Geist & Leben 4|2020 (eBook)
118 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06470-9 (ISBN)
Christoph Benke, geb. 1956, Dr. theol., Priester der Erzdiözese Wien, in der Studentenseelsorge tätig.
Christoph Benke, geb. 1956, Dr. theol., Priester der Erzdiözese Wien, in der Studentenseelsorge tätig.
Spiel und Autorität
Über die Jesuskindverehrung der Frühen Neuzeit1
Das Jesuskind war jahrhundertelang Gegenstand einer innigen und affektiven Spiritualität, die unzählige Frauen und Männer tiefer zu Gott geführt hat. Diese Frömmigkeitspraxis hat nichts mit der jüngst in Mode gekommenen, populärwissenschaftlich vermarkteten Beziehung zum „Inneren (göttlichen) Kind“ zu tun. Vielmehr geht es um die Hinwendung zum menschgewordenen Gott als kleinem Knaben, häufig in Form einer Statue. Derartige, von anderen Figuren (etwa Maria und Joseph) isolierte Objekte werden „Jesulein“ genannt. Das berühmteste ist das „Prager Jesulein“ aus dem frühen 16. Jh., das Fürst(inn)en sowie Liebhaber(innen) aus Europa und der ganzen Welt mit unzähligen, reich ausgestatteten Kleidchen bedachten. Die wundersame „Entdeckung“ bzw. Wiederauffindung der Statue ist legendenhaft ausgeschmückt: Als der Karmelit P. Cyrill(us) von der Muttergottes (1590–1675) zufällig dieses Jesulein mit abgeschlagenen Händchen fand, soll es ihm mit der Bitte, neue zu bekommen, prophezeit haben: „Je mehr ihr mich verehrt, desto mehr werde ich euch segnen!“2 Diese Erzählung verhalf dem Kult um das „Prager Jesulein“ nicht nur zu einer ungeahnten Blüte, sondern sie zeigt neben dem Tun-Ergehen-Zusammenhang präzise den tiefsten Kern der Verehrung des Jesuskinds auf: Zwar wirkt es äußerlich wie ein kleines Wesen, schwach, auf die Fürsorge, die Liebe der Menschen und somit auf Beziehung angewiesen. Gerade aber in dieser Ohnmacht zeigt sich seine Macht und Stärke als göttlicher König und Weltenherrscher. Anschaulich wird dieses Paradox wohl am besten anhand der Worte Edith Steins (1891–1942), die sie wenige Monate vor ihrem grausamen Tod in Bezug auf das „Prager Jesulein“ und die nationalsozialistische Terrorherrschaft schrieb: „Ist es [das Jesuskind] nicht der ‚heimliche Kaiser‘, der einmal aller Not ein Ende machen soll? Es hat ja doch die Zügel in der Hand, wenn auch die Menschen zu regieren meinen.“3
Historische Einbettung4
Die Wurzeln der Jesuskind-Frömmigkeit reichen bis ins Hochmittelalter, in dem Eucharistiewunder tradiert wurden. Legenden, wonach sich die Hostie auf wundersame Weise ins lebendige Jesuskind verwandelte, erfreuten sich großer Beliebtheit. Vollends entfaltete sich die an der Menschheit Jesu orientierte Verehrungskultur im klösterlichen, mystisch affinen italienischen und deutschen Sprachraum in Form eines geistlichen Spiels. Im 12. Jh. fokussierten sich die Verehrerinnen und Verehrer bewusst auf innere Visionen und verzichteten absichtlich auf materielle Figuren und reale Spielrequisiten. Gertrud von Helfta (1256–1301/02) etwa lehnte diese dezidiert ab, weil solche Utensilien vom eigentlichen Geheimnis und der ungehinderten Schau Gottes ablenken.
Wann und warum eine Transformation zu einer stark objektorientierten Frömmigkeit einsetzte, kann die Forschung bislang nicht eindeutig beantworten. Gesichert ist aber, dass die ältesten Kunstwerke italienischen und deutschen Ursprungs sind sowie aus dem späten 13. bzw. frühen 14. Jh. stammten. Bernhard von Clairvaux (1090–1153) gab der geistlichen Praxis das entsprechende theologische Fundament. Es gibt stehende, liegende oder thronende, bekleidete oder nackte Objekte zwischen neun und fünfzig Zentimetern. Im Laufe der Zeit wurde die realitätsnahe Gestaltung immer wichtiger. Beim kleinen Knaben durften deshalb kleine Speckröllchen um den Bauch, fein geschwungene Ringellöckchen, wie sie nur Prinzen tragen durften, ein präzis ausgearbeitetes Geschlechtsteil sowie vielfältige Accessoires (Kreuz, Passionsfrucht etc.) nicht fehlen. Ab dem 15. Jh. setzte sich die typische stehende Figur, genannt „Weltheiland“, durch, mit Ringellöckchen-Frisur, leicht vorgestelltem linken Bein sowie mit der Weltkugel in der rechten Hand bzw. dem zur Segensgeste erhobenen Arm. In diesem Sujet war die einzigartige Verbindung der menschlichen und göttlichen Natur Jesu Christi angedeutet. Italien, Spanien und Portugal stiegen zu führenden Herstellerzentren auf.
Die Frauengemeinschaften behielten ihre Vorreiter- und Vorbildfunktion bei, aber die Frömmigkeit breitete sich weit über die Klostergrenzen hinaus aus. Berühmte Statuen wie der „Bambino Gesù“ von Aracoeli, das „Reutberger Jesulein“ oder das „Salzburger Lorettokindl“, die der Mittelpunkt weltberühmter Wallfahrtszentren wurden, zeugen von der Beliebtheit dieser Jesusknaben. Im 17. und 18. Jh. hatten sich die kleinen Statuen längst ihren Stammplatz in Klöstern, adeligen Häusern und Pfarrkirchen erobert. Die Verehrungskultur war nicht auf die Weihnachtszeit beschränkt. Sie sollte das gesamte Jahr und das ganze Leben prägen. Jede Familie, die es sich leisten konnte, schenkte der Tochter zum Klostereintritt bzw. zur Hochzeit ein „himmlisches Trösterlein“. Nicht selten reichte man dieses von Generation zu Generation weiter und stattete es mit verschiedenen Kleidchen, je nach liturgischem Festkreis, sowie kostbaren Accessoires aus. In Klöstern war das Jesulein meist obligatorischer Bestandteil der Mitgift. Interessanterweise ordnete man es aber nicht liturgischen Utensilien wie Gebetbüchern u.a. zu; es wurde an oberster Stelle aufgelistet. Es gehörte eben zur bräutlichen Ausstattung und sollte der anfangs wohl von Heimweh geplagten jungen Frau Heimeligkeit, Geborgenheit und zuallererst einen Gesprächspartner schenken. Im Kloster galt die Betrachtung der Inkarnation ebenso wie die Meditation der Passion als höchste Stufe im geistlichen Leben. Insofern waren diese Statuen ein vorzügliches Mittel, um eine tiefe Beziehung zum menschgewordenen Gott aufzubauen und in der Interaktion mit dem Sujet gleichzeitig in Tugenden, Demut, Sanftheit, Geduld o.Ä. zu wachsen und so zur ersehnten Heiligkeit zu gelangen.
Das geistliche Spiel
Häufig wurde und wird diese Frömmigkeit als infantiles Puppenspiel für unreife, einfältige Ordensschwestern diffamiert. Klar ist, dass diese Statuen in der Frühen Neuzeit als eine realpräsente Darstellung Gottes galten und somit Frauen und Männern die Möglichkeit boten, Jesus Christus sinnlich, ungezwungen, persönlich und individuell anzubeten und zu lieben. Im Unterschied zur Eucharistischen Anbetung, welche sich im Katholizismus ab dem 16. Jh. großer Beliebtheit erfreute, aber nur in einer öffentlichen Kirche und lediglich bei Anwesenheit eines Priesters abgehalten werden durfte, konnte etwa die Nonne in ihrer Klosterzelle – im einzigen Rückzugsort, in dem sie ungestört allein war – das göttliche Kindlein nicht nur ostentativ verehren, sondern es ganz nach Belieben umkleiden, wiegen, küssen und sich somit einem sakralen Spiel ohne Grenzen hingeben.
Die papstorientierte, streng hierarchisch aufgebaute Institution fokussierte sich in der Frühen Neuzeit immer mehr auf den Priester als Autoritätsfigur und Repräsentanten der Römischen Kirche. Diesem übertrug sie die Verwaltung des Allerheiligsten, die Monstranz, und stellte ihm auf diese Weise – wie Michel de Certeau5 betont – ein „pastorales Werkzeug“ zur Verfügung. Daher kann man sagen, dass der zur Anbetung ausgesetzte Leib Christi das „‚Sakrament‘ der Institution“ darstellte. Ohne Priester gab es keine Eucharistische Anbetung. Folglich lag es in seiner Macht und Kompetenz, den Gläubigen den Kontakt mit dem in der Monstranz realpräsenten Gott zu gestatten oder zu verweigern. Mit dieser Eucharistiepraxis konnten die Kleriker die Laien gewissermaßen unterjochen und ihre eigene Person als priesterlicher Verwalter des höchsten Guts in den Vordergrund rücken. Doch Jesus Christus wirklich, unmittelbar, direkt geistlich zu „sehen“ und ihm die eigenen Bitten und Nöte vorbringen zu dürfen, war unzähligen Christ(inn)en ein echtes Anliegen und geistliches Bedürfnis.
Insbesondere Ordensfrauen, die sich nach einer innigen Gottesbegegnung sehnten, ließen sich durch diesen instrumentalistischen Gebrauch des Leibes Christi über die Messfeier hinaus nicht zufriedenstellen. Sie suchten eigenwillig und eigenständig nach neuen spirituellen Wegen, um ihre Sehnsucht nach Gottes Gegenwart zu stillen. In der Jesuskind-Statue fanden sie neben einer Lösungsstrategie einen unmittelbaren sakralen Spiel- und Gesprächspartner. Im Jesulein schufen sie sich eine, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene, private (Quasi-)Monstranz. Ich schlage dafür in Anlehnung an Michel de Certeau die Bezeichnung „Sakrament des Individuums“ vor. Es fungierte als göttliches Du, mit dem die Beziehung zu Gott leidenschaftlich, den rigiden und einengenden Anforderungen des streng reglementierten klösterlichen Lebens enthoben, realisiert werden konnte. Hier, in der Statue, war Jesus da, anwesend, präsent, ansprech- und verfügbar. In diesem intimen Zusammensein zwischen Gott und Mensch bekam all das Raum, was die Kirche als Aberglauben, Sentimentalität und Kitsch verpönt, aus der Liturgie ersatzlos gestrichen und den gläubigen Christ(inn)en verboten hatte. In dieser misslichen Lage garantierte das göttliche Kindlein die Anwesenheit Gottes in der Welt. Noch dazu wirkte es wie ein lebendiger Beweis, dass sich Jesus mit den Menschen solidarisch zeigte. Die realitätsnahen Objekte blicken mit großen, erwartungsvollen Augen und sprechendem Mund das Gegenüber an, haben die Arme häufig weit ausgestreckt oder zum Segen erhoben, so als ob sie sich nach Kommunikation, einer Umarmung, kurzum nach echter Begegnung sehnen. Die Statuen ermöglichten es, mit Gott zu „spielen“, d.h. in einer unverzweckten, bedingungslosen Beziehung mit ihm zu leben. Sie wirken schwach, bedürftig, verheißen gleichzeitig als Inbegriff göttlicher Präsenz Vergebung, bedingungslose Liebe sowie die greif- und fühlbare Nähe...
Erscheint lt. Verlag | 6.10.2020 |
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Verlagsort | Würzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Ignatianisch • jesuitisch • Kontemplation • Mystik • Orden • Spiritualität |
ISBN-10 | 3-429-06470-8 / 3429064708 |
ISBN-13 | 978-3-429-06470-9 / 9783429064709 |
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Größe: 2,6 MB
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