Wir müssen die Liebe neu erfinden -  Mona Chollet

Wir müssen die Liebe neu erfinden (eBook)

Wie das Patriarchat heterosexuelle Beziehungen sabotiert

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
320 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8291-5 (ISBN)
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Unsere gesamte Kulturgeschichte ist durchdrungen von Darstellungen idealtypischer Paarbeziehungen, die - direkt oder unterschwellig - eine weibliche Unterlegenheit inszenieren. Es sind Bilder, die suggerieren, dass die Frau nur durch Unterwerfung romantische Erfüllung erlangen kann. Diese gesellschaftliche Konditionierung impft Frauen und Männern die Überzeugung ein, dass Männern alles zusteht, während von Frauen Selbstlosigkeit und Hingabe erwartet werden. Durch das erzwungene Leugnen eigener Interessen, Bedürfnisse und Wünsche wird das Selbstvertrauen der Frauen untergraben. Dieses Machtungleichgewicht kann in physischer und psychischer Gewalt gipfeln. Und auch was die Sexualität anbelangt, wird das Begehren weiterhin von männlichen Fantasien dominiert. Mona Chollet führt uns vor Augen, dass unsere romantischen Vorstellungen stets auf der Unterordnung der Frauen basieren. Anschaulich und präzise legt sie dar, was dies für heterosexuelle Beziehungen bedeutet.

MONA CHOLLET, geboren 1973, lebt in Paris. Sie hat für ARTE Radio gearbeitet und ist heute Redakteurin bei Le Monde diplomatique. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, u. a. >Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen< (2018), das sich in Frankreich 350 000-mal verkaufte und 2020 auf Deutsch erschien.

EINLEITUNG: DIE ILLUSION EINER OASE


Für mein erstes Smartphone habe ich einst ein Hintergrundbild ausgewählt, das mich seitdem begleitet: eine indische Miniatur von 1830 mit dem Titel A Lady Comes to her Lover’s House in a Rainstorm.1 Darauf ist eine Frau abgebildet, die im Regen einen Garten durchquert und auf das Haus ihres Geliebten zueilt. Die Farben sind prächtig. Der Sari der Frau leuchtet orangerot; einen Teil des Stoffes hält sie sich mit beiden Händen zum Schutz über den Kopf. Der Mann, der ihr von einem überdachten Balkon aus ein Zeichen gibt, trägt weiße, ins Rosa tendierende Kleidung. Das Gras, ein im Wind gebeugter Baum, die Berge im Hintergrund sind blassgrün; die Gewitterwolke, durch die sich ein Blitz schlängelt, ist tiefschwarz. Das Bild hält einen Moment fest, in dem Naturgewalten die Geliebte vor sich hertreiben, doch ist sie schon fast am Ziel. Gleich wird sie in Sicherheit sein. Sie wird ihr durchnässtes Kleid ausziehen, sich trocknen und aufwärmen, die Gerüche des Zimmers einatmen, sie wird bei dem Mann sein, den sie begehrt, ihn in ihre Arme schließen und sich mit ihm auf dem Bett wälzen. Ich stelle mir vor, wie sie sich beeilt, wie die kalten Regentropfen auf ihr Gesicht und ihre Unterarme fallen, wie ihr Herz rast.

Da ich dieses Bild täglich vor Augen habe, denke ich nicht mehr viel über seine Bedeutung nach. Es begleitet mich, wie ein Bildschirmhintergrund es nun einmal tut, und es erinnert mich daran, dass es die Liebe gibt, dass sie möglich ist. Wenn ich verliebt bin, habe ich das Gefühl, intensiver und wahrhaftiger zu leben, das Leben in volleren Zügen zu genießen – und ganz ähnlich geht es mir beim Schreiben. Wie die Liebe hilft mir auch das Schreiben, mich mit der Welt zu vereinen. »Das Liebesglück«, schreibt der Philosoph Alain Badiou, »ist der Beweis, dass die Zeit die Ewigkeit aufnehmen kann.«2 Und Annie Ernaux fasst in Eine vollkommene Leidenschaft ihre Beziehung zu A. wie folgt zusammen: »Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mich der Grenze, die mich von einem anderen Menschen trennt, so weit genähert habe, dass ich mir manchmal vorgestellt habe, sie überwinden zu können. Ich habe die Zeit anders gemessen, mit meinem ganzen Körper.«3

In unserem Sozial- und Berufsleben haben wir es täglich mit Menschen zu tun, die uns sympathisch oder gleichgültig sind, die uns langweilen, ärgern oder sogar Hassgefühle in uns auslösen. Wir finden uns mit diesen widersprüchlichen Gefühlen ab, mit der Oberflächlichkeit vieler zwischenmenschlicher Beziehungen und der Einsamkeit, die daraus resultieren kann. Manchmal tut sich jedoch Verblüffendes auf: Gerade wenn wir es am wenigsten erwarten, meint das Schicksal es gut mit uns. Wir stehen einer Person gegenüber, die wir erst seit ein paar Sekunden kennen – oder auch seit einigen Tagen, manchmal sogar seit mehreren Jahren –, und mit einem Mal lüftet sich leise raschelnd ein Schleier und kündigt an, dass bald und unausweichlich auch unsere Kleider zu Boden fallen werden. Wir haben das Gefühl, diese andere Person vollumfänglich zu verstehen, genauso, wie sie uns versteht und verzaubert. Sie erscheint uns zu schön, um wahr zu sein; die gesamte Situation wirkt wie ein berauschendes Geschenk des Himmels. Wir fühlen eine tiefe Verbundenheit, und dieser Urknall der Gefühle setzt so viel Energie in uns frei, dass wir dreimal um die Welt sprinten könnten.

Indem sie zwei Personen miteinander vereint, verflicht die Liebe ihrer beider Lebenserfahrungen, Geschichten und Ressourcen, ihr Erbe, ihre Art, das Leben zu genießen, ihre Freundinnen und Freunde und ihre Herkunftsländer. Sie vervielfacht die Verbindungen und Möglichkeiten; in unserem Inneren gehen Türen auf, von deren Existenz wir nichts geahnt haben. Die Liebe schenkt uns die Gelegenheit, unser Leben zu erneuern.

Vor mehr als dreißig Jahren, an einem Frühlingstag in Cannes, hat meine Freundin K. sich getraut, den jungen, dunkelhaarigen Mann, der ihr schon seit Tagen schmachtende Blicke aus der Ferne zugeworfen hatte, auf einen Kaffee einzuladen. Sie waren beide als Filmkritiker beim Festival akkreditiert. (Kann es einen besseren Ort für solch eine Begegnung geben?) Sie begannen, sich auf Englisch zu unterhalten, und ich weiß nicht, ob ihr bewusst war, welche Welt sich ihr in dem Moment eröffnete, als er sagte, er komme aus Griechenland. Sie war noch nie dort gewesen und hatte sich nie sonderlich für dieses Land interessiert. Nun stand sie aber kurz davor, es zu entdecken und sich dafür zu erwärmen, die Sprache zu erlernen und sieben Jahre ihres Lebens in Griechenland zu verbringen. Auch nach der Scheidung würde sie jedes Jahr hinreisen und sich schließlich dort ein Haus kaufen. Sie würde diesem Land eine neue Bürgerin schenken, ein kleines Mädchen, das an jenem Tag in Cannes zuckend auf seiner kleinen virtuellen Wolke schlummerte, während seine zukünftigen Eltern sich zum ersten Mal in einem Café trafen und miteinander sprachen.

Während der Premiere ihrer Performance The Artist Is Present von 2010 im New Yorker Museum of Modern Art zeigte Marina Abramović auf unvergleichliche Weise, wie die Liebe Spuren in unserem Leben hinterlässt: Abramović saß in einem langen, knallroten Kleid auf einem Stuhl an einem Tisch. Ihr gegenüber stand ein weiterer Stuhl, ansonsten war der große Raum leer. Die Besucherinnen und Besucher zogen vorbei, manche nahmen auf dem Stuhl Platz, hielten schweigend ihrem Blick stand und gingen dann weiter. Ohne dass man sie vorgewarnt hätte, setzte sich auch der Künstler Ulay (grauer Bart, Sportschuhe, schwarzer Anzug), ihr ehemaliger Geliebter und Performance-Partner, an den Tisch. Als sie den Kopf hob und ihn erblickte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie ließ ihnen freien Lauf. Die beiden hatten sich seit 1988 nicht mehr gesehen, seit sie, aus entgegengesetzten Richtungen kommend, jeweils die Hälfte der Chinesischen Mauer entlanggegangen waren, um sich in der Mitte zu treffen – und sich voneinander zu verabschieden (ursprünglich hatten sie dort heiraten wollen, aber bis sie alle nötigen Papiere beisammengehabt hatten …). In ihrem stillen Austausch an jenem Abend in New York, in ihren Blicken, in den Bewegungen ihrer Köpfe und Augenlider, im Andeuten eines Lächelns ließen sich Nostalgie, Zärtlichkeit und Bedauern erkennen. Entgegen dem Protokoll, das sie für die Performance festgelegt hatte, beugte sich Marina Abramović vor und hielt Ulay ihre Hände entgegen. Er ergriff sie, und so hielten sie sich über den Tisch hinweg gegenseitig fest, während aus dem Publikum Beifall und Jubel erklangen. Einige Jahre später sollte Ulay seine Ex-Partnerin wegen eines gemeinsamen Werks verklagen und den Urheberrechtsprozess gewinnen; vor seinem Tod am 2. März 2020 konnten sie sich jedoch wieder versöhnen.

Den großen Sprung wagen


Am liebsten würde ich ausschließlich so über die Liebe sprechen, immer nur die schönsten mir bekannten Geschichten aneinanderreihen. Zwischen Eros und Erzähltrieb besteht eine enge Verbindung, und einer guten Geschichte konnte ich noch nie widerstehen. Verliebt man sich, hat man das Gefühl, sich auf einer Buchseite oder einem Bildschirm wiederzufinden: Man erkennt im eigenen Leben all die großartigen Mechanismen und Entwicklungen, die sich für gewöhnlich Autorinnen und Autoren von (Dreh-)Büchern ausdenken. Wenn ich mich dem Schluss von Romanen oder Serien nähere, die mich tage- oder wochenlang so gefesselt haben, dass ich entscheiden musste, ob ich sie am Stück verschlinge oder mich mit kleinen Portionen zufriedengebe, um länger etwas davon zu haben, überkommen mich in gewisser Weise ähnliche Trennungs- und Verlustängste wie am Ende einer Liebesbeziehung: Ich empfinde Sehnsucht, habe den Eindruck, eine verzauberte Welt zu verlassen, eine Art Privileg zu verlieren und in einen öden und belanglosen Alltag zurückkehren zu müssen. Es ist, als wäre die Schonfrist vorbei, die mich vor allen Härten und Verletzungen im Leben geschützt hat.

Sehr gerne würde ich von der Liebe wie von einer eigenen Welt sprechen können, einer Oase, einem Tempel. Aber das heile Bild hat mit der Zeit immer mehr Risse bekommen. Ob es sich nun um Fälle empörender Unterdrückung handelt oder um völliges Unverständnis, das zwar weniger tragisch ist, in einer Partnerschaft jedoch sehr frustrierend sein kann: Ich habe über einen längeren Zeitraum viele verschiedene Situationen beobachtet – ganz allgemein in der Gesellschaft, aber ebenso in meinem direkten Umfeld und eigenen Leben –, und diese Erfahrungen verstärkten meinen Wunsch, der heterosexuellen Liebe und den damit verbundenen Problemen näher auf den Grund zu gehen.

In meiner Jugend konnte nichts und niemand meiner idyllischen Vorstellung von Liebe etwas anhaben, die ich aus Filmen und Romanen gewonnen hatte. Lange Zeit habe ich mich der Illusion hingegeben, dass Themen wie Ungleichheit, Macht und Gewalt in unserem Liebesleben keine Rolle spielten. Die Einsicht, dass sie uns durchaus betreffen können, und zwar gerade dort, wo sich unsere geheimsten Wünsche konzentrieren, wo wir am verletzlichsten sind, ist sehr beängstigend und destabilisierend. Allein im Jahr 2020 wurden in Frankreich 98 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.4 Die Vorstellung, dass viele dieser Frauen glücklich und hoffnungsvoll gewesen sind, als sie demjenigen begegneten, der ihnen später zunächst nachstellen und sie dann töten sollte, ist besonders verstörend.

Frauen, die den Feminismus für sich entdeckt haben, ziehen häufig eine Parallele zu der Filmszene aus Matrix, in der sich Neo (gespielt von Keanu Reeves) für die rote Pille der Wahrheit entscheidet, die ihn in die...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2023
Übersetzer Norma Cassau
Sprache deutsch
Original-Titel Réinventer l’amour. Comment le patriarcat sabote les relations hétérosexuelles
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Geisteswissenschaften Psychologie Entwicklungspsychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Sexualität / Partnerschaft
Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alain Badiou • Albert Cohen • Amandine Dhée • Annie Ernaux • Begehren • bell hooks • Bertrand Cantat • Beziehung • Bilder • Bürgerliche Moral • Debatte • Dominanz • Ehe • Erfüllung • Erotik • Eva Illouz • Feminismus • Feministisch • Feminizide • Film • Flirten • Frau • Gefühle • Gesellschaft • Häusliche Gewalt • Heterosexualität • Heterosexuell • Homosexualität • Illusion • Jane Birkin • Keanu Reeves • Klischees • Konditionierung • kultureller Hintergrund • Lesbisch • Liebe • Liebesglück • Liebesleben • liv strömquist • Machismus • Macht • Mann • Männlich • Marie Trintignant • Marina Abramovićs • Mary Wollstonecraft • misogyny • Öffentlichkeit • orgasm gap • Partner • Patriarchat • Perversion • Queer • Roman • Schönheit • Serge Gainsbourg • Serie • Sex • Sexualität • Sisterhood • Solidarität • Soziale Normen • System • Treue • Unabhängigkeit • Ungleichheit • Unterwerfung • Vergewaltigung • Vorbilder • Weiblich
ISBN-10 3-8321-8291-8 / 3832182918
ISBN-13 978-3-8321-8291-5 / 9783832182915
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