Tokio, neue Stadt -  David Peace

Tokio, neue Stadt (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
432 Seiten
Verlagsbuchhandlung Liebeskind
978-3-95438-133-3 (ISBN)
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Tokio, 5. Juli 1949. Sadanori Shimoyama, Präsident der Nationalen Japanischen Eisenbahngesellschaft, verschwindet spurlos - einen Tag nachdem er die Entlassung von 30.000 Angestellten verkünden musste. Die amerikanischen Besatzer führen in dem kriegsversehrten, gedemütigten Land umfassende Reformen durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Auf den Straßen herrschen Gewalt und Chaos, die Kommunisten gewinnen an Einfluss, was die Amerikaner mit allen Mitteln verhindern wollen. Detective Harry Sweeney aus der Abteilung für öffentliche Sicherheit leitet die Vermisstensuche, auf direkten Befehl von General MacArthurs Hauptquartier. Doch dann wird der verstümmelte Leichnam Shimoyamas gefunden. Der Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft wurde von einem Zug überrollt. Hat er Selbstmord begangen, aus Verzweiflung darüber, Abertausende Menschen ins Elend zu stürzen? Oder waren die Kommunisten für seinen Tod verantwortlich? Der Krieg ist vorbei, aber die dunklen Schatten der Vergangenheit werden immer länger ...

David Peace wurde 1967 in Yorkshire geboren. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem James Tait Black Memorial Prize, dem Grand Prix du Roman Noir und zwei Mal mit dem Deutschen Krimi Preis. Er wurde als einziger Krimischriftsteller in die renommierte 'Granta's List of Best Young British Novelists' aufgenommen. David Peace lebt mit seiner Familie in Tokio.

David Peace wurde 1967 in Yorkshire geboren. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem James Tait Black Memorial Prize, dem Grand Prix du Roman Noir und zwei Mal mit dem Deutschen Krimi Preis. Er wurde als einziger Krimischriftsteller in die renommierte "Granta's List of Best Young British Novelists" aufgenommen. David Peace lebt mit seiner Familie in Tokio.

1


DER ERSTE TAG


5. Juli 1949

Die Besatzungsmacht hatte einen Kater, und doch ging sie zur Arbeit: mit grauem Bartschatten und klammen Schweißflecken, auf Hacken und Sohlen die Flure hinauf und hinunter, Toiletten spülten, Wasser lief, Türen gingen auf und zu, Schränke und Schubladen, Fenster waren weit geöffnet, Ventilatoren kreisten, Füllfederhalter kratzten, Schreibmaschinen klapperten, Telefone klingelten, und eine Stimme rief: Für dich, Harry.

Im vierten Stock des NYK-Gebäudes, in dem riesigen Büro von Zimmer 432 der PSD, drehte sich Harry Sweeney an der Tür um, kehrte an seinen Schreibtisch zurück, nickte Bill Betz dankend zu, nahm ihm den Hörer ab, führte ihn ans Ohr und sagte: Hallo.

Polizeiermittler Sweeney?

Ja, am Apparat.

Zu spät, flüsterte die Stimme eines Japaners, dann war sie verschwunden, die Leitung tot, die Verbindung unterbrochen.

Harry Sweeney legte auf, nahm einen Stift vom Schreibtisch, schaute auf seine Uhr und schrieb Uhrzeit und Datum auf einen Block gelbes Papier: 9.45 Uhr, 5. Juli. Er nahm den Hörer ab und sprach mit der Telefonzentrale: Ich wurde gerade unterbrochen. Können Sie mir die Nummer geben?

Einen Augenblick, bitte.

Danke.

Hallo. Ich habe die Nummer für Sie, Sir. Soll ich Sie verbinden?

Bitte.

Es klingelt, Sir.

Danke, sagte Harry Sweeney, lauschte dem Klingeln, dann …

Coffee Shop Hong Kong, sagte die Stimme einer Japanerin. Hallo? Hallo?

Harry Sweeney legte wieder auf. Dann nahm er den Stift und schrieb den Namen des Coffee Shops auf, dazu Uhrzeit und Datum. Er ging zu Betz’ Schreibtisch: He, Bill. Der Anrufer gerade eben? Was hat er gesagt?

Er hat nach dir gefragt. Warum?

Mit Namen?

Ja, warum?

Ach, nichts. Er hat aufgelegt, das ist alles.

Vielleicht habe ich ihn verschreckt? Sorry.

Nein. Danke, dass du drangegangen bist.

Hast du dir die Nummer geben lassen?

Ein Café namens Hong Kong. Kennst du das?

Nein, aber Toda vielleicht. Frag ihn.

Er ist noch nicht da. Keine Ahnung, wo er steckt.

Du machst Witze, lachte Bill Betz. Jetzt sag mir nicht, der kleine Mistkerl ist verschwunden und hat sich einen Kater angetrunken.

Harry Sweeney lächelte: Wie alle guten Patrioten. Macht nichts, vergiss es. Schnapsidee. Ich muss los.

Du Glückspilz. Wo geht’s denn hin?

Ich nehme die Genossen Kriegsheimkehrer in Empfang, am Bahnhof. Befehl vom Colonel. Willst du mitkommen und dir ein paar Kommunistenlieder anhören?

Ich glaub, ich bleib einfach hier im Kühlen, entgegnete Betz lachend. Die Roten überlass ich dir, Harry. Kannst sie alle behalten.

Harry Sweeney bestellte einen Dienstwagen, rauchte eine Zigarette und trank ein Glas Wasser, dann nahm er Jackett und Hut und ging die Treppe hinunter in die Empfangshalle. Er kaufte eine Zeitung, blätterte sie durch und überflog die Schlagzeilen: OBERBEFEHLSHABER DER ALLIIERTEN BRANDMARKT KOMMUNISMUS ALS INTERNATIONAL GEÄCHTET: JAPAN IST EIN BOLLWERK / VON ROTEN GELENKTE UNRUHESTIFTER SORGEN FÜR AUFRUHR IN NORDJAPAN / ROTER GEWERKSCHAFTER VERHAFTET / NATIONALE EISENBAHNERGEWERKSCHAFT BEREITET SICH AUF DROHENDEN KONFLIKT VOR: JAPANS NATIONALE EISENBAHNGESELLSCHAFT STEHT VOR MASSENENTLASSUNGEN / SABOTAGEAKTE GEHEN WEITER / KRIEGSHEIMKEHRER WERDEN HEUTE IN TOKIO ERWARTET.

Sweeney blickte auf und sah, dass sein Wagen draußen am Straßenrand wartete. Er faltete seine Zeitung zusammen und trat aus dem Gebäude hinaus in die Hitze und das Licht. Er stieg hinten ein, erkannte aber den Fahrer nicht: Wo ist Ichirō heute?

Ich weiß nicht, Sir. Ich bin neu, Sir.

Wie heißt du, Junge?

Shintarō, Sir.

Okay, Shin, wir fahren zum Bahnhof Ueno.

Danke, Sir, sagte der Fahrer. Er nahm den Bleistift, der hinter seinem Ohr steckte, und schrieb auf die Fahrtenkarte.

Und noch was, Shin.

Ja, Sir?

Kurbel das Fenster runter und mach das Radio an, okay? Ein bisschen Musik für unterwegs.

Ja, Sir. Sehr gut, Sir.

Danke, Junge, sagte Sweeney, kurbelte sein eigenes Fenster herunter, zog ein Taschentuch aus der Tasche, wischte sich über Nacken und Gesicht, lehnte sich zurück und schloss die Augen zu den Klängen einer vertrauten Symphonie, auf deren Titel er gerade nicht kam.

Zu spät, rief Harry Sweeney, hellwach und mit aufgerissenen Augen. Er setzte sich auf, sein Herz raste, er hatte Spucke am Kinn und eine schweißnasse Brust. Himmel.

Entschuldigung, Sir, sagte der Fahrer. Wir sind da.

Harry Sweeney wischte sich Mund und Kinn ab, löste das Hemd von der Haut und schaute zum Fenster raus: Der Fahrer hatte unter der Eisenbahnbrücke zwischen Markt und Bahnhof gehalten, der Wagen war von Menschen umringt, die in alle Himmelsrichtungen unterwegs waren, und der Fahrer schaute nervös in den Rückspiegel und beobachtete seinen Passagier.

Harry Sweeney lächelte, zwinkerte, öffnete die Tür und stieg aus. Er beugte sich vor und sprach zu dem Fahrer: Warte hier, Junge. Egal, wie lange ich weg bin.

Ja, Sir.

Harry Sweeney wischte sich erneut über Gesicht und Nacken, setzte den Hut auf und suchte nach seinen Zigaretten. Er zündete sich eine an und reichte dem Fahrer zwei durchs offene Fenster.

Danke, Sir. Danke.

Gern geschehen, Junge, sagte Harry Sweeney und machte sich durch die Menschenmenge hindurch auf den Weg in den Bahnhof. Die Menge teilte sich, als die Menschen sahen, wer er war: ein großer, weißer Amerikaner …

Die Besatzungsmacht.

Er marschierte durch die riesige Bahnhofshalle, durch das Gedränge aus Leibern und Taschen, den Nebel aus Hitze und Qualm, den Gestank aus Schweiß und Salz, marschierte direkt zur Bahnsteigsperre. Er zeigte dem Fahrkartenschaffner seine Dienstmarke und ging weiter zu den Gleisen. Er sah die knallroten Flaggen und von Hand gemalten Banner der Japanischen Kommunistischen Partei und wusste, welcher Bahnsteig der richtige war.

Harry Sweeney stand auf dem Bahnsteig, im Schatten, im Hintergrund, wischte sich über Gesicht und Nacken, wedelte sich mit dem Hut Luft zu, rauchte, schlug nach den Mücken und überragte die wartende Menge von Japanerinnen: Mütter und Schwestern, Ehefrauen und Töchter. Er sah zu, wie der lange schwarze Zug einfuhr. Er spürte, wie die Menge erst auf Zehenspitzen stand und dann den Eisenbahnwaggons entgegenbrandete. Er konnte die Gesichter der Männer in den Fenstern und Türen der Waggons sehen; Gesichter von Männern, die vier Jahre als Kriegsgefangene in Sibirien verbracht hatten; vier Jahre Beichten und Bußen; vier Jahre Umerziehung und Indoktrinierung; vier Jahre harte, brutale, gnadenlose Arbeit. Das waren die Glücklichen; diejenigen, die nicht im August 1945 in der Mandschurei niedergemetzelt worden waren; diejenigen, die nicht gezwungen worden waren, für eine der beiden chinesischen Seiten zu kämpfen und zu sterben; diejenigen, die nicht im ersten Nachkriegswinter verhungert waren; diejenigen, die nicht während der Pockenepidemie im April 1946 gestorben waren, nicht an Typhus im Mai oder an der Cholera im Juni; dies waren einige der 1,7 Millionen Glücklichen, die der Sowjetunion in die Hände gefallen waren; einige der einen Million sehr Glücklichen, die die Sowjets nun entlassen und zurückgeschickt hatten.

Harry Sweeney schaute zu, wie diese Glücklichen aus dem langen schwarzen Zug stiegen und ihren Müttern und Schwestern, ihren Ehefrauen und Töchtern in Arme und Tränen fielen. Er sah, dass ihre Augen leer waren oder voller Scham, während sie sich nach ihren Kameraden umschauten. Er sah, wie sich ihre Blicke von ihren Familien lösten und sich auf ihre Genossen richteten. Er sah, wie sich ihre Münder bewegten und zu singen begannen. Er beobachtete die Mütter und Schwestern, Ehefrauen und Töchter, die vor ihren Söhnen und Brüdern, Männern und Vätern zurückwichen, die Hände sinken ließen und mit tränennassen Wangen stumm dastanden, während das Lied, das die Männer sangen, lauter und immer lauter wurde.

Harry Sweeney kannte das Lied, den Text und die Melodie: Die Internationale.

Kaum hatte Harry Sweeney Zimmer 432 betreten, packte Bill Betz ihn am Arm und drängte ihn wieder zur Tür hinaus und den Flur entlang: Wo zum Teufel bist du gewesen, Harry, flüsterte er, was verdammt noch mal hast du die ganze Zeit getrieben? Shimoyama wird vermisst, und hier ist die Hölle los.

Shimoyama? Der Eisenbahner?

Ja, der Eisenbahner, der verfluchte Präsident der Eisenbahngesellschaft, flüsterte Betz und blieb vor der Tür zu Zimmer 402 stehen. Der Chief sitzt gerade beim Colonel. Sie fragen schon seit einer Stunde nach dir.

Betz klopfte zweimal an die Tür zum Büro des Colonels.

Er hörte jemanden Herein rufen, öffnete die Tür und trat vor Harry Sweeney ein.

Colonel Pullman saß hinter seinem Schreibtisch, mit Chief Evans und Lieutenant Colonel Batty vor sich. Toda war ebenfalls anwesend und stand mit einem hellgelben Schreibblock in der Hand hinter Chief Evans. Er drehte sich um und nickte Harry Sweeney zu.

Tut mir leid, dass ich zu spät komme, sagte Harry Sweeney. Ich war am Bahnhof Ueno. Ein neuer Zug mit Kriegsheimkehrern ist eingetroffen.

Nun, jetzt sind Sie ja hier, sagte der Colonel. Ein Vermisster weniger. Hat Mr. Betz...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2021
Übersetzer Peter Torberg
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Japan • Komplott • Krimi • Mord • Nachkriegszeit • Tokio
ISBN-10 3-95438-133-8 / 3954381338
ISBN-13 978-3-95438-133-3 / 9783954381333
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