Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten -  Daniel Mullis

Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten (eBook)

Die Regression der Mitte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
350 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962224-8 (ISBN)
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Warum sind rechte und rechtsextreme Bewegungen in Krisenzeiten so erfolgreich? Mit welchen Strategien überzeugen sie die Mehrheit davon, dass die Verteidigung der eigenen Privilegien wichtiger ist als Solidarität oder Verzicht? Über die politischen Aktivitäten rechter Gruppierungen ist viel geschrieben worden - ergänzend dazu untersucht der Sozialwissenschaftler Daniel Mullis, für welche Botschaften die gesellschaftliche Mitte empfänglich ist. In zahlreichen Gesprächen arbeitet er die bundesdeutsche Befindlichkeit unserer Gegenwart heraus. Er fragt aber auch danach, wie progressive Politik in unsicheren Zeiten gelingen kann.

Daniel Mullis, geb. 1984, ist Leiter des DFG-Projektes »Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken« am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main.

Daniel Mullis, geb. 1984, ist Leiter des DFG-Projektes »Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken« am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main.

Vorwort


Auf einer Vortragsreise treffe ich in Salzburg einen ehemaligen Dozenten, der seit einiger Zeit in Österreich nahe der deutschen Grenze lebt. Wir sitzen in einem Café in Bahnhofsnähe, es ist Herbst 2015. Die Spuren der Ereignisse der vergangenen Wochen sind noch deutlich zu sehen und erinnern mich an Fernsehbilder von Menschen, die in langen Schlangen auf ihre Weiterreise warten. Erst vor wenigen Tagen sind hier Tausende durchgekommen auf ihrem Weg über die Balkanroute nach Nordeuropa. In Österreich wie in Ungarn war die Stimmung längst in offene Feindseligkeit umgeschlagen, die Menschen sollten weiter, nicht bleiben, einfach weg. Die südlichen Grenzen der beiden Länder wurden jeweils bereits wieder streng kontrolliert, Zäune wurden errichtet. In Deutschland hingegen verlautbarte Kanzlerin Angela Merkel damals noch mutig: »Wir schaffen das«. Tausende standen im ganzen Land an den Bahnhöfen und nahmen die Ankommenden in Empfang, reichten ihnen Essen und spendeten Nothilfe. Die Willkommenskultur war echt und wurde gelebt.

Gleichzeitig zogen am Horizont, wenn man sie denn sehen wollte, die dunklen Wolken bereits auf. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte sich im Gefüge der europäischen Schuldenkrise die Alternative für Deutschland (AfD) gegründet, und seit einem Jahr demonstrierten die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) in Dresden. Da die junge Rechtsaußenpartei 2013 den Einzug in den Bundestag noch verpasst hatte und Pegida zwar ein brisantes, aber eher lokales Phänomen blieb, bewertete ich im Gespräch die Gesamtsituation damals zumindest für die Bundesrepublik vorsichtig positiv. Für mich prägend waren die progressiven Erfahrungen der Willkommenskultur sowie die Aufbruchstimmung in den Jahren nach 2011 gewesen, die im Anschluss an den Arabischen Frühling die Welt erfasst hatte.

Für mein Masterstudium in der Humangeographie zog ich 2010 von Bern nach Frankfurt am Main. In Deutschland nahm ich zunächst eine andere Stimmung wahr als in der Schweiz, wo mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) eine Rechtsaußenpartei schon lange etabliert war. Während in ganz Europa Parteien am rechten Rand auf dem Vormarsch waren, schien mir dies in der Bundesrepublik schon aus historischen Gründen unvorstellbar. Im Winter 2015 begann sich die Situation jedoch zu verändern. Im Zuge der wachsenden Ressentiments gegen die neue Zuwanderung setzte die AfD in ganz Deutschland zum Aufstieg an, und auf der Straße formierten sich rechte soziale Bewegungen. Immer wieder eskalierte die Gewalt, landesweit brannten Hunderte Flüchtlingsunterkünfte, und bei rechts motivierten Anschlägen verloren seit 2015 nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung 36 Menschen ihr Leben. Gleichzeitig zeigte sich immer deutlicher, dass die Entwicklung nach Rechts nicht nur vom rechten Rand ausging, sondern dass sich auch in der Mitte der Gesellschaft Narrative zu verschieben begannen.

Um es konkret zu machen: 2016 waren es noch Politiker:innen der AfD, die dafür warben, notfalls an der Grenze auf Menschen auf der Flucht zu schießen, 2023 ist es Jens Spahn, ehemaliger Gesundheitsminister und Spitzenpolitiker der CDU, der offen für »physische Gewalt« plädierte. Coronapandemie, Kriege und Klimakrise haben die Stimmung in den vergangenen Jahren angeheizt, die Verunsicherung hat zugenommen, und etwas Rohes kam zum Vorschein. Schon bald nach dem Treffen in Salzburg musste ich also eingestehen, dass ich mit meiner Einschätzung falsch gelegen hatte. Immer wieder denke ich an dieses Treffen zurück und versuche, die damalige Stimmung einzufangen. War ich zu naiv, oder war es meine Unkenntnis Deutschlands, die mich fehlgeleitet hatte, oder hatte sich grundlegend etwas geändert? Mit Sicherheit war es in Teilen meine Unkenntnis, zugleich haben sich offensichtlich zwar langsam, aber sicher Dinge verändert. Und so stehen wir heute vor tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen mit noch offenem Ausgang.

Dieses Buch ist Ergebnis meiner Bemühungen zu verstehen, was in der Mitte der Gesellschaft passiert ist, dass die Rechte derart erstarken konnte. Grundlegend ist die Forschungsarbeit am Projekt »Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken. Abstiegsängste, Urbanisierung und Raumproduktionen in Frankfurt am Main und Leipzig«. Aufgenommen habe ich diese Arbeit am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) 2017, im Jahr darauf kam Paul Zschocke im Rahmen der Vorbereitungen für seine Promotion dazu. Seit Sommer 2021 wird das Forschungsvorhaben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. In ausgewählten Stadtteilen von Frankfurt am Main und Leipzig gingen wir den sozialen Dynamiken, Konflikten und Glückserwartungen nach, in deren Gefüge sich der Aufstieg der Rechten vollzog und weiter vollzieht. Dabei fokussierten wir bewusst auf die sogenannte Mitte und befragten Menschen aller politischen Couleurs. Was zutage trat und was ich hier als Regression der Mitte beschreiben werde, beunruhigt mich zutiefst, zumal klar wurde, wie stark das rechte Rauschen die Gesellschaft mittlerweile durchzieht.

Ich schreibe dieses Buch ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Anklage. Es geht mir nicht darum, jemanden zu entlarven, sondern darum, gesellschaftliche Dynamiken offenzulegen. Dynamiken im Übrigen, die mir mitnichten fremd sind und von denen ich mich nicht gänzlich frei fühle. Ich bin davon überzeugt, dass nur das Wissen um die Verfasstheit der Gegenwart und die ihr immanenten Krisendynamiken dabei helfen kann, sich als Gesellschaft und individuell der Regression und dem damit einhergehenden Erstarken der Rechten zu widersetzen.

Ich bin nicht in Deutschland aufgewachsen, und obwohl die Schweiz nicht weit ist und ich das Privileg habe, qua Hautfarbe, Sprache, Bildung sowie kulturelle Zuschreibungen und auch aufgrund meines Geschlechts fast vollständig in der Mitte der Gesellschaft aufzugehen, bleibt mein Blick in gewisser Weise doch immer geteilt. Vieles – und mehr, als ich selbst gedacht hatte – musste ich mir aktiv erarbeiten, kollektive Normen und Codes waren mir nicht unmittelbar verständlich, was für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung Vor- und Nachteile hat. Obwohl ich inzwischen zu lange in Deutschland lebe, um einen Blick von außen beanspruchen zu können, bleibt der migrantischen Erfahrung ein vergleichender Gestus, der Erklärungsbedarf sieht und Reflexion befördert, dennoch stets eingeschrieben. Prägend für meine Perspektive ist zudem, dass ich mit Frankfurt am Main eine weltoffene und plurale, aber sozial tief gespaltene Stadt mein Zuhause nenne. In den vergangenen Jahren habe ich aus familiären Gründen vor allem auch den Osten Deutschlands kennengelernt, so dass mir die mecklenburgische Seenplatte näher liegt als das Saarland. Ohne diese Bezüge hätte ich mir nicht zugetraut, die Perspektive zu öffnen und eine west- und eine ostdeutsche Großstadt nebeneinanderzustellen.

Die Arbeit am Projekt fiel in turbulente Zeiten. Die Bewältigung der Pandemie mit kleinen Kindern sowie die anschließend nicht endenden Krankheitswellen brachten unser System als berufstätiges Elternpaar immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs. Die Erschöpfung war spürbar und anhaltend. Die Danksagung beginne ich daher bei meiner Partnerin. Danke für den gemeinsamen Weg und die gegenseitig gewährten Möglichkeiten, ich weiß das sehr zu schätzen. Ein besonderer Dank für die gemeinsame Arbeit am Projekt gilt Paul Zschocke, der auch die empirische Arbeit in Leipzig durchgeführt hat: Ohne die kontinuierlichen Diskussionen wäre weder Projekt noch die Arbeit am Buch so produktiv gewesen, ich habe viel gelernt. Hilfreich waren auch die gemeinsamen Publikationen mit Judith Miggelbrink, Lokal extrem Rechts sowie das Special Issue Rechte Raumnahme. Als analytisch schärfend erwies sich zuletzt der Austausch mit Maximilian Pichl sowie Vanessa Thompson zu den aktuellen autoritären Dynamiken. Unbedingt zu nennen ist das Engagement der studentischen Hilfskräfte Darius Reinhardt, der seine Masterarbeit im Projekt verfasste, sowie Timo Wenninger und Ronja Stiep, die beide wichtige Recherchen und Kommentare beigesteuert haben. Gleiches gilt für die beiden PRIF-Praktikant:innen Lucas Geilen und Hannah Friedrich. Für kritische und präzise Kommentare zum Manuskript geht mein Dank an Mona Klöckner, Sebastian Schipper, Susanne Mullis-Pum, Valentin Domann und Veronika Duma sowie die Teilnehmer:innen des Kolloquiums am PRIF und jenem der Kritischen Geographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität. Sehr hilfreich waren auch die gemeinsamen Diskussionen im Rahmen eines zweitägigen Auswertungsworkshops im August 2023 sowie die Gespräche bei den Treffen des DFG-Netzwerks »Territorialisierungen der radikalen Rechten« seit 2021. Der DFG gebührt Dank für die finanziellen Mittel, und meinen Kolleg:innen am PRIF möchte ich für das sehr produktive und angenehme Arbeitsumfeld Dank aussprechen. Ein besonderes Dankeschön geht selbstverständlich auch an alle im Folgenden anonym bleibenden Personen, die bereit waren, mit mir zu reden und sich dafür Zeit genommen haben – ich weiß das sehr zu schätzen. Ohne meine Agentin Aenne Glienke und das großartige Lektorat und die gute Betreuung beim Verlag wären einige Unwägbarkeiten keinesfalls so gut lösbar gewesen, ein herzliches Dankeschön auch für diese Unterstützung. Abschließend an euch, liebe beide Kinders, danke für euer Lachen,...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Bundestagswahl • Demokratie • Gesellschaftsdiagnose • Klimakrise • Krieg • Migration • Pandemie • Populismus • Rassismus • Rechtsextremismus • Rechtsruck
ISBN-10 3-15-962224-X / 315962224X
ISBN-13 978-3-15-962224-8 / 9783159622248
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