Böse Väter, kalte Mütter? -  Wolfgang Schmidbauer

Böse Väter, kalte Mütter? (eBook)

Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
150 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962222-4 (ISBN)
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Immer mehr Menschen denken, nicht sie selbst, sondern ihre Eltern seien die Schmiede ihres Glücks. Kritik an schlechten Eltern ist daher etabliert, denn sie gelten als belastbar und sollen Verantwortung tragen. Anklagende Kinder dürfen dagegen Kinder bleiben, Verständnis und Mitgefühl erwarten. In seinem Essay richtet sich Schmidbauer an alle, die sich für Familien interessieren, vor allem aber an Eltern, die unter den Vorwürfen erwachsener Kinder leiden.

Wolfgang Schmidbauer, geb. 1941, gilt als einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch Erzählungen, Romane und Berichte über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.

Wolfgang Schmidbauer, geb. 1941, gilt als einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch Erzählungen, Romane und Berichte über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.

Einleitung


Es würde unserer Vorstellung von einem nachvollziehbaren Verhalten entsprechen, dass wir die Gesellschaft von Personen suchen, die uns guttun, und Kontakte mit Menschen meiden, die uns kränken. Kinder und Eltern verhalten sich oft gänzlich anders. Sie suchen, längst erwachsen und wirtschaftlich getrennt, immer noch nach Nähe und klagen über einen Mangel an Aufmerksamkeit. Sie weisen Geschenke zurück, die sie von anderen annehmen würden. Sie wollen verstanden werden.

Entwertend und voller Klagen über nahe Verwandte zu sprechen bedeutet keineswegs, dass die Bindung an sie schwach, die Wünsche an sie zurückgenommen sind. Sie werden nach wie vor gebraucht. Manches an den Äußerungen hört sich an, als ginge es um die Rechtfertigung für einen eigenen Mangel an Lebenszufriedenheit oder Zukunftshoffnung.

Während Klagen über missratene Kinder seit Anbeginn der Schriftkultur überliefert sind, sind Klagen von Kindern über Erziehungsfehler und Zuwendungsmängel der Eltern recht neu. Die Kinder vergleichen ihre Eltern mit dem Bild, das sie von »wirklich guten« Eltern haben. Sie gewinnen diese Bilder aus populären Texten über ein in ihnen fortlebendes »inneres Kind«, aus Fallgeschichten über frühe Traumatisierungen, aus Erinnerungen an Widersprüche und Übergriffe, wie Franz Kafka in seinem Brief an den Vater. Sie überzeugen sich, dass die Probleme, die sie als Erwachsene haben, mit der Differenz zwischen den realen Eltern und diesem Idealbild zusammenhängen.

Der Gedanke, dass Eltern nicht nur körperliche Bedürfnisse befriedigen und die Kinder in der Anpassung an die gesellschaftliche Realität unterstützen, sondern sie verstehen und glücklich machen, hat durchaus zweischneidige Folgen. Implizit steckt er in den Konzepten der Primärtherapie und in Abwandlungen der klassischen Psychoanalyse durch Heinz Kohut und Alice Miller.

Begonnen hat diese Entwicklung im Aufarbeiten der seelischen Erschütterungen durch den Faschismus, den Holocaust, die Atombombe und die drohende ökologische Katastrophe. Zu den wesentlichen Neuerungen der sechziger Jahre gehörte das Konzept einer antiautoritären Pädagogik, die sich gegen den »autoritären Charakter« und damit gegen die willigen Vollstrecker bösartiger Befehle richtete. In Deutschland war es ein wesentliches Anliegen der 68er-Bewegung, sich kritisch mit den autoritären »Nazi-Eltern« auseinanderzusetzen und später zu den eigenen Kindern ein emotional nahes, freundschaftliches, ja romantisches Verhältnis zu finden.

Damit sind die Eltern nicht in der Vergangenheit und in der äußeren Welt angesiedelt. Sie halten einen Brückenkopf im Inneren der erwachsenen Kinder. Diese fiktiv fortbestehende Einflussnahme ruft nach Verteidigungsmaßnahmen. Die Eltern ahnen oft nicht, welche Macht ihnen zugeschrieben wird. Sie sind hilflos gegenüber Aktionen des erwachsenen Kindes, die sich gegen eine Besatzungsmacht richten, von der die Eltern gar nicht wissen, dass sie existiert.

Es gibt zwischen Menschen keine einseitige Transformation. Eine transformierende Beziehung (wie die Erziehung) wirkt in beide Richtungen. Indem die Eltern an das Kind Phantasien herantragen, indem sie ihm Bilder vermitteln, was sie selbst gerne geworden wären und was sie sich wünschen, dass das Kind werde, wecken sie in dem Kind Gegenphantasien. Es baut Bilder auf, wie die Eltern beschaffen sein müssten, um die eigenen Ziele zu erreichen und ein befriedigendes Leben zu führen.

In vormodernen Kulturen ernähren und schützen die Eltern ihr Kind, solange es klein ist. Sobald es selbständiger wird, ist es ebenso wie die Eltern Traditionen unterworfen, die über beiden stehen.

Das ändert sich in der individualisierten Gesellschaft. Jetzt werden die Phantasien der Eltern mächtiger – und ebenso die des Kindes. Das Kind ist vor die Aufgabe gestellt, herauszufinden, wie konform die Phantasien der Eltern mit seinen eigenen sind. Der Vater findet es beispielsweise »normal«, dass seine 15-jährige Tochter zur vorgeschriebenen Stunde zu Hause ist und ihm jeden jungen Mann vorstellt, mit dem sie Kontakt haben möchte. Die Tochter findet diese Auflagen sinnlos und grausam, gehen sie doch ebenso über das hinaus, was unter ihren Altersgenossinnen als »normal« gilt, wie sie die Tatsache ignorieren, dass sie ebenso intelligent wie der Vater ist (was den IQ angeht), körperlich vielleicht schon fitter als er und überzeugt, zu wissen, was sie tut.

Stellen wir uns vor, dass diese 15-Jährige inzwischen 30 Jahre alt ist und auf ihre Vaterbeziehung zu sprechen kommt. Wir werden zwei Extreme entdecken:

Position A: »Mein Vater hat mein Leben zerstört. Immer wenn ich ihn sehe, steigt diese Wut in mir hoch. Er kapiert einfach nicht, was er da mit mir gemacht hat.«

Position B: »Mein Vater war total überfordert, als ich in die Pubertät kam, damals habe ich ihn gehasst, jetzt denke ich nicht viel an ihn, aber wenn wir uns sehen, kommen wir miteinander aus.«

Die Unterschiede zwischen beiden Positionen sind nicht durch die faktischen Aktionen zwischen Vater und Tochter bestimmt, sondern durch deren Verarbeitung im bewussten und unbewussten Erleben. Es geht unter anderem darum, Verantwortung für das Gelingen wie das Scheitern der Liebesbeziehungen im erwachsenen Leben zu übernehmen.

Im ersten Fall wird der »böse« Vater festgehalten in der unbewussten Erwartung, doch noch einen guten zu bekommen. Im zweiten spielt der Vater keine wichtige Rolle mehr, die junge Frau beschäftigt sich nicht mehr mit ihm und interessiert sich mehr für ihr eigenes Erleben in ihren aktuellen Beziehungen. So fehlen die Erwartungen, eine Person zu finden, die z. B. versteht, was dem Kind angetan wurde.

Das heißt: Diesmal ist es die Tochter, die sich bemüht, den Vater zu transformieren. Sie denkt nach, wie sie ihm klarmachen kann, was er ihr angetan hat und was er hätte tun müssen, um ihr eine gute seelische Entwicklung zu ermöglichen. Sie fasst diese Gedanken zusammen zu Urteilen, wie ein »richtiger Vater« sein müsste und wie viele Defizite sie ertragen musste, weil er diesem Bild nicht entspricht.

Wenn die soziale Kindheit in europäischen Familien länger dauert als die körperliche, ergeben sich nicht nur Konflikte zwischen den Adoleszenten und ihren Eltern. Eine zweite Konfliktquelle sind Dankesschulden, welche die Beziehung zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Vätern oder Müttern belasten. Hier wie in vielen anderen Bereichen wird deutlich, dass Zivilisationsschritte die Menschen komfortabler leben lassen, gleichzeitig aber psychischer Stress wächst.

Die seelischen Belastungen ergeben sich daraus, dass mehr imaginäre Elemente in die Kind-Eltern-Beziehung eindringen. Je länger die Abhängigkeit des Kindes von den Eltern dauert, desto mehr Phantasien wachsen in den Eltern, das Kind müsste ihnen ihre Mühe danken. Umgekehrt wachsen aber auch in den Kindern zum Teil unbewusste Phantasien, die Eltern müssten dankbar sein, dass sie sich so lange über alle möglichen Hürden gequält haben, um die Erwartungen der Eltern an ihren sozialen Erfolg zu erfüllen. Das Kind hat acht Jahre den Eltern zuliebe Cello geübt; die Eltern haben acht Jahre dem Kind zuliebe Instrument und Musikstunden bezahlt.

In einer hochentwickelten Gesellschaft beruhen gute Beziehungen auf Anerkennung. Diese ist erheblich schwieriger zu geben und anzunehmen als etwa das Teilen der Beute in einer Jägerkultur oder die Versorgung der gebrechlichen Eltern mit Nahrung. Da beide Seiten wenig Gelegenheiten haben, ihre Dankesschulden durch körperliche Präsenz und physische Gaben abzugelten, kommen Eltern ebenso wie Kinder in die familientherapeutische Praxis, wenn die Kränkungen überhandnehmen, insbesondere dann, wenn eine imaginäre Schuld nicht nur ignoriert wird, sondern Gegenforderungen auftauchen: Nicht ich bin dir, nein, du bist mir etwas schuldig geblieben.

Eine Frau klagt die Eltern an, sie hätten sie nicht ausreichend in ihrer Autonomieentwicklung unterstützt und nach ihrem Abitur in ein Fach gezwungen, das sie nicht interessiert. Die Eltern erinnern sich an eine unsichere Tochter, die sie dringend um Rat fragte, was sie denn studieren solle. Der erwachsene Sohn zieht wieder in sein Kinderzimmer, wo ihn seine alleinerziehende Mutter aus Furcht vor seinen Wutausbrüchen versorgt und ihm ihr WLAN überlässt. Er begründet das damit, dass sie ihn im Babyalter vernachlässigt hat. Sie fühlt sich schuldig, plädiert aber auf mildernde Umstände, der Vater des Sohnes habe sie während der Schwangerschaft verlassen, sie musste in ihren Beruf zurück, das Kind kam in eine Krippe. Die Tochter kann sich als Künstlerin nicht durchsetzen. Sie überzeugt sich von der Schuld ihrer Mutter, die nach der Geburt ihren Beruf aufgegeben hat und als abhängige Hausfrau der Tochter kein Vorbild war.

Wer als Psychotherapeut gearbeitet und später Therapeutinnen und Therapeuten ausgebildet hat, wird vielleicht irgendwann der Scham begegnen, dass seinesgleichen und womöglich er selbst zu Konstruktionen schuldiger Eltern beigetragen hat. Es ist für die helfenden Berufe attraktiv, sich positiv von kritisch gesehenen Eltern abzuheben.

Wenn ein Therapeut unsicher ist, ob seine Arbeit Früchte trägt, wenn er an sich selbst zweifelt und diesen Zweifel nicht sinnvoll findet und produktiv nutzt, sondern mit Schuld- und Schamgefühlen auf ihn reagiert, dann stehen ihm zwei Auswege offen. Er kann selbst die Abstinenz verletzen und hoffen, bei seinen Klienten Trost zu finden – die auffälligste Folge ist der sexuelle Übergriff –, oder aber er kann die Eltern (oder Partner) seiner Patienten schwarzmalen,...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Angst • animalisch • Bindung • Depression • Elternanklage • Elternrolle • emotionale Beziehungen • Entfremdung • Geschlechterrollen • Kindliche Entwicklung • Konfliktberatung • Psychoanalyse • Rollenumkehr • Schwangerschaft
ISBN-10 3-15-962222-3 / 3159622223
ISBN-13 978-3-15-962222-4 / 9783159622224
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