Gerechtigkeit für Tiere -  Martha Nussbaum

Gerechtigkeit für Tiere (eBook)

Unsere kollektive Verantwortung
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Theiss in der Verlag Herder GmbH
978-3-8062-4603-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
27,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Weltweit erleiden Tiere Ungerechtigkeit und Grausamkeit: sei es durch die Zerstörung ihrer Lebensräume, seien es die Qualen der industriellen Tierhaltung, Wilderei oder auch die Vernachlässigung von Haustieren, die wir angeblich so lieben. Martha Nussbaum entwickelt, ausgehend von ihrem grundlegenden Fähigkeitenansatz, eine neue philosophische, juristische und moralische Grundlage zum Schutz der Tiere. Von Delfinen bis Krähen, von Elefanten bis Tintenfischen schildert sie das Leben von Tieren mit Staunen, Ehrfurcht und Mitgefühl und weist den Weg in eine Welt, in der wir Menschen Freunde der Tiere sind und nicht Ausbeuter oder Nutzer. Jedes Tier muss die Chance haben, auf seine eigene Weise zu gedeihen, und wir haben die kollektive Pflicht, uns dem Leid der Tiere zu stellen und es zu beseitigen. Nussbaums bahnbrechende Theorie ist ein dringender Aufruf zum Handeln und ein Handbuch für Veränderungen in Politik und Recht, sodass wir unserer ethischen Verantwortung gerecht werden können.

Martha Nussbaum ist die einflussreichste Philosophin der Gegenwart. Die Professorin an der University of Chicago wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Kyoto-Preis, der als Nobelpreis der Philosophie gilt. Außerdem erhielt sie den mit einer Million Dollar dotierten Berggruen-Preis. Die bekennende Musik-Liebhaberin wurde besonders bekannt durch ihre Arbeiten zum Thema Emotionen.

1 Brutalität und Vernachlässigung: Ungerechtigkeit im Leben von Tieren


Tieren geschieht durch uns Unrecht. Dieses Buch zielt darauf ab, diese Aussage zu bestätigen sowie eine wirksame theoretische Strategie vorzuschlagen, um Ungerechtigkeit zu identifizieren und Abhilfemaßnahmen zu empfehlen: eine Version meines „Fähigkeitenansatzes“.

In diesem Kapitel werde ich zunächst auf unsere alltägliche, vorphilosophische Vorstellung von Ungerechtigkeit eingehen, die nach meiner Auffassung darin besteht, dass jemand danach strebt, etwas einigermaßen Bedeutsames zu erreichen, und von jemand anderem daran gehindert wird – und zwar zu Unrecht, sei es böswillig oder fahrlässig.

Dieser Gedanke bringt uns bereits auf die Spur meines Fähigkeitenansatzes, denn in diesem geht es zentral um sinnvolle Aktivitäten und um die Bedingungen, die es einem Lebewesen ermöglichen, diesen ohne Beeinträchtigung oder Behinderung nachzugehen oder, mit anderen Worten, ein sich vollständig entwickelndes Leben zu führen. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die sich in einer Engführung auf Schmerzen als das in erster Linie Schlechte konzentrieren, richtet dieser Ansatz sein Augenmerk auf zahlreiche verschiedene Arten von sinnvoller Aktivität (einschließlich Bewegung, Kommunikation, sozialer Bindungen und Spiel), die sämtlich durch das Eingreifen anderer blockiert werden können, und auf viele Arten dieser unrechtmäßigen Blockierung, sei es durch böse Absicht oder durch Unachtsamkeit.

In diesem Kapitel werde ich zunächst Tiere, die ein gutes Leben führen, mit Tieren vergleichen, die in ihrem Streben behindert werden, um so eine elementare Erklärung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vorzubereiten. Als Nächstes werde ich unsere gewöhnliche vorphilosophische Vorstellung von Ungerechtigkeit betrachten, um zu zeigen, warum die Tiere in meinen Beispielen ungerecht behandelt wurden. Nachdem ich die Idee der unrechtmäßigen Behinderung einer bedeutsamen Aktivität entwickelt habe, werde ich drei Fähigkeiten untersuchen, über die sämtliche Leser dieses Buches verfügen und die die Tiere unserer Aufmerksamkeit und Fürsorge anempfehlen: Staunen, Mitgefühl und Empörung. Diese drei Emotionen sind zugleich Ressourcen: Wenn sie angemessen entwickelt und kultiviert werden, helfen sie uns, den umfassenderen ethischen und philosophischen Rahmen der Rechte von Tieren besser zu verstehen.

Diejenigen, die bezweifeln, dass Tiere einen Anspruch auf eine gerechte Behandlung haben und diesen auch einfordern dürfen, müssen bis zur Darlegung meiner Theorie in Kapitel 5 warten, wo ich meine Argumentation für diesen entscheidenden Punkt vorstelle, da verschiedene Theorien unterschiedliche Antworten auf diese Frage geben. Um jedoch meinen wesentlichen Punkt in aller Kürze wiederzugeben: Alle Tiere, die menschlichen und die nicht menschlichen, leben auf diesem zerbrechlichen Planeten, von dem wir in Bezug auf alles, was wichtig ist, abhängig sind. Wir haben es uns nicht ausgesucht, hier zu sein. Wir haben uns hier vorgefunden. Wir Menschen glauben, dass wir, weil wir uns hier vorgefunden haben, das Recht besitzen, den Planeten zu nutzen, um uns zu ernähren, und Teile davon als unser Eigentum zu betrachten. Doch wir sprechen anderen Tieren das gleiche Recht ab, obwohl ihre Situation genau dieselbe ist. Auch sie haben sich hier vorgefunden und müssen versuchen, so gut es geht, zu leben. Mit welchem Recht sprechen wir ihnen das Recht ab, den Planeten zu nutzen, um zu leben, so wie wir dieses Recht beanspruchen? In der Regel wird hierfür kein einziges Argument vorgebracht. Ich glaube, dass jeder Grund, der unseren eigenen Anspruch auf die Nutzung des Planeten zu unserem Überleben und Wohlergehen stützt, auch ein Grund für die Behauptung ist, dass Tiere das gleiche Recht haben.1

Zunächst müssen wir jedoch über eine funktionierende Vorstellung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verfügen. Diese zu erarbeiten, ist das Vorhaben für dieses Kapitel. Um damit beginnen zu können, benötigen wir einige Beispiele: Fälle, die uns über die Komplexität und die beeindruckenden Aktivitäten eines Tieres staunen lassen und ein schmerzliches Mitgefühl wecken, verbunden mit einer handlungsorientierten Empörung darüber, was aus diesem Tier in einer Welt der menschlichen Brutalität und Vernachlässigung geworden ist.

Tiere, die gedeihen, und Tiere, deren Entwicklung eingeschränkt wird


In der Einführung habe ich fünf konkrete Tiere vorgestellt, die zu leben versuchen, dabei jedoch auf verschiedene Weise blockiert und frustriert werden. Ich habe zunächst die gesunde Aktivität des Tieres beschrieben, das seiner typischen Lebensform nachgeht, und sodann das gleiche Tier, das durch menschliche Misshandlung in Bedrängnis gerät.

Virginia, die Elefantenmutter, genoss die freie Bewegung und die Geselligkeit in ihrer weiblichen Gruppe, zusammen mit den kleinen Elefantenbabys, welche die Gruppe gemeinsam aufzieht. Dann wurde sie von Wilderern angegriffen und getötet, um an das Elfenbein ihrer Stoßzähne zu gelangen, ihr Gesicht wurde entstellt und ihr Baby der Gruppe entrissen, um es an einen Zoo zu verkaufen, der ihm nicht die Möglichkeit bieten wird, sich vollständig zu entwickeln.

Der Buckelwal Hal genoss die freie Bewegung, die soziale Interaktion mit der Gruppe seiner Artgenossen und das Singen. Nachdem er Plastikmüll verschluckt hatte, verhungerte er, weil dieser seinen Verdauungstrakt verstopfte, und er wurde an der Küste angespült.

Die Kaiserin von Blandings hatte ein glückliches Leben auf Blandings Castle, gut gefüttert und umsorgt von Menschen, die Schweine liebten und ihre besonderen Persönlichkeiten und Bedürfnisse verstanden. Auf einer Schweinefarm in Iowa erlebte sie ein ganz anderes Leben: eingesperrt in einen Kastenstand, gezwungen, in der Nähe ihrer eigenen Fäkalien zu fressen, jeglichen sozialen Lebens und jeder freien Bewegung beraubt.

Jean-Pierre flog früher frei umher, gab wunderbar trillernde Gesänge von sich und genoss die soziale Interaktion mit anderen Finken. Doch die verschmutze Luft kostete ihn sein Leben.

Die Geschichte Lupas ist eine Geschichte, die sich von Schmerz zu Glück und von Ungerechtigkeit zu einem blühenden Leben wendet. Früher von einem grausamen Menschen geschlagen, wurde sie eine streunende Hündin, die auf der Straße ihr Auskommen suchte. Doch dann fand sie ein langes und glückliches Leben bei Menschen, die sie freundlich, liebevoll und mit Respekt behandelten, ihr eine exzellente medizinische Versorgung und viel Auslauf boten und auch ihren Welpen Remus adoptierten (sowie ein gutes Zuhause für die anderen Geschwister fanden), sodass Lupa die Gesellschaft eines anderen Hundes ebenso wie die von Menschen hatte.

Dies sind lediglich fünf von Millionen von Geschichten, die man erzählen könnte. Die Geschichten von Brutalität und Vernachlässigung ließen sich endlos fortsetzen, doch sie geben uns auch so schon das Anschauungsmaterial, das wir benötigen, um uns mit den Ideen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen. In all diesen Geschichten sehen wir ein blühendes Leben – und bezeichnenderweise geht es in jeder von ihnen um freie Bewegung, soziales Leben und die Realisierung von Fähigkeiten, die für jede der beschriebenen Arten typisch sind. Im Gegensatz dazu sehen wir dann, wie diese Fähigkeiten behindert, die Bewegungsfreiheit blockiert und der soziale Austausch unmöglich gemacht werden.

Der Gegensatz zwischen einem blühenden und einem eingeschränkten Leben ist die zentrale intuitive Idee dieses Buches. Allerdings stellt nicht jede Einschränkung eine Ungerechtigkeit dar, gegen die wir vorgehen sollten. Wenden wir uns also der Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu.

Gerechtigkeit: die grundlegende intuitive Idee


Was bedeutet es, Ungerechtigkeit zu erleiden? Wann stellen Beeinträchtigungen des Lebens nicht nur Beeinträchtigungen dar, sondern auch ein Unrecht, für das wir jemanden zur Rechenschaft ziehen können und das wir, wenn möglich, wiedergutmachen oder zumindest in Zukunft verhindern sollten?

Hier komme ich zu den allergrundlegendsten Intuitionen meiner Theorie, bei denen es wirklich sehr schwierig ist, noch weiter zu argumentieren. Ich will jedoch versuchen, die Grundgedanken auszuformulieren, da sie uns im Folgenden leiten werden. Was bedeutet es für ein Lebewesen, Ungerechtigkeit zu erleiden und auf Gerechtigkeit basierende Ansprüche zu haben?

Stellen wir uns ein Tier vor: Da auch ein hypothetisches Tier, das uns als Beispiel dient, einen Namen haben muss, nennen wir es Susan. Susan lebt ihr Leben: Sie plant, handelt, stellt Beziehungen her und geht all den Dingen nach, die für ein Tier von Susans Art von Bedeutung sind. Susan nutzt ihre sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten. Sie strebt nach Dingen und begehrt sie. Sie bewegt sich auf sie zu und versucht, sie zu erlangen. Hierbei stößt Susan auf Hindernisse, die ihren Bemühungen im Wege stehen. Einige von ihnen sind unwichtig: Sie vereiteln Absichten, die nur am Rande eine Rolle spielen und nicht...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2023
Übersetzer Manfred Weltecke
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-8062-4603-3 / 3806246033
ISBN-13 978-3-8062-4603-2 / 9783806246032
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Mit Online-Material

von Wolfgang Schneider; Ulman Lindenberger

eBook Download (2018)
Beltz (Verlag)
58,99