Das Paradies meines Nachbarn (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
224 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25539-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Paradies meines Nachbarn -  Nava Ebrahimi
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Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2021
»Salam, hier schreibt Ali-Reza. Ich kannte ihre Mutter gut und verfüge über einen Brief, den ich Ihnen überreichen soll. Es ist wichtig. Für Sie mindestens so sehr wie für mich.«

Ali Najjar glaubt, seine Vergangenheit weit hinter sich gelassen zu haben. Er ist längst in Deutschland angekommen, als Produktdesigner erfolgreich. Der Iran, Teheran, seine Familie sind für ihn eine fremde Welt. Dann erreicht ihn die Nachricht eines Unbekannten. Und alles, woran er bislang festgehalten hat, gerät ins Wanken.

  • »Du trägst keine Schuld, und du trägst sie doch. Ich schätze, das heißt es, zu leben.«
  • Eine der aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur.
  • Über das Fremde in uns selbst und über die Verantwortung, die wir für andere haben.
  • Vielfach preisgekrönte Autorin: zuletzt Debütpreis/Österreichischer Buchpreis.


Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, zählt zu den aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Sie erhielt 2021 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Für »Sechzehn Wörter« wurde sie mit dem Österreichischen Buchpreis, Kategorie Debüt, sowie dem Morgenstern-Preis ausgezeichnet. Nava Ebrahimi studierte Journalismus und Volkswirtschaftslehre in Köln und arbeitete als Redakteurin bei der Financial Times Deutschland sowie der Kölner Stadtrevue. Sie war Finalistin des Open Mike und Teilnehmerin an der Bayerischen Akademie des Schreibens. Nava Ebrahimi lebt mit ihrer Familie in Graz.

ALI NAJJAR ENTLIESS AM NÄCHSTEN TAG ALLE, die er sofort entlassen konnte. Praktikanten und Angestellte in der Probezeit. Dafür kamen zwei Designer aus seiner alten Agentur. Zumindest äußerlich und nach einigen Minuten Smalltalk an der Kaffeemaschine wirkten diese nicht progressiver, nicht einmal mutiger oder wenigstens selbstbewusster, wie die Kollegen einhellig in der WhatsApp-Gruppe befanden. Sina ausgenommen, er stand nicht auf diese Art der Selbstvergewisserung. Stattdessen starrte er die folgenden zwei Tage auf den Bildschirm und schraubte gelegentlich an dem Entwurf eines Smoothie-Makers herum, damit nicht allzu sehr auffiel, dass er nichts zustande brachte. Zwischendurch tat er so, als würde er sich intensiv mit dem Briefing auseinandersetzen. Dabei kannte er die Anforderungen auswendig: Smoothie-Maker für ernährungsbewusste Konsumenten, vornehmlich Frauen, die ihn sich zusätzlich zu einem gewöhnlichen Standmixer anschaffen sollten, daher sollte er deutlich von einem solchen zu unterscheiden sein und Assoziationen an eine schlanke Frauenfigur wecken. Doch alles, was Sina modellierte, hatte etwas Phallusartiges.

Einmal blieb Ali Najjar mit einer Butterbrezel hinter ihm stehen und blickte auf seinen Bildschirm. Sinas Puls schoss in die Höhe. Ali Najjar stand so nah, er konnte ihn kauen hören. Um irgendetwas zu tun, drehte Sina sich auf dem Bürostuhl um. Er schaute zu seinem Chef hinauf, bereute sogleich, sich umgedreht zu haben, und bemühte sich, diese Position möglichst souverän auszuhalten. Ali Najjar biss von der Brezel ab, kaute, betrachtete das Modell des Smoothie-Makers. Zog die Augenbrauen zusammen. Biss ab, kaute. Schluckte. Seine Lippen glänzten von der Butter.

»Geil«, sagte er, »einfach nur geil.« Er deutete auf die angebissene Butterbrezel in seiner Hand. »Kenne ich aus Berlin gar nicht.«

Ali Najjar ging weiter. Sinas Puls normalisierte sich. Er arbeitete seit fünfzehn Jahren in diesem Beruf und verfügte über eine gewisse Autorität. Hatte zumindest darüber verfügt. Er kannte seine Stärken, er lieferte zuverlässig durchdachte Entwürfe ab und verlieh den Designs anderer den letzten, entscheidenden Schliff. Und ja, er kannte auch seine Schwächen, er war nicht der Typ für den großen Wurf. Aber so oft war der ja auch nicht gefragt. Wieso ließ er sich bloß dermaßen einschüchtern von diesem Kerl?

Dabei empfand er ihn nicht einmal als Großkotz, wie die eine Hälfte seiner Kollegen in der WhatsApp-Gruppe. Aber noch weniger gehörte er zur anderen Hälfte, die sich darauf freute, dass ihnen endlich jemand etwas abverlangte.

Am dritten Tag setzte Sina sich mittags in der Schnitzelhütte zu Ali Najjar an den Tisch.

Er hatte es nicht abwenden können. Er war in den holzvertäfelten Gastraum mit der dunkelgrünen Auslegeware getreten, in dem sich seit dreißig Jahren nicht viel verändert hatte und der ihn jedes Mal in die Zeit der Alleinerziehenden-Kuren mit seiner Mutter im Allgäu zurückversetzte. Bis er den ersten Kellner erblickte, den mit Vollbart und Ankerherz-Tattoo auf dem Unterarm. Da wusste er wieder, er befand sich in München, im Jahr 2017. Er ging durch den ersten in den zweiten Raum, um sich an seinen Stammplatz an der Ecke zu setzen. Ali Najjar hatte den Tisch bereits belegt. Er telefonierte.

Sina blieb abrupt stehen. In Ali Najjars Aura konnte er offenbar nicht eintreten, ohne kurz innezuhalten. Ali Najjar deutete mit dem Zeigefinger auf den freien Stuhl an seinem Tisch.

»Hören Sie, mir fehlt die Zeit dazu. Und die Geduld sowieso.« Ali Najjar schaute Sina an und verdrehte demonstrativ die Augen.

»Mir fehlt die Zeit, ein Buch zu schreiben. Mir fehlt sogar die Zeit, jemandem ein Buch zu diktieren.«

...

»Hören Sie, fliegen Sie in den Iran, dort laufen ganz viele ehemalige Kindersoldaten herum, und viele haben noch Krasseres erlebt. Schreiben Sie doch über die ein Buch. Die freuen sich.«

»Mit Integration kenne ich mich nicht aus. Oder wirke ich etwa gut integriert?« Er lachte laut auf. Ein Backenzahn im Unterkiefer fehlte ihm. Seine Gesprächspartnerin lachte ebenfalls, Sina konnte es hören.

...

»Machen Sie sich keine Hoffnungen. Sie sind schon die Dritte, der ich absage. Aber danke, fühle mich geehrt. Wiedersehen.«

Ali Najjar fixierte Sina, während er das Handy in der Hosentasche verschwinden ließ. »Sina ist dein Name, richtig, Sina Khoshbin?«

Sina nickte.

»Und Khoshbin – trifft das auf dich zu?«

»Wenn es um uns selbst geht, sind wir doch alle unverbesserliche Optimisten«, sagte Sina.

»Wie meinst du das?«

»Wer bitte schätzt sein Scheidungs- oder Krebsrisiko realistisch ein?« Sina fühlte sich unwohl in der Rolle des weisen Mannes, aber er brauchte sie als Deckung.

Ali Najjar nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. »Und wenn es um andere geht, was bist du dann? Khoshbin oder Badbin?«

Badbin. Sina hatte ein neues persisches Wort gelernt. »Pessimist natürlich.« Mit Mühe brachte er ein ironisches Lächeln zustande. »Zumindest, wenn ich so wie letzte Nacht schlecht geschlafen habe.«

Der Kellner stellte einen Teller vor Ali Najjar ab, der unter dem Schnitzel fast verschwand, und ein Metallschälchen mit Salat.

Sina bestellte das Gleiche.

»So, dann siehst du für mich heute eher schwarz?«

Nein, das tat er nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas auf dieser Welt gegen den Willen dieses Mannes geschah.

Ali Najjar teilte das Schnitzel in vier Stücke, stapelte drei aufeinander, und begann, das vierte in mundgerechte Happen zu zerlegen. Dann nahm er die Gabel in die andere Hand und fing an zu essen.

Sina schwieg und beobachtete ihn. Ali Najjars Hände waren in genau dem richtigen Maß knöchern. Seine Finger langgezogen, die Nägel gepflegt. Die Hände hatten offenbar bis vor kurzem noch Sonne abbekommen und dort, wo der gebräunte, olivfarbene Hautton des Handrückens überging in den rosafarbenen Hautton der Handfläche, dort sah Sina länger hin.

»Mein Vater ist Perser«, sagte er nach einer Weile.

»Und, guter Typ?« Ali Najjar kaute energisch, aber nur wenige Male, bevor er die Bissen hinunterschluckte.

Guter Typ? Was war das für eine Frage? Sina ärgerte sich. Die erste Runde hatte er gerade so überstanden, schon stand er wieder in der Ecke.

»Ja oder nein? Darauf kommt es nämlich an, ob Perser oder nicht, ist total schnuppe.«

»Sagen wir: cooler Typ.«

Ali Najjar hielt inne, senkte den Kopf, kniff die Augen zusammen. »Also ein Arschloch.«

»Nein, das nicht. Er ist …« Sina schaute aus dem Fenster, einem von zwei großen Stichbogenfenstern an der gegenüberliegenden Wand. Eine alte Dame ging draußen vorbei, sie hatte dieselbe Haarfarbe wie der Yorkshireterrier, den sie auf dem Arm hielt. »Meine Mutter und er, das war eine Schnapsidee.«

»Keine Ahnung, wie viele von uns das Ergebnis reiflicher Überlegung sind.« Ali Najjar machte sich daran, das nächste Viertel Schnitzel zu zerkleinern und wechselte anschließend wieder die Hand, die die Gabel hielt.

Wie Vater und Kind in einem, dachte Sina. Der fürsorgliche Daddy schneidet klein, der brave Sohnemann isst auf.

»Und, sprichst du Persisch?«, fragte Ali Najjar kauend.

»Ja, ein wenig«, antwortete Sina. Er hatte mehrmals in seinem Leben angefangen, Persisch zu lernen, weil alle immer enttäuscht waren, wenn er die Frage »Sprichst du Persisch?« verneinte. Er war aber nie weit gekommen. Er hatte gerade so viel gelernt, dass er »Ja, ein wenig« antworten konnte. Meist lenkte er das Gespräch dann schnell auf ein anderes Thema.

»Was ist mit deinem Vater?«, fragte er.

»Lebt nicht mehr.« Ali Najjar hielt die Gabel in die Luft wie einen Zeigefinger. »Dass wir aus niederen Gründen, auf Grund von Missverständnissen und Fehleinschätzungen auf der Welt sind, damit müssen wir wohl leben, Khoshbin.«

Sina lächelte, dieses Mal ehrlich, mit einem Anflug von Dankbarkeit.

Auch er bekam sein Schnitzel. Wie immer, wenn er die ersten Stücke des riesigen Schnitzels auf der einen Seite abschnitt, rutschte es auf der anderen Seite vom Tellerrand. Heute berührte es sogar die Tischdecke und hinterließ einen leichten Fettfleck. Ali Najjar nahm das mit einem Seitenblick zur Kenntnis, was Sina wiederum zur Kenntnis nahm.

»Ärgerlich, oder?«, sagte er und zeigte auf den Teller. »Darauf kann man kein Schnitzel essen.«

Ali Najjar nickte kauend und legte das Besteck ab. Das letzte Viertel Schnitzel ließ er übrig, ebenso die Tomaten in der Salatschüssel.

»Ich muss. Lass es dir schmecken.« Er stand auf, tastete nach seinem Handy in der Hosentasche und klopfte Sina auf die Schulter. »Ach, und komm Freitag mal bei mir vorbei. Kurz bevor du nach Hause gehst.«

Später am Nachmittag begegneten sie sich erneut in einer Telefonkonferenz mit einem Kunden, der High-End-Soundsysteme produzierte und einen wertvollen Markennamen trug. Er zählte zu den wenigen Kunden, die die Agentur behalten durfte, nachdem sie sechs Jahre zuvor vom Konzern gekauft und einverleibt worden war. Sina hatte noch davor in der Agentur angefangen, sogar noch bevor die Gründer zu Shootingstars geworden waren, kurz bevor ihre Porträts ganze Magazinseiten gefüllt hatten. Meistens einer sitzend, einer stehend, beide stets in Grau, Dunkelblau oder Schwarz, und immer leicht aneinander oder an der Kamera vorbeiblickend. Nach knapp einem Jahr der Euphorie und des Größenwahns zerstritten sich die beiden. Sie...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bachmann-Preisträgerin 2021 • Brief • Debütpreis des Österreichischen Buchpreis • eBooks • Iran • Kindersoldaten • Krieg • München • Mutter • Roman • Romane • Schuld und Versöhnung • Schweigen • Sohn • Teheran • Unterschiedliche Kulturen
ISBN-10 3-641-25539-2 / 3641255392
ISBN-13 978-3-641-25539-8 / 9783641255398
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