Die Geschichte der Baltimores (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
512 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97304-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Geschichte der Baltimores -  Joël Dicker
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Bis zum Tag der Katastrophe gab es zwei Goldman-Familien. Die Baltimore-Goldmans und die Montclair-Goldmans. Die »Montclairs« sind eine typische Mittelstandsfamilie, kleines Haus im unschicken New Jersey, staatliche Schule für Marcus, den einzigen Sohn. Ganz anders die Goldmans aus Baltimore: Man ist wohlhabend und erfolgreich, der Sohn Hillel hochbegabt, der Adoptivsohn Woody ein Sportass erster Güte. Als Kind ist Marcus hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für diese »besseren« Verwandten und Eifersucht auf ihr perfektes Leben. Doch Hillel und Woody sind seine besten Freunde, zu dritt sind sie unschlagbar, zu dritt schwärmen sie für das Nachbarsmädchen Alexandra - bis ihre heile Welt eines Tages für immer zerbricht. Acht Jahre danach beschließt Marcus, inzwischen längst berühmter Schriftsteller, dass es Zeit ist, die Geschichte der Baltimores aufzuschreiben. Aber das Leben ist komplizierter als geahnt, und die »Wahrheit« über ihre Familie scheint viele Gesichter zu haben.

Joël Dicker wurde 1985 in Genf geboren. Seine Bücher »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« und »Die Geschichte der Baltimores« wurden weltweite Bestseller und über sechs Millionen Mal verkauft. Für »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«, das in Frankreich zur literarischen Sensation des Jahres 2012 wurde und dessen Übersetzungsrechte mittlerweile schon in über 30 Sprachen verkauft wurden, erhielt Dicker den Grand Prix du Roman der Académie Française sowie den Prix Goncourt des Lycéens. Mit »Das Verschwinden der Stephanie Mailer« und »Das Geheimnis von Zimmer 622« konnte er an seine Erfolge anknüpfen und schaffte es ebenfalls auf die Bestsellerlisten.

1.


Ich bin der Schriftsteller.

So nennen mich alle. Meine Freunde, meine Eltern, meine Familie, selbst mir unbekannte Menschen, wenn sie mich in der Öffentlichkeit sehen: »Sind Sie nicht der Schriftsteller …?« Ich bin der Schriftsteller, das ist meine Identität.

Die Leute glauben, dass man als Schriftsteller eine ziemlich ruhige Kugel schiebt. Neulich beschwerte sich einer meiner Freunde darüber, wie viel Zeit ihn allein sein täglicher Arbeitsweg koste, und erklärte mir dann: »Du hast es gut, du musst ja morgens nur aufstehen, dich an den Schreibtisch setzen und schreiben.«

Ich gab ihm keine Antwort, wohl weil mich die Erkenntnis deprimierte, wie sehr meine Arbeit in der allgemeinen Vorstellung aus Nichtstun besteht. Alle denken, dass man den ganzen Tag Däumchen dreht, dabei arbeitet man vielleicht gerade dann am härtesten, wenn man nichts tut.

Ein Buch zu schreiben ist ungefähr so, als hätte gerade ein Ferienlager aufgemacht: Dein normalerweise einsames und stilles Dasein wird plötzlich von einem Haufen Leuten auf den Kopf gestellt, die ohne Vorwarnung hereinschneien. Da kommen sie eines Morgens angefahren in ihrem großen Bus, schon ganz aufgeregt über die Rolle, die sie spielen sollen, und reden beim Aussteigen alle durcheinander. Und dann ist alles deine Sache, du musst dich um sie kümmern, sie verköstigen und unterbringen. Du bist für alles verantwortlich. Weil du der Schriftsteller bist.

Diese Geschichte beginnt im Februar 2012, als ich aus New York nach Boca Raton, Florida, gefahren bin, um in meinem neuen Haus meinen neuen Roman zu schreiben. Das Haus hatte ich drei Monate zuvor gekauft, mit dem Geld für die Filmrechte an meinem letzten Buch, aber abgesehen von ein paar Stippvisiten im Dezember und Januar, um es einzurichten, war es das erste Mal, dass ich mich für längere Zeit dort aufhielt. Es ist ein geräumiges Haus mit einer breiten Glasfront, die auf einen bei Spaziergängern beliebten See hinausgeht. Die Nachbarschaft ist sehr ruhig und grün und hauptsächlich von reichen Rentnern bewohnt, unter denen ich extrem auffalle. Ich bin nur halb so alt wie die meisten, aber ich habe mir die Gegend gerade wegen der vollkommenen Stille ausgesucht. Das ist der Ort, den ich zum Schreiben brauche.

Anders als bei meinen früheren kurzen Aufenthalten hatte ich diesmal sehr viel Zeit vor mir und fuhr deshalb mit dem Auto. Die zwölfhundert Meilen von New York nach Florida schreckten mich nicht. Schließlich hatte ich diese Reise in den letzten Jahren unzählige Male unternommen, um meinen Onkel Saul Goldman zu besuchen, der nach der Katastrophe, die seine Familie heimgesucht hatte, in einen Vorort von Miami gezogen war. Ich kannte die Strecke auswendig.

Bei minus zehn Grad und einer dünnen Schneeschicht fuhr ich in New York los und war zwei Tage später im herrlich warmen tropischen Winter von Boca Raton angekommen. Der vertraute Anblick von Sonne und Palmen erinnerte mich an Onkel Saul. Er fehlte mir schrecklich. Wie sehr, wurde mir in dem Moment klar, als ich die Autobahnabfahrt Richtung Boca Raton nahm, obwohl ich viel lieber zu ihm nach Miami weitergefahren wäre. Schließlich fragte ich mich sogar, ob ich die letzten Male wirklich nur hergekommen war, um mich um die Einrichtung zu kümmern, oder ob ich im Grunde nicht einfach nur wieder in Florida sein wollte. Aber ohne ihn war es nicht mehr wie früher.

Mein unmittelbarer Nachbar in Boca Raton ist Leonard Horowitz, ein reizender emeritierter Professor aus Harvard, seinerzeit eine Koryphäe in Verfassungsrecht, der auf die achtzig zugeht, seine Winter in Florida verbringt und seit dem Tod seiner Frau ein Buch schreiben will, für das er keinen Anfang findet. Ich lernte ihn an dem Tag kennen, an dem ich das Haus gekauft hatte. Er klingelte an meiner Tür, um mich mit einem Sixpack Bier willkommen zu heißen, und wir verstanden uns auf Anhieb. Seither hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Mal vorbeizuschauen, wenn ich da bin. Wir haben schnell Freundschaft geschlossen.

Er schätzt meine Gesellschaft, und ich glaube, er hat sich gefreut, dass ich diesmal eine Weile bleiben wollte. Als ich ihm eröffnete, dass ich meinen nächsten Roman hier schreiben würde, erzählte er mir gleich von seinem. Er ist mit Herzblut dabei, kommt aber mit der Geschichte nicht recht voran. Ständig schleppt er ein großes Spiralheft mit sich herum, auf dem in Filzstift »Heft Nr. 1« steht, was zu der Vermutung Anlass gibt, dass es noch mehr werden sollen. Ich sehe ihn ständig hoch konzentriert am Werk: frühmorgens auf der Terrasse vor seinem Haus oder an seinem Küchentisch, ab und zu auch in einem Café in der Stadt, stets über seinen Text gebeugt. Er hingegen sieht mich spazieren gehen, im See schwimmen, unterwegs zum Strand oder zum Joggen. Abends klingelt er gern mit frischem Bier bei mir. Wir trinken es auf meiner Terrasse, spielen Schach und hören Musik. Im Hintergrund die hinreißende Landschaft aus See und Palmen, von der untergehenden Sonne rosa überhaucht. Ohne den Blick vom Schachbrett zu erheben, fragt er jedes Mal zwischen zwei Zügen: »Und, Marcus, was macht Ihr Buch?«

»Es geht voran, Leo, es geht voran.«

Eines Abends, ich war gerade zwei Wochen da, und er bedrohte meinen Turm, sah er plötzlich auf und fragte erregt: »Wollten Sie hier nicht Ihren neuen Roman schreiben?«

»Doch, warum?«

»Weil Sie nichts tun und mich das ärgert.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich nichts tue?«

»Das sehe ich doch! Sie träumen die ganze Zeit vor sich hin, machen Sport oder schauen den Wolken nach. Ich bin achtundsiebzig und dürfte vielleicht so in den Tag hinein leben. Aber Sie sind gerade mal dreißig und müssten sich doch krummlegen!«

»Was ärgert Sie wirklich, Leo? Mein Buch oder Ihres?«

Ich hatte ins Schwarze getroffen. Er beruhigte sich wieder.

»Ich würde nur zu gern wissen, wie Sie es machen«, sagte er schließlich. »Ich komme mit meinem Roman nicht weiter. Und ich bin einfach neugierig darauf, wie Sie arbeiten.«

»Ich setze mich auf die Terrasse und denke nach. Und das ist Arbeit, glauben Sie mir. Sie dagegen schreiben, um Ihren Geist zu beschäftigen. Das ist etwas anderes.«

Er zog seinen Springer vor und bedrohte meinen König.

»Hätten Sie nicht eine gute Romanidee für mich?«

»Ausgeschlossen.«

»Warum?«

»Weil die Idee aus Ihnen selbst kommen muss.«

»Wie auch immer, schreiben Sie in Ihrem Buch bitte nichts über Boca Raton. Das fehlt mir nämlich gerade noch, dass Ihre Leser dann alle hierherpilgern und sich die Beine in den Bauch stehen, um zu sehen, wie Sie wohnen.«

»Suchen Sie nicht nach einer Idee, Leo«, sagte ich ihm dann noch. »Eine Idee ist nichts weiter als ein Ereignis, das jederzeit eintreten kann.«

Wie hätte ich ahnen können, dass just, als ich es sagte, genau das passierte? Am Seeufer erblickte ich die Gestalt eines frei herumlaufenden Hundes: muskulös und schlank, mit spitzen Ohren, die Nase im Gras. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

»Man könnte meinen, der Hund hier ist ganz allein unterwegs«, sagte ich.

Horowitz hob den Kopf und beobachtete das Tier. »Hier gibt es keine Streuner«, erklärte er.

»Wer sagt denn, dass er streunt. Aber er ist eindeutig ganz allein unterwegs.«

Ich habe eine Schwäche für Hunde. Also stand ich auf und pfiff nach ihm. Der Hund spitzte die Ohren. Ich pfiff noch einmal, und er kam angelaufen.

»Sie sind wohl verrückt geworden«, grummelte Leo. »Woher wollen Sie wissen, dass er nicht die Tollwut hat? Sie sind am Zug.«

»Weiß ich nicht«, antwortete ich und zog zerstreut meinen Turm. Zur Strafe für meine Unaufmerksamkeit kassierte er meine Königin.

Der Hund erreichte die Terrasse. Ich hockte mich neben ihn. Es war ein recht großer Rüde mit dunklem Fell, einer schwarzen Maske um die Augen und einem langen Seehundsbart. Er schmiegte seinen Kopf an mich, und ich streichelte ihn. Er wirkte ganz sanftmütig. Ich spürte, wie ein Band zwischen ihm und mir entstand, eine Art Liebe auf den ersten Blick, und wer sich mit Hunden auskennt, weiß, was ich meine. Er hatte kein Halsband um, nichts, was zu seiner Identifizierung dienen konnte.

»Haben Sie diesen Hund schon einmal gesehen?«, fragte ich Leo.

»Nein, noch nie.«

Nachdem der Hund die Terrasse inspiziert hatte, ging er wieder, ohne dass ich ihn hätte aufhalten können, und verschwand zwischen Palmen und Sträuchern.

»Er scheint zu wissen, wo er hinwill«, bemerkte Horowitz. »Wahrscheinlich gehört er einem Nachbarn.«

Es war sehr schwül an diesem Abend. Als Leo aufbrach, konnte man trotz der Dunkelheit schon das...

Erscheint lt. Verlag 2.5.2016
Übersetzer Andrea Alvermann, Brigitte Große
Sprache deutsch
Original-Titel Le Livre de Baltimore
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anwalt • Bestseller • Buch • Bücher • Das Verschwinden der Stephanie Mailer • Familie • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Flucht • Harry Quebert • Krimi • Marcus Goldman • Psychologie • Tod • Verrat
ISBN-10 3-492-97304-3 / 3492973043
ISBN-13 978-3-492-97304-5 / 9783492973045
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