturen erfolgt über ein gemeinsames Sprach- und Begriffssystem, weshalb exakte Begriffsvergleiche zwischen den therapeutischen Schulrichtungen notwendig sind, um Unterschiede und eventuelle Überschneidungen, Integrierbares und fremd Bleibendes auszumachen.

Die Bestimmung auch der therapeutischen Schulen als Wissenskulturen hat für deren wissenschaftlichen Diskurs untereinander große Auswirkungen, die an dieser Stelle allerdings nicht dargestellt werden können. Es sei nur so viel gesagt: Ein konsequentes Zu-Ende-Denken dieses Ansatzes müsste auf die, inzwischen wohl weniger von der Wissenschafts- als eher von einer Marktlogik motivierten Konkurrenzkämpfe zu einer komplementären und kooperativen Sicht auf die Vielfalt therapeutischer Schulen hinführen, die die auch bei maximal integrativem Denken (s. u) verbleibende (Rest-)Verschiedenheit nicht auflöst, sondern in respektvoller und kooperativer Art nutzbar macht. Psychotherapieschulen als Wissenskulturen könnten als unterschiedliche und grundsätzlich gleichwertige Zugänge zum grundlegenden Anliegen von Psychotherapie, der Annäherung an (zunächst oder gar grundsätzlich) Unbekanntes, angesehen werden.

Nach dieser kurzen Umkreisung des Begriffs des psychotherapeutischen Verfahrens kehren wir nun aber zurück zum Thema der Grenzen und haben uns hier zumindest knapp mit der Frage der Abgrenzung der Verfahren voneinander zu befassen. Hier ist – wie so oft in psychotherapierelevanten Grundsatzfragen – von philosophischer Seite bereits viel Vorarbeit geleistet worden. Für unseren Zusammenhang interessant ist z. B. die phänomenologische Sicht auf den Begriff der Grenze etwa des deutschen Philosophen Bernhard Waldenfels33, der z. B. darauf hinweist, dass Grenzen erst durch die Absicht bzw. den Prozess der Grenzziehung überhaupt zustande kommen und Grenzziehung die Einnahme einer dritten Position erfordert, von der aus sie vollzogen wird. Dies bedeutet für unseren Gegenstand: Die Begrenzung der Verfahren zueinander ist nicht wirklich durch Vertreter der Verfahren möglich, die großen Psychotherapieverfahren markieren keine sauber voneinander trennbaren Orte mehr! Ein Blick in die modernen Lehrbücher der psychotherapeutischen Hauptverfahren zeigt: V. a. die modernen tiefenpsychologischen und die modernen verhaltenstherapeutischen Richtungen weisen, wenn sie als Gesamtheiten betrachtet werden und nicht nur einzelne Untergruppen miteinander verglichen werden, erhebliche therapiepraktische Übereinstimmungen auf, ihre Gemeinsamkeiten im konkreten therapeutischen Handeln überwiegen schon seit langem ihre Unterschiede.

Übung zum Nachdenken


Die Entstehung einer psychotherapeutischen Schulenzugehörigkeit:

•  »Wie wurden Sie, was Sie (in Ihrem psychotherapeutischen Handeln) sind«?

•  »Warum haben Sie das von Ihnen gelernte Therapieverfahren gewählt?«

•  Wie zufrieden sind Sie

a)  mit der Wahl ihres Verfahrens (und warum)?

b)  mit ihrer Ausbildung (und warum)?

Bei der grundlegenden Frage nach einer internen Differenzierung der Verfahren gilt es ebenso zu bedenken: Es gibt nicht mehr die Verhaltenstherapie, die psychoanalytische Theorie und Praxis, die systemische oder humanistische Psychotherapie. Inzwischen herrscht derzeit in der Verhaltenstherapie – mehr als in der Psychoanalyse, der dies lange zum Vorwurf gemacht wurde – eine enorme Heterogenität auf allen oben beschriebenen Ebenen einer Therapieschule (man...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2020
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Michael Ermann, Dorothea Huber
Zusatzinfo 4 Abb., 2 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
Schlagworte Psychotherapeutische Behandlungstechnik • Psychotherapeutischer Prozess • Psychotherapeut-Klient-Beziehung
ISBN-10 3-17-035659-3 / 3170356593
ISBN-13 978-3-17-035659-7 / 9783170356597
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