Rohstoff (eBook)

(Autor)

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2019 | 2. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60909-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rohstoff -  Jörg Fauser
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Harry Gelbs Rohstoff sind Opium auf einem Dach in Istanbul und LSD in einer Kommune in Berlin, sind Heroin in einer Göttinger Mansarde und unzählige Biere in Frankfurts Kneipen - vor allem aber ist sein Rohstoff das Schreiben. Rasant, brutal ehrlich und witzig erzählt Fausers Alter Ego von einer gefährlichen wie gefährdeten Jugend und von einem Mann, der weder als Nachtwächter noch als Flughafenpacker vergisst, was er sein will: Schriftsteller.

Jörg Fauser wurde 1944 bei Frankfurt am Main geboren. Nach Abitur und abgebrochenem Studium lebte er längere Zeit in Istanbul und London. Er arbeitete u.a. als Aushilfsangestellter, Flughafenarbeiter, Nachtwächter. Ab 1974 widmete er sich hauptberuflich dem Schreiben. Seine Romane, Gedichte, Reportagen und Erzählungen sind eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur. Jörg Fauser verunglückte 1987 in der Nacht nach seinem Geburtstag tödlich bei München auf der Autobahn.

Jörg Fauser wurde 1944 bei Frankfurt am Main geboren. Nach Abitur und abgebrochenem Studium lebte er längere Zeit in Istanbul und London. Er arbeitete u.a. als Aushilfsangestellter, Flughafenarbeiter, Nachtwächter. Ab 1974 widmete er sich hauptberuflich dem Schreiben. Seine Romane, Gedichte, Reportagen und Erzählungen sind eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur. Jörg Fauser verunglückte 1987 in der Nacht nach seinem Geburtstag tödlich bei München auf der Autobahn.

In Istanbul lebte ich meistens im Stadtteil Cağaloğlu, etwas oberhalb der Blauen Moschee. Das Hotel war ein fünfstöckiger Altbau in einer Seitenstraße. Daneben lag eine Schule, und morgens traten die Schulklassen auf dem Hof an und sangen die Nationalhymne. Die türkische Nationalhymne ist recht lang, und wie die Hymne glich auch Istanbul einer Collage, deren Schnittlinien im Unendlichen verlaufen.

Weil sie mit ihren fünf Stockwerken noch nicht genug absahnten, hatten die Besitzer des Hotels auf dem Dach noch einen Aufbau hochziehen lassen. Die Aussicht war überwältigend, im Sommer auch die Hitze, im Winter die Kälte. Immerhin – für rund zwei Mark am Tag hatte man das gleiche Panorama, für das die normalen Touristen das Zwanzig- oder Fünfzigfache hinlegten. Und unsereins hatte Kredit.

Als es Winter wurde, zogen Ede und ich zusammen in eine Bude auf dem Dach. Wenn der Wind aus Russland durch die Ritzen pfiff und der Schnee durch die unverputzte Decke sickerte, war es zu zweit entschieden praktischer. Einer goss Sprit auf den Steinfußboden und zündete ihn an, und solange die Flammen etwas Wärme verbreiteten, versuchte der andere, eine Vene zu finden. Wir nahmen alles, was wir bekamen, und in der Hauptsache war es Rohopium, das wir aufkochten, Nembutal, zum Dämmern, und alle möglichen Weckamine, um in Fahrt zu kommen. Wenn wir in Fahrt waren, mussten wir neuen Stoff besorgen und was wir sonst brauchten – wir lebten vorwiegend von Tee und Süßigkeiten –, und dann lagen wir da, gut eingehüllt in unsere Decken, spielten mit der Katze und arbeiteten. Ede malte, und ich schrieb.

Ede war ein kräftiger Bursche aus Stuttgart, den seine Sucht allmählich von innen ausbrannte – der Knochenbau war immer noch stabil, aber alles Gewebe, Fett, Muskeln reduzierten sich auf das Notwendigste. Zunächst beobachtete ich das fasziniert, dann gab ich es auf. In der Sucht zieht man sich auf sich selbst zurück, und nur wenn der Stoffwechsel seine Sirenen schrillen lässt, sieht man sich mit der Umwelt konfrontiert, die einen leicht in Panik versetzen kann. Deshalb muss man auch etwas zu tun haben, damit die Zeit dazwischen noch da ist, wenn man sie braucht (Zeit, der Stoff, von dem wir nie genug bekommen), und Ede hatte herausgefunden, dass das für ihn das Malen war. Das meiste Geld von dem, was wir gelegentlich machten, ging für Leinwand und Farben drauf. Ede hatte das, was man einen unverbrauchten Stil nennen könnte, er knallte seine Valeurs nur so auf die Leinwand, und nachdem er die abstrakte Anfangsphase hinter sich hatte, ging er zu Figuren und Landschaften über. Es waren wahrscheinlich ziemlich unbedarfte Bilder, aber mir gefielen sie. Je düsterer der Winter und unsere Aussichten, desto farbenfrohere Gemälde stellte Ede her. Ein Psychiater hätte an uns beiden seine helle Freude gehabt.

Denn ich schrieb. Die Türken verkauften sehr solid gemachte Notizhefte mit Wachstuchumschlag in allen denkbaren Formaten, und ich entdeckte die Vorzüge des Rapidographen – der feine Strich, verbunden mit der Haltbarkeit und Klasse von echter Tinte. Was mich vom Schreiben sofort überzeugte, war, dass es relativ billig kam, verglichen mit dem, was Ede für sein Material anzulegen hatte. Ich musste allerdings zugeben, dass er dafür eine Menge riskierte. Vielleicht war er ein geborener Maler.

 

Es gab ein Viertel, in das sich kaum ein Ausländer wagte: Tophane. Pro Quadratmeter lebten dort wahrscheinlich so viele Opiatsüchtige wie in Harlem oder Hongkong. Es hieß, dass es in Tophane nicht ungefährlich sei, und tatsächlich sah man auch manchmal einen Toten herumliegen, aber mir ist nie etwas Ärgeres passiert, als dass ich beim Einkaufen übers Ohr gehauen wurde. Wenn es um größere Beträge ging und die geneppten Kunden zurückkamen, vermochte der Ort sich innerhalb weniger Stunden so zu verändern, als wäre das ganze armselige Quartier eine Filmdekoration – hier war eben noch ein überfülltes Teehaus gewesen, jetzt waren die Türen verrammelt, alter Staub lag auf den Fenstern; das Kino an der Ecke spielte einen Liebesfilm und nicht mehr den Hunnenstreifen; die Hütte, in der man gelinkt worden war, war eine Schreinerwerkstatt, und statt des Toten, der unter dem Strauch an der Ecke gelegen hatte, bastelte jetzt ein Mechaniker an einem alten Ford-Taxi. Die Dealer, die man suchte, waren wie vom Erdboden verschwunden. Waren es noch dieselben Häuser? Man rieb sich die Augen, aber das half auch nichts. Wenn die Halluzination die Alltäglichkeit einer Zigarette hat, dann sind auch die Pforten der Wahrnehmung, wie die Wahrnehmung selbst, aus einem trügerischeren Stoff als Rauch.

Und wenn die Grenzen der Wahrnehmung verwischen, dann verlieren auch andere Maßstäbe ihre Gültigkeit. Ede und ich entwickelten unsere eigene Masche. Sie bestand darin, einen der ahnungslosen jungen Ausländer aufzugabeln, die in immer größerer Zahl in die Stadt einfielen und sich mal eben mit einem Kilo Stoff versorgen wollten, bevor sie wieder in ihre PanAm- oder Quantas-Maschine stiegen, um an irgendeinem Campus im Mittleren Westen oder in New South Wales den erfahrenen Weltenbummler und Handelsreisenden in Sachen Haschisch zu markieren. Man traf sie überall in den Pudding-Shops und Teehäusern rund um die Blaue Moschee, blonde, braungebrannte, immer gutgelaunte Jungs und Mädchen auf Europa-Trip, die in ihren Hotelzimmern zusammenhockten, Gitarre spielten und Protestsongs sangen und schworen, nie nach Vietnam zu gehen, um zu killen. Ede und ich und die paar anderen deutschen Dauergäste am Bosporus fühlten uns dann immer wie uralte Asiaten, getränkt mit der mitleidlosen Philosophie des Opiums: Wenn du etwas hast, bekommst du es abgenommen. Wenn du nichts hast, stirbst du. Und wie alle Philosophen fanden wir, dass es nur gerecht war, der Gemeinde von unserem Wissen abzugeben – und zwar, bevor sie auf andere hörte. Passende Opfer fanden sich leicht. Wenn man an der Grenze lebt, bekommt man einen Blick für das Gepäck der Reisenden. Einer machte sich also an den Jungen oder das Pärchen ran – gefragt waren natürlich solche, die absolut non-violent und ein bisschen kopflastig wirkten – und brachte ihn ins Hotel. Das Zimmer war entsprechend dekoriert. Die Staffelei mit dem verhängten Bild machte sich besonders gut, und von ihr blickte man unwillkürlich in die Ecke mit dem ganzen Œuvre. In der anderen Ecke fielen die zerlesenen Paperbacks auf und mein Stapel Notizhefte mit der sorgfältig gefalteten Airmail-Ausgabe der Londoner Times. Wenn dann noch der Joint rumging, war es richtig beat, und seit Kerouac war beat der Schlüssel zur Seele dieser jungen Amerikaner.

Das Geschäft war immer schnell abgemacht. Beats sind absolut coole Leute, die nicht viel Zeit für den Alltagsschmus haben. Einer von uns verzog sich dann mit der Kohle – natürlich immer mit der ganzen Kohle, denn wir halfen ja bei diesen Deals praktisch nur aus Gefälligkeit –, und der andere hockte mit dem Stiesel da oben in der Beatnik-Bude mit Blick auf die Blaue Moschee und das Meer und rollte die Joints. In der Dämmerung verloren sich die Konturen der Moscheen, die Möwen flogen Arabesken um die Minarette. Die Musik aus den Teehäusern half auch. Die Konversation tröpfelte. Peace.

»Müsste er jetzt nicht allmählich kommen?«

»Was? Ah ja.«

»Ich meine, es wird allmählich spät …«

»Manchmal müssen sie warten, bis es dunkel wird.«

»Oh.«

Dann gab man ihnen ein paar Tabletten, ein bisschen speed zum Aufmöbeln, und prompt bekamen sie den gehetzten Blick, wenn unten die Verbindungstür zum Dach knarrte. Sie wurden schnell und fingen an zu reden, und je mehr sie redeten, desto mehr hatte man sie unter Kontrolle. Du kannst einem Fremden nicht erzählen, wie furchtbar es war, als deine Freundin damals mit diesem Hell’s Angel durchbrannte, und ihm im nächsten Augenblick auf den Kopf zusagen, dass er ein Gauner und Betrüger ist, Mitglied einer Gang von türkisch-deutschen Schwerverbrechern. Nicht, wenn du wirklich cool bist. Die andere Sorte gab es auch, aber mit denen wurde Ede spielend fertig. Er konnte ziemlich gefährlich wirken, wenn er, mit hochgekrempelten Ärmeln, die seine von der Sucht verwüsteten Arme sehen ließen, seine Leinwände mit einer Rasierklinge attackierte. Von van Gogh hatten alle schon gehört. Sie klammerten sich schließlich an jede Hoffnung, und weil du allmählich auch unruhig wurdest, nahmst du sie mit nach Tophane. Sie brauchten nur den öden, kaum erleuchteten Platz an der Hauptstraße zu sehen, die betrunkenen Zigeuner, die räudigen Hunde, die zerlumpten Bettler, die lallenden Huren ohne Zähne und die Männer in den dunklen Anzügen, die plötzlich aus der Dunkelheit auftauchten und sie mit kalten Augen abtasteten, um von panischer Angst ergriffen zu werden. Aber du hast sie dann noch mit in eins der Teehäuser genommen, wo die in Lumpen gewickelten Opiumsüchtigen sabbernd auf den Dealer warteten, während die riesigen Kakerlaken von der Decke in ihre Teegläser fielen – nicht dass sie wirklich fielen, aber die Stiesel sahen sie fallen –, und du hast dich mit dem Buckligen unterhalten – »Du okay? Ich auch okay« –, bis die message klar wurde: Lauf um dein Leben.

Wenn ich dann in das Hotel kam, in dem Ede ein Zimmer genommen hatte, roch es bereits nach Terpentin und Ölfarbe, und er hatte es fertiggebracht, sein Bett einzudrecken.

»Na, wie ist es gelaufen?«

»Wie soll’s gelaufen sein?«

»Werden wir den Typen noch mal...

Erscheint lt. Verlag 27.11.2019
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 60er • 60er Jahre • 68er • 70er • 70er Jahre • Alkohol • Alter Ego • Autobiografie • Autobiographie • Autobiographisch • Berlin • Bezi • Beziehungen • Bier • BRD • Deutschland • Drogen • Drogensucht • Drogenszene • Frankfurt am Main • Frauen • Istanbul • Jörg Fauser • Junkie • Kneipe • Lebensbeschreibung • Männer • Männerfreundschaft • Rausch • Rauschgift • Roman • Schriftsteller • Schriftstellerleben • Studenten • Zeitdokument
ISBN-10 3-257-60909-4 / 3257609094
ISBN-13 978-3-257-60909-7 / 9783257609097
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