Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen -  Andreas Wernet

Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen (eBook)

Eine Einführung
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
230 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042142-4 (ISBN)
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Dieser Band widmet sich der Bedeutung des Fallverstehens für die erziehungswissenschaftliche Forschung und die pädagogische Praxis. Das Buch veranschaulicht exemplarisch die unterschiedlichen kasuistischen Zugriffsweisen. An Interpretationsbeispielen werden Methodologien, Verfahren und Herangehensweisen in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern (Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung) vor Augen geführt. Dabei kommt den pädagogisch-praktischen Implikationen dieser Forschungsverfahren besondere Aufmerksamkeit zu. Denn die Bedeutung von Hermeneutik, Kasuistik und Fallverstehen stützt vor allem auch auf die berufspraktische Relevanz der so gewonnenen Befunde. In der Neuauflage werden aktuelle kasuistische Positionsbestimmungen diskutiert. Dr. Andreas Wernet hat die Professur für Schulpädagogik mit dem Scherpunkt Schul- und Professionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft (IEW) der Leibniz Universität Hannover inne.

Dr. Andreas Wernet ist Professor für Schulpädagogik an der Leibniz Universität Hannover.

Dr. Andreas Wernet ist Professor für Schulpädagogik an der Leibniz Universität Hannover.

Vorwort zur 2. Auflage


Als dieses Buch 2006 in Erstauflage erschienen ist, konnte es schon auf eine bemerkenswerte Tradition der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Kasuistik zurückgreifen. Gleichwohl war der Begriff noch nicht wirklich etabliert und das Interesse an Kasuistik eher randständig. Es ist wohl vor allem den damaligen Herausgebern der Reihe »Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft« (Werner Helsper, Christian Lüders, Frank-Olaf Radtke, Jochen Kade und Werner Thole) zu verdanken, dass darin überhaupt ein Band unter dem Titel »Kasuistik« aufgenommen wurde.1

Diese Situation hat sich grundlegend geändert. Die Diskussion um Kasuistik – und vor allem um kasuistische Lehrer/innenbildung – hat im deutschsprachigen Raum seither eine erhebliche Intensivierung und Verdichtung erfahren. Das lässt sich an der Vielzahl der Publikationen und der Vielzahl von kasuistischen Tagungen und Workshops ablesen. Hier sei stellvertretend auf die von Irene Pieper u. a. (2014), Merle Hummrich u. a. (2016), Melanie Fabel-Lamla u. a. (2020) und Doris Wittek u. a. (2021) herausgegebenen Sammelbände verwiesen und auf die »Arbeitsgemeinschaft Kasuistik in der Lehrer/innenbildung«, die auf einer von Katharina Kunze und Bernd Stelmaszyk 2014 in Würzburg veranstalteten Tagung ins Leben gerufen wurde und die seither regelmäßige Arbeitstreffen in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland veranstaltet (vgl. http://www.ag-kasuistik.de). Mit guten Gründen könnte man von einer kasuistischen Bewegung sprechen, die sich in dem Diskurs um die Lehrer/innenbildung formiert hat.

Diese kasuistische Bewegung gestaltet sich ausgesprochen vielfältig und facettenreich. Ihr gemeinsamer Nenner stellt das Interesse an einer material gehaltvollen und an der konkreten pädagogischen Praxis orientierten Lehrer/innenbildung dar. Dieses Interesse steht in einer langen Tradition einer exemplarischen, reflektierenden Auseinandersetzung mit der beruflichen Handlungspraxis und der ihr eigenen Phänomene und Problemdimensionen. Gemeinsam ist diesem Interesse das Misstrauen gegenüber den Vorstellungen einer technizistischen Lehrer/innenbildung. Denn wenn die berufliche Handlungspraxis selbst nicht als Technologie beschreibbar ist, kann die berufliche Bildung bzw. Ausbildung schwerlich in der Vermittlung und Aneignung von Technologien bestehen.

Insofern kann das gesteigerte Interesse an einer kasuistischen Lehrer/innenbildung auch als eine Reaktion auf den diskursiven Raumgewinn kompetenztheoretischer Modelle interpretiert werden. Deren Suggestivität beruht auf der einfachen Gleichung, dass der unterrichtlichen Hervorbringung von Kompetenzen die universitäre Hervorbringung von Kompetenzhervorbringungskompetenzen korrespondiert. Das führt notgedrungen zu einer Angleichung der universitären Lehrer/innenbildung an die schulische Praxis.

Es liegt auf der Hand, dass unterrichtstheoretische Modelle, forschungsmethodische Paradigmen und hochschuldidaktische Ansätze in einer wahlverwandtschaftlichen Beziehung zueinander stehen. Sie sind durch »Denkstile« (Fleck 1980) verbunden. So korrespondiert der forschungsmethodische Anspruch der Vermessung unterrichtlicher ›Outcomes‹ (Lehr-Lern-Ergebnisse des Unterrichts) mit einer outcome-orientierten Unterrichtstheorie (Lehr-Lern-Forschung) und mit den Vorstellungen einer outcome-orientierten Lehrer/innenbildung (Kompetenzbildung im Sinne von Lehr-Lern-Ergebnissen der universitären Lehre). Die fallverstehende Rekonstruktion unterrichtlicher Interaktion korrespondiert mit einer ›praxeologischen‹ Unterrichtstheorie und einem praxisreflektierenden Anspruch der Lehrer/innenbildung. Der hermeneutische Forschungszugriff thematisiert die unterrichtliche Praxis als hermeneutische und folgerichtig die Lehrer/innenbildung als einen genuin hermeneutischen Prozess.

Eine grundlegende Vorentscheidung des vorliegenden Buches besteht darin, den hermeneutisch-kasuistischen Standpunkt forschungslogisch zu begründen. Im Kern orientieren sich die vorgetragenen Überlegungen zu einer kasuistischen Lehre nicht an dem Bezugssystem der Hervorbringung von Ergebnissen dieser Lehre, sondern an dem Bezugssystem der Qualität dieser Lehre als performative Praxis. Sie orientieren sich, mit Luhmann gesprochen, nicht an der Zweckprogrammierung, sondern an der konditionalen Programmierung. Die Frage der Kasuistik, so wie sie hier aufgeworfen wird, ist also nicht die Frage danach, was die Kasuistik erreichen oder bewirken kann, sondern welche Orientierungen und Prinzipien sie der Lehre geben kann.

Auf diese Frage gibt dieses Buch im Sinne einer Positionsbestimmung eine eindeutige Antwort: Die heutige Kasuistik wird als ein Prozess der Transformation beschrieben, der sich in dem Selbstverständnis und Selbstanspruch erziehungswissenschaftlicher Forschung und Lehre unter dem Einfluss der Entwicklung qualitativer Forschungsmethoden vollzieht. Diese vor allem durch sozialwissenschaftliche Forschungen getragene Methodenentwicklung ist für die Erziehungswissenschaft auch deshalb folgenreich, weil sie anschlussfähig ist an Traditionen pädagogischen Denkens; nämlich an die Tradition einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik und an die Tradition einer gedanklichen Auseinandersetzung mit konkreten pädagogischen Kontexten und Handlungssituationen. Beiden Traditionen wohnt ein wirklichkeitswissenschaftliches Moment inne, das sich zwar artikuliert, das aber im immanenten Rahmen dieser Traditionen nicht entwicklungsfähig ist. Erst der Kontakt mit sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen führt zu einer ›Entfesselung‹ des wirklichkeitswissenschaftlichen Moments; einer Autonomisierung wissenschaftlicher Geltungsansprüche gegenüber den tradierten normativen und praktischen Ansprüchen.

Dieser Prozess wird in diesem Buch als Transformation einer geistes- in eine wirklichkeitswissenschaftliche Hermeneutik (▸ Kap. 2) und als Transformation der illustrativen in eine rekonstruktive Kasuistik (▸ Kap. 3) beschrieben. Diese Beschreibung beruht auf der Annahme komplementärer Bewegungen. Während sich die hermeneutische Tradition damit schwer tut, ihre methodische Ernsthaftigkeit und Diszipliniertheit (»den Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat«; vgl. S. 50), die sie an der Auseinandersetzung mit ›außeralltäglichen‹ und ›heiligen‹ Texten gebildet hat, auf die ›profanen‹ Texte der alltäglichen Interaktion anzuwenden, tut sich die kasuistisch konkrete und exemplarische Tradition damit schwer, ihren empirischen, an der Konkretion interessierten Blick methodisch zu disziplinieren. Dem Empiriedefizit der hermeneutischen Tradition steht ein Methodendefizit der kasuistischen Tradition gegenüber. Vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Methodenentwicklung löst sich diese Spannung auf. Die wirklichkeitswissenschaftliche Transformation der hermeneutischen Tradition geht Hand in Hand mit der forschungsmethodischen Transformation der konkret-exemplarischen Tradition.

Damit ist der Rahmen eines empirisch begründeten, methodisch kontrollierten Forschungsverständnisses abgesteckt, der im heutigen Wissenschaftsverständnis eigentlich nicht zur Disposition steht. Diese wissenschaftlich nicht hintergehbare Orientierung an Geltungsansprüchen stellt aber natürlich nicht nur für die wissenschaftliche Forschung ein verbindliches Bezugssystem dar; sie stellt auch für die universitäre Lehre einen verbindlichen Orientierungsrahmen dar. Denn universitäre Lehre ist zuallererst und wesentlich die Lehre der universitär institutionalisierten Wissenschaften. Die kasuistische Lehre ist insofern zunächst nichts anderes als die Lehre, die einem hermeneutisch-fallverstehenden Forschungsverständnis folgt und damit diesen erziehungswissenschaflichen Teilbereich in der universitären Lehre repräsentiert.

Die kasuistische Bewegung bezieht ihre Antriebsenergie aber nicht aus dem Zusammenhang zwischen einer wissenschaftsparadigmatischen Position und ihrem Niederschlag in der wissenschaftlichen Lehre. Dieser Zusammenhang, der in allen universitären Disziplinen anzutreffen ist, ist auch nicht dazu geeignet, eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die ›Attraktivität‹ der Kasuistik beruht nicht darauf, dem Wissenschaftsanspruch der universitären Lehre Geltung zu verschaffen; sie beruht darauf, mit dem ihr eigenen Wissenschaftsanspruch zugleich den Praxisanspruch der Lehre zu befriedigen.

Denn die universitäre Lehre, die im Kontext pädagogisch-berufsorientierter Studiengänge erfolgt – und das gilt in besonderem Maße für das Lehramtsstudium –, ist dem Anspruch der beruflichen Qualifizierung im Studium ausgesetzt. Damit wird die universitäre Lehre unter ganz andere Ansprüche als die genuin und immanent wissenschaftlich einzulösenden gestellt. Dieser doppelte Anspruch, der die Erziehungswissenschaft schon in ihrer universitär-disziplinären Institutionalisierung begleitet und der sich in der terminologischen Unterscheidung von Pädagogik und Erziehungswissenschaft reproduziert (ausführlich dazu König 2021), führt zu einem nicht stillstellbaren Dauerproblem, das nach...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Christiane Thompson, Jörg Dinkelaker, Merle Hummrich, Wolfgang Meseth, Sascha Neumann
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Didaktik • Fallverstehen • Kasuistik • Pädagogisches Denken
ISBN-10 3-17-042142-5 / 3170421425
ISBN-13 978-3-17-042142-4 / 9783170421424
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