Jeder Stein erzählt von einem Leben (eBook)

Auf den Spuren meiner Familie
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
336 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-29941-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jeder Stein erzählt von einem Leben -  Jackie Kohnstamm
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Wie mich die Stolpersteine meiner Familie zu einer Reise in die Vergangenheit inspirierten - die bewegende Geschichte von Jackie Kohnstamm und ihren Großeltern Max und Mally
Einer spontanen Eingebung folgend, durchforstet Jackie Kohnstamm im heimischen London das Internet nach ihren Großeltern, Max und Mally Rychwalski. Sie kann ihren Augen kaum glauben, als sie tatsächlich auf einen wichtigen Hinweis stößt: In Berlin wurden nur wenige Tage zuvor Stolpersteine für die beiden verlegt. Seit sie denken kann, liegt das Schicksal von Max und Mally wie ein Schatten auf ihrer Familie, selbst wenn alle Details unausgesprochen bleiben. Für Jackie bedeutet die Zufallsentdeckung im Netz den Beginn einer Reise in die Vergangenheit. Was sie bei der Spurensuche erfährt, wird sie erschüttern und schockieren - und doch ihr und ihrer Familie erst Heilung, Frieden und Versöhnung bringen.

Von der »Fit-für-die-Zukunft«-Jury der Deuschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur als Hoffnung-Buchtipp des Monats Februar 2024 empfohlen!

Jackie Kohnstamm wuchs im Norden Londons auf, wo sie auch heute noch lebt. Für ihre Doktorarbeit untersuchte sie eine historische jüdische Gemeinschaft in Frankreich, ohne zu ahnen, wie sehr ihre Recherchefähigkeiten ihr später bei der Suche nach ihrer eigenen Familiengeschichte helfen würden. Sie arbeitete als Dozentin und schrieb Kurzgeschichten, Theaterstücke und Hörspiele, die u.a. im Radio der BBC liefen. Jackie liebt ausgedehnte Mahlzeiten mit verwandten Seelen, ihren verwilderten Garten und Tennis zu spielen, selbst wenn sie nur mit viel Glück einmal gewinnt. »Jeder Stein erzählt von einem Leben« ist ihr erstes Buch.

DEZEMBER 2005


Ruhelos. Ich war ruhelos. Unfähig, irgendetwas in Ordnung zu bringen. Dann brachte der Zufall alles ins Rollen. Anders kann ich es mir nicht erklären. Es war nichts als ein glücklicher Zufall.

Ich stehe an der Tür zum Garten, in der Hand halte ich eine Hose, von der ein Knopf abgegangen ist. Eigentlich möchte ich draußen sein, aber was ist Anfang Dezember im Garten noch zu tun? Sträucher und Büsche warten darauf, dass die Sonne ihre Wurzeln erreicht und sie zu neuem Leben erweckt.

Es ist jetzt mehr als zwei Wochen her, dass ich diese Hose getragen habe. Etwas zu essen hätte ich sofort zubereitet. Kochen finde ich entspannend, den Rhythmus beim Schnippeln beruhigend. Meine Gedanken machen sich dann selbstständig, schweben davon, und am Schluss ist die Mahlzeit fertig. Nähen und Flicken hasse ich aber.

Also begebe ich mich in die Küche, öffne den Kühlschrank und leere das Gemüsefach. Dann werfe ich Karotten, Zwiebeln, Sellerie, Lauch und Kartoffeln – das ganze Wurzelgemüse des Winters – in einen großen Topf und gebe getrocknete Kräuter dazu, denn die frischen sind alle komplett verwelkt. Ein weiterer Grund, warum der Sommer bald kommen sollte. Zum Schluss füge ich noch ein bisschen Brühe und Knoblauch für den Geschmack bei. Während die Suppe vor sich hin köchelt, gehe ich hinaus in den letzten traurigen Rest Tageslicht und schmiede Pläne für den Frühling.

Es ist schwer vorstellbar, dass der Stumpf des Rosenstrauchs neue Triebe bildet, der zum Skelett verkommene Jasmin seine duftenden Blüten über den Zaun hängen lässt oder dass ich noch vor wenigen Monaten meine eigenen Feigen gegessen habe. Muss das Feigenbäumchen umgetopft werden, oder lasse ich es am besten unberührt? Immerhin ist es winterhart, im Gegensatz zu der Geranie, die ich mit noch mehr Vlies umwickele und dicht an die Wand rücke.

Jetzt ist es komplett dunkel. Ich gehe hinein und löffele meine Suppe.

Würde ich im Mittelalter leben, so würde ich jetzt in meinen Nachttopf pissen, ihn aus dem Fenster kippen, die Kerze ausblasen und zu Bett gehen. Der Einbruch der Dunkelheit wäre eine Erleichterung. Durch den elektrischen Strom und die Technik haben wir allzu viele Möglichkeiten, uns zu zerstreuen, und mir gefällt keine davon. Ganz bestimmt will ich nicht nähen. Um mich abzulenken, schalte ich den Fernseher ein. Das ist am einfachsten. Diesen Knopf zu drücken, ohne darüber nachzudenken und ohne zu begreifen, was ich da getan habe.

Ich schnappe mir die Fernbedienung und schalte auf Channel 4. Gerade steigt ein großer Mann in den Kofferraum eines Autos – wahrscheinlich aus freien Stücken, denn er lacht in die Kamera. Er krümmt sich sogar zusammen und lässt sich im Innern des Wagens einsperren. Dann schwenkt die Kamera über mehrere Reihen von Autos, bis nur noch ein dicht besetzter riesiger Parkplatz zu sehen ist. Von den Autos darf keines bewegt werden, denn das würde das Spiel verderben. Channel 4 hat ein Team von Hellsehern aufgefordert, den einen Wagen mit dem Mann im Kofferraum zu finden.

Das ist genau die Ablenkung, die ich brauche, um mich auf das Einfädeln zu konzentrieren. Immer wieder blicke ich zum Fernseher hinüber, während es den Hellsehern nacheinander ganz, fast oder überhaupt nicht gelingt, den Mann zu finden. Auf selbstgefällige und verärgerte Hellseher folgen Werbeunterbrechungen und kleine Psychotests für uns, die Zuschauer zu Hause. Ich steche die Nadel in den Stoff und ziehe sie wieder heraus, dabei mache ich alle Tests und erreiche zwei von zehn Punkten. Was hatte ich auch erwartet? Noch nie habe ich die geringste übersinnliche Begabung verspürt. Zu diesem Zeitpunkt sitzt der Knopf mehr oder weniger fest. Also gehe ich zu Bett.

Also, genau genommen gehe ich nicht zu Bett. Zwar habe ich es vor, aber auf dem Weg ins Schlafzimmer gebe ich bei Google den Mädchennamen meiner Mutter ein: Rychwalski. Merkwürdigerweise habe ich wirklich keine Ahnung, warum ich diesen Augenblick dafür auswähle. Rychwalski ist ein ungewöhnlicher Name in England, nicht aber in Osteuropa oder in den USA. Schon früher habe ich nach dem Namen gesucht, aber nie zielgerichtet, sondern nur so, als würde ich nach jemand entfernt Bekanntem suchen. Auch wenn mir mein gesunder Menschenverstand sagt, dass sie alle längst tot sein müssen.

Ich scrolle die Ergebnisse durch, bis mich zwei Einträge stutzig machen: Max und Amalie Rychwalski. Meine Großeltern. Verdammt, was haben sie auf meinem Bildschirm verloren? Ich klicke auf den Eintrag und gelange auf die Seite des Berliner Bezirks, in dem sie lebten. Bleibtreustraße 32. Ich lese, dass vor ihrem Wohnblock zwei Stolpersteine in das Straßenpflaster eingelassen wurden. Was zum Teufel sind Stolpersteine?

Ein weiterer Klick. Vor meinen Augen erscheint ein Bild, und ich werde in das Kino der 1950er Jahre zurückversetzt. Ich sehe Charlton Heston als Moses, wie er in dem Film Die zehn Gebote eine heiße Steinplatte aus der Presse Gottes entnimmt. Doch statt mir zehnmal Du sollst nicht zu sagen, lese ich auf der einen Platte:

HIER WOHNTE

AMALIE RYCHWALSKI

GEB. MESERITZ

JG. 1878

DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT

ERMORDET 13. 11. 1942

Und auf der anderen:

HIER WOHNTE

MAX RYCHWALSKI

JG. 1864

DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT

ERMORDET 31. 01. 1943

Schockiert von diesem unerwarteten Treffen mit meinen Großeltern und von dem Wort ermordet, starre ich auf den Bildschirm. Meine Eltern haben es nie verwendet. Gestorben haben sie gesagt, bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen diese Tatsache überhaupt erwähnt wurde. Oder verschwunden. Nicht aber ermordet. Ermordet ist ein brutales Wort.

Man sollte meinen, dass ich nach mehr als fünfzig Jahren an all dies gewöhnt bin. Dass ich mein Leben lebe, die Straßen ganz gelassen entlangschlendere und mich im Geschäft an der Kasse anstelle, ohne dass irgendwelche Gedanken an platt gewalzte Leichen in meinem Kopf aufploppen. Doch plötzlich ist da ein Bild – oder eine Schlagzeile –, oder ich schnappe irgendwo ein paar Worte auf und … wusch! Meine Großeltern tauchen auf.

Ich war elf, als ich die Wahrheit herausfand. Da hatte ich bereits begriffen, dass meine Großeltern mütterlicherseits gestorben sein mussten. Aber ich wusste nicht, wo oder wie, nicht so wie beim Vater meines Vaters, der vor meiner Geburt einen Herzinfarkt erlitten hatte und tot umgefallen war. Da gab es nichts Geheimnisvolles. Er und meine Großmutter väterlicherseits – die Einzige meiner Großeltern, die ich gekannt hatte – hatten es in letzter Sekunde geschafft, aus Deutschland nach England zu fliehen.

»Immerhin sind sie nicht dort umgebracht worden«, hatte meine Mutter angemerkt und damit impliziert, der Tod in einem Konzentrationslager habe verschiedene Abstufungen.

Theresienstadt war ein Durchgangslager. Dort gab es keine Gaskammern, und ihre Eltern waren nicht erschossen worden, also hatte keine einzelne Handlung ihr Leben beendet. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich herausfand, was tatsächlich mit ihnen geschehen war.

Ich eile zu einem seit Langem verschlossenen Schrank, hole eine Kladde mit Papieren der Familie hervor und wühle darin herum, bis ich zwei vergilbte Totenscheine vom Roten Kreuz finde. Zurück am Computer, vergleiche ich die Daten. Sie stimmen genau überein. Dann fällt mir etwas anderes auf: Verlegt am 30. November 2005. Heute ist der 4. Dezember 2005. Ihre Stolpersteine wurden am letzten Mittwoch platziert. Vor nur vier Tagen.

Sehen Sie! Ich glaube ja gern, dass es Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten gibt. Tatsächlich behauptet eine meiner Freundinnen, Vorahnungen in Form von Bildern zu empfangen, aber ich doch nicht. Schon immer bin ich mit beiden Beinen fest auf der Erde gestanden. Vernünftig. Logisch denkend. So war ich schon als Kind, von Geburt an, soweit ich weiß. Sicherlich ist das jetzt nur ein Zufall, oder?

In letzter Zeit habe ich mehr an die Familie meiner Mutter gedacht als in den ganzen Jahren zuvor. Erst letzte Woche holte ich ihre Familienfotos hervor, als könnte mir das Betrachten helfen, irgendetwas zu begreifen. Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, das ich mein ganzes Leben lang hatte und das zuletzt stärker geworden war. Vielleicht würden mir die Fotos diesmal helfen, damit fertigzuwerden. Ich hatte gebannt auf meine Großmutter gestarrt, die kurz vor ihrer Hochzeit ganz in edle weiße Spitze gekleidet war, dem letzten Schrei im Jahr 1903. Auf einem anderen Foto ist mein Großvater in angeregtem Gespräch mit ihr zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt muss er schon über siebzig gewesen sein, mit Bart, dicken Augenbrauen und tiefen Furchen in den Wangen. Sogar unter seinem Homburg sah er aus wie ein Prophet aus dem Alten Testament.

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, war wie ein Eisbrocken, tief in meinem Innern versenkt. Die meiste Zeit bemerkte ich ihn gar nicht. Doch in meiner Jugend überfielen mich hin und wieder Kältewellen. Die Fotos zu betrachten half mir dann, diese Gefühle zu verdrängen. Sie wurden in einer Schuhschachtel in dem Schränkchen unter dem Fernseher aufbewahrt. Von dort holte ich sie mir und breitete eine ganze Großfamilie in Schwarz-Weiß um mich herum aus: Großtanten, Großonkel,...

Erscheint lt. Verlag 29.11.2023
Übersetzer Regina Jooß
Sprache deutsch
Original-Titel Auf den Spuren meiner Familie
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • 2. Weltkrieg • Antisemitismus • Aufarbeitung • Biografie • Biographien • deutsche akademie kinder und jugend literatur • eBooks • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • fit für die zukunft • Flucht und Vertreibung • Geschichte • Großeltern • Gunter Demnig • Heather Morris • hoffnung buchtipp • Holocaust • ihr sollt wissen, dass wir noch da sind • Jüdische Geschichte • Kriegsenkel • Memoir • nachkommen holocaust • Nachkriegsgeneration • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Spurensuche • Stolpersteine • Theresienstadt • Trost • verbrechen faschismus • Weltkrieg
ISBN-10 3-641-29941-1 / 3641299411
ISBN-13 978-3-641-29941-5 / 9783641299415
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