1000 Serpentinen Angst (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490951-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

1000 Serpentinen Angst -  Olivia Wenzel
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Longlist - nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020 »Ich habe mehr Privilegien, als es je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen.« Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam. Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.

Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Uni Hildesheim, lebt in Berlin. Sie schreibt Theatertexte und Prosa, machte zuletzt Musik als Otis Foulie. Wenzels Stücke wurden u.a. an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Theater Berlin und am Ballhaus Naunynstrasse aufgeführt.  Neben dem Schreiben arbeitet sie in Workshops mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In der freien Theaterszene kollaboriert sie als Performerin mit Kollektiven wie vorschlag:hammer. »1000 Serpentinen Angst« ist ihr erster Roman. Literaturpreise:Literaturpreis der Stadt Fulda 2020Mörike-Förderpreis der Stadt Fellbach 2021Hugo-Ball-Förderpreis 2023

Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Uni Hildesheim, lebt in Berlin. Sie schreibt Theatertexte und Prosa, machte zuletzt Musik als Otis Foulie. Wenzels Stücke wurden u.a. an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Theater Berlin und am Ballhaus Naunynstrasse aufgeführt.  Neben dem Schreiben arbeitet sie in Workshops mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In der freien Theaterszene kollaboriert sie als Performerin mit Kollektiven wie vorschlag:hammer. »1000 Serpentinen Angst« ist ihr erster Roman. Literaturpreise: Literaturpreis der Stadt Fulda 2020 Mörike-Förderpreis der Stadt Fellbach 2021 Hugo-Ball-Förderpreis 2023

Für mich [...] eins der krassesten Leseerlebnisse des Jahres. [...] ganz abgesehen von der Thematik ist es in der literarischen Bauart eines der besten Bücher 2020.

das Resultat der Erinnerungsarbeit einer Autorin, die sich ihren Traumata bewundernswert hartnäckig stellt

Sehr intensiv!

Ein Coming Out, das es so in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bisher selten gab und das doch so notwendig ist [...]

[...] literarisch souverän. [Olivia Wenzel] unterschlägt nichts, das ist der bleibende Eindruck dieses eindrucksvollen, schonungslosen, zärtlichen Romans.

All das in Schichtungen und Überlagerungen in einem dichten Netz aus Motiven zu erzählen, ist eine reife literarische Leistung.

Autorin Olivia Wenzel findet eine ganz neue Sprache für ihre Icherzählerin - eine Wucht!

Ein wunderbares Buch auch über die Krisen des Ich in den durch Globalisierung bedrohten Gesellschaften.

eine kluge und berührende Reflexion über Rassismus und Sexismus, Osten und Westen, Herkunft und Verlust, Angst und Hoffnung

Olivia Wenzels vielgestaltiger Roman zeigt die eindeutigen und die verdeckten Formen der Ausgrenzung.

Olivia Wenzel ist ein starkes Debüt gelungen, eine rührende Familiengeschichte und ein lakonisches, rasantes Buch über Herkunft, Verlust und Rassismus.

Wie Olivia Wenzel [...] nach Antworten auf [...] Identitätsfragen sucht, das hat so viel Witz und Intelligenz, dass man die Befindlichkeiten dieser Figur gut nachempfinden kann.

WO BIST DU JETZT?

Ich befinde mich in Durham, North Carolina, dem zweitnördlichsten der US-amerikanischen Südstaaten.

WAS IST DEIN LIEBLINGSESSEN?

Gestern habe ich mich in eine lokale Spezialität verliebt: Dicke, warme Waffeln mit Nüssen, Ahornsirup und Schokoladencreme werden serviert mit einem Topping aus frittierten Chickenteilen, also wahlweise mit vier Hähnchenflügeln oder -beinen.

PERVERS.

Ja.

WO WOHNST DU?

In einem soliden Hotel. Es gibt eine Klimaanlage, die Fenster kann man nicht öffnen. Wenn die Reinigungskräfte fertig sind, schalten sie alle fünf Lampen an, auch wenn ich nicht da bin. Im Innenhof leuchtet rund um die Uhr der Pool, obwohl es viel zu kalt ist.

UND WIE GEHT ES DIR? WAS IST MIT DEINEN AUGEN?

WAS MACHST DU MORGEN?

Ausschlafen.

ERZÄHL MIR NOCH MEHR VOM ESSEN.

Ein gut besuchtes Restaurant, es läuft unauffällige Musik. Die schwarze Kellnerin fragt mich: You want them wings or them drumsticks?

Drumsticks please, sage ich. Dann sagt sie, dass meine Frisur ihr gefalle. Ich sage: This was more of an accident, but now I like it. Wir lächeln uns an, als wären wir Freundinnen. Ich fühle mich plötzlich wohl … Zugehörig.

NETT.

Das Essen schmeckt mir, die Kombination aus Waffel und Hühnchen ist falsch, irritierend, perfekt. Es gibt keine weißen Angestellten im Laden, bloß ein paar weiße Gäste. Am Nachbartisch sitzt eine Mutter mit ihrem Sohn, beide schwarz, beide für die Dauer des Restaurantbesuchs in die Tiefen ihrer Handys abgetaucht. Der Junge sieht verträumt aus, spielt Autorennen, sein Körper ein bisschen zu groß für ihn selbst.

DAS HAST DU SCHÖN GESAGT.

Seit ich in den USA bin, sehe ich zuallererst die Hautfarbe der Menschen.

COOL.

Nein.

JETZT MACHST DU WIEDER DAS GESICHT.

LASS DAS BITTE, DAS IST DEIN WEISSES PRIVILEG-GESICHT.

Sorry, das war unbewusst.

IN ANGOLA HABEN SIE KOKOSNUSS ZU DIR GESAGT, ODER? AUSSEN BRAUN, INNEN WEISS. WENN DU DIESES GESICHT MACHST, VERSTEHE ICH, WIE SIE DARAUF KOMMEN.

Alle wollen ständig mit mir über Rassismus sprechen. Das ist doch nicht meine Lebensaufgabe.

DU HAST DOCH DAVON ANGEFANGEN.

WO BIST DU JETZT?

Immer noch in Durham, North Carolina.

WO BIST DU ZUHAUSE?

WAS SAGST DU?

WAS SAGST DU?

Ich sage, dass viele Schwarze sich hier kein Auto leisten können, aber dass die Stadt ausschließlich fürs Autofahren gebaut ist. Ich sage, dass ein schwarzes Pärchen letztes Jahr von einem stadtbekannten Rassisten auf dem Campus erschossen wurde. Ich sage, dass die Weißen auf dem Land viele Waffen haben und ich da besser nicht hingehe. Ich sage, dass auf dem Campus eine große Statue auf einem Sockel steht, die Silent Sam heißt, zu Ehren all jener, die im Bürgerkrieg gekämpft haben – für den Süden, gegen Lincoln. Ich sage, dass die Weißen ihre Gelder vom Campus abziehen, falls jemand die Statue anrührt, und dass nach Protesten der schwarzen Community ein Denkmal neben Silent Sam gesetzt wurde für alle afroamerikanischen Sklaven, die die Uni erbaut haben. Ich sage, dass das neue Denkmal aussieht wie ein Campingtisch: Eine große, runde Platte wird von gartenzwergähnlichen Figuren über Kopf gestemmt. Ich sage, dass diese Sklavinnen in die Erde eingelassen dastehen, als würden sie im Treibsand versinken, und dass manche Leute das neue, kleine Denkmal als Sitzfläche genutzt haben. Ich sage, dass man daraufhin Sitzhocker ringsherum gebaut hat, und das Denkmal dadurch wirklich ein Tisch geworden ist. Ein Tisch, den die schwarze, versklavte Bevölkerung hochhält, aus dem Morast heraus, eine selbstverständliche Ablagefläche, von der weiße, wohlhabende Studentinnen in der Pause ihr Lunch essen. Ich sage, dass ich mir nichts von alldem ausgedacht habe.

DASS DIE SCHWARZEN GLAUBEN, SCHWARZ ZU SEIN, UND DIE WEISSEN WEISS.

Was?

DASS DIE SCHWARZEN GLAUBEN, SCHWARZ ZU SEIN, UND DIE WEISSEN WEISS.

Ja.

WAS IST MIT DEINEN AUGEN?

Verheult.

UNTYPISCH.

Na ja.

SEIT WANN IST ES EIGENTLICH PEINLICH, ÖFFENTLICH ZU WEINEN?

Manchmal komme ich abends ins Hotel, schaue stundenlang HBO auf dem riesigen Flatscreen, um mich vor meinen Gefühlen zu verstecken. Bis der Schlaf kommt. In der Nacht träume ich von jungen schwarzen Männern, die aus Flugzeugen in den Tod springen und dabei wütend die Namen weißer US-Amerikanerinnen rufen.

Ashley, Pamela, Hillary, Amber!

Viele Wolken, viele Namen, ein tiefes Fallen, am Ende kein Aufprall, bloß mein Erwachen.

WIE DU LOSGESCHLUCHZT HAST, ALS DIE STEWARDESS GEFRAGT HAT:

Do you want a cookie?

Ich habe geweint wie ein Kind, eine Stunde lang, rotzbesoffen über den Wolken.

DEIN WEICHES, OBSESSIVES HERZ. WENN DU’S AUFESSEN KÖNNTEST, WÜRDEST DU’S TUN?

Es kommt darauf an, wer es mir anbietet. Wie der Service ist. Womit es serviert wird.

FÜHLST DU DICH WOHL AN ORTEN, AN DENEN LEUTE FÜR DICH ARBEITEN?

Ja, sehr. Service-Inseln beruhigen mich.

VIELLEICHT, WEIL MAN HIER WÄHREND DER ARBEIT NICHT ÜBER POLITIK SPRICHT. DAS MACHT DIE ATMOSPHÄRE WEICH UND HARMLOS.

Andersherum geht es schon; die Politik spricht ständig über die Arbeit.

Watch now: the 10 most popular topics of politics of all times! Number seven: the future of labour!

Wir sind so gewöhnt an das Heilsversprechen von mehr Arbeitsplätzen, dass wir uns gar nicht mehr wundern, wenn einer vorbeikommt und flüstert:

Hello little slave of work – shake your booty, make it twerk!

WAS SOLLEN MENSCHEN SEHEN, WENN SIE IN DEIN GESICHT SCHAUEN?

Mich?

MIT WEM TRÄGST DU DEINE KONFLIKTE AUS?

Mir?

HAST DU JEMALS IN EINER TERRORISTISCHEN ORGANISATION MITGEWIRKT?

Nein.

WARST DU JEMALS TEIL EINER KRIMINELLEN ORGANISATION?

Nein.

IST DEIN HERKUNFTSLAND SICHER?

Nach welchen Kriterien?

WO BIST DU GEMELDET?

Zuhause.

WAS BEDEUTET DAS?

WO BIST DU JETZT?

Vor ein paar Tagen war ich in New York. In der Wahlnacht saß ich in einer Bar in Manhattan, nur wenige Blocks von Trump und Clinton entfernt.

WEITER, WEITER.

Ich unterhalte mich mit britischen Managern von Shell, wir sind besoffen und guter Dinge.

Cheers!

Ich habe mir Toleranz vorgenommen, will sie nicht verurteilen. Überraschend angenehme, eloquente Männer; wir kommen gut miteinander aus. Einer sagt, er sei Feminist, Angela Merkels Politik zerstöre Syrien, weil niemand zurückkehre, um das Land aufzubauen, Hillary Clinton habe so gut wie gewonnen. Der andere, Kee-nic, ist euphorisiert. This is amazing, wiederholt er immer wieder in British English, seine tiefe Stimme und die wohlklingende Sprache des ehemaligen Kolonialreichs ziehen mich an.

WELCHES DETAIL UNTERSCHLÄGST DU?

WELCHES DETAIL UNTERSCHLÄGST DU?

Und seine ›Ethnie‹.

WAS?

Seine ›Ethnie‹ zieht mich an. Aber es ist mir unangenehm, das so zu sagen. Oder zu denken.

WARUM?

This is amazing, sagt Kee-nic und meint die Stimmung dieser New Yorker Nacht, die Wahl, die Vorahnungen, vielleicht unser aller Gefühl, einem historischen Moment beizuwohnen. Gegen Mitternacht gehe ich mit ihm ins Hotel; wir sind überzeugt, dass am Morgen die erste weibliche Präsidentin der USA feststeht. Gegen halb drei haben wir uns betrunken in den Schlaf gevögelt. Mein Handy vibriert, Nachrichten meiner deutschen Freunde.

Nine eleven – eleven nine!

Pass auf dich auf!

What the fuck?

Ich schalte den Fernseher an, Trump beginnt gerade seine Rede. Kee-nic wacht auf, schmiegt sich an mich (so glatte Haut der Mann und riecht so gut, ist das Kokosöl?), wir schlafen noch mal miteinander. Während er mit seinem akkurat trainierten Managerkörper vor sich hinstößt, bekomme ich die Augen nicht vom Fernseher. Kee-nic stöhnt etwas, ich verstehe es nicht, er wiederholt es darum zweimal: This is amazing. This is amazing.

Donald Trumps Familie sieht tatsächlich geschockt aus, denke ich, während ich mich im 16. Stock eines Manhattaner Luxushotels von einem Mann ficken lasse, dessen Firma programmatisch die Umwelt zerstört.

UND VIER STUNDEN SPÄTER IM FLUGZEUG NACH DURHAM DIE NETTE STEWARDESS MIT DEN COOKIES.

WO BIST DU JETZT?

Immer noch in Durham.

Hier steht auf eine Wand gesprüht: Black lives don’t matter and neither does your votes.

HAST DU JEMALS EIGENTUM DEINER REGIERUNG BESCHÄDIGT?

Black lives don’t matter and neither does your votes. Ich glaube, das ist kein...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2020
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angola • Anspruchsvolle Literatur • Black lives matter • DDR • Deutschland • Familie • Krise • Longlist Deutscher Buchpreis • MeTwo • Orientierung • People of Colour Community • Punk • Schwarz • Suizid • Verlust
ISBN-10 3-10-490951-2 / 3104909512
ISBN-13 978-3-10-490951-6 / 9783104909516
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