Kein Land in Sicht (eBook)

Gespräche mit Liedermachern und Kabarettisten der DDR
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
336 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-452-4 (ISBN)

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Kein Land in Sicht -
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Zwischen 1990 und 1992 reiste der Journalist und Autor Michael Kleff durch ein »verschwindendes« Land und fragte Künstler in Ostdeutschland nach ihren Erfahrungen und Erwartungen. Es ging dabei um die Bewältigung der eigenen Vergangenheit in der DDR, aber auch um Probleme der Existenzsicherung. Die Friedliche Revolution von 1989 hatte zweifellos eine Befreiung der Kunst und der Künstler gebracht. Doch war beim schnellen Zusammenschluss mit der Bundesrepublik im kulturellen Bereich manches verloren gegangen.
Die Interviews mit 30 Liedermachern und Kabarettisten aus den ersten Monaten der (Nach-)Wendezeit eröffnen neue Blicke auf die historischen Ereignisse, die sich 2019 zum 30. Mal jähren. Zugleich helfen sie beim Verständnis heutiger Kultur- und Politikdebatten.

Michael Kleff: Jahrgang 1952, lebt und arbeitet in Bonn und New York, Journalist, Autor zahlreicher Radiofeatures zu politischen und musikalischen Themen, von 1998 bis 2014 Chefredakteur der Musikzeitschrift Folker, mehrere Veröffentlichungen. Hans-Eckardt Wenzel: Jahrgang 1955, seit 1981 freischaffender Musiker, Autor, Komponist, Clown, Regisseur und Sänger, lebt und arbeitet in Berlin, Veröffentlichung mehrerer Gedichtbände sowie mehr als 40 CDs, zahlreiche Auszeichnungen.

Hans-Eckardt Wenzel

»Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt …«


… so beginnt der Refrain vom »Lied der Weltjugend«, geschrieben 1947 aus Anlass des Weltjugendtreffens in Prag vom sowjetischen Komponisten Anatoli Nowikow und dem Textdichter Leo Oschanin. Es beschwört eine Zeit nach dem großen Krieg in der Hoffnung, dass die jungen Leute sich in Freundschaft verbunden sein mögen für die Neuordnung Europas. Der Kalte Krieg zog zwar bereits neue Grenzen durch den Kontinent, aber noch schien alles möglich. Ein europäischer Friedenstraum. Die freie deutsche Nachdichtung des Liedes besorgte der Arbeiterdichter Walter Dehmel, ein eigenwilliger Poet aus Berlin, der unter den Repressalien der Faschisten zu leiden hatte und sich mit großer Anteilnahme beim Aufbau der neuen Republik engagierte. Dieses Lied hat wahrscheinlich jeder Jugendliche der DDR mindestens einmal singen müssen in seinem Leben. Die zackige Marschmelodie besaß solch markante Kontur, dass selbst ein Mainzer Fastnachtsbarde nicht an ihr vorbeigehen konnte. Am 2. Februar 1964 erklang das Weltjugendlied, vorgetragen vom Dachdeckermeister Ernst Neger in Begleitung des Pianisten Toni Hämmerle, in der TV-Sendung »Mainz, wie es singt und lacht«. Allerdings hatte Herr Neger dem Lied, das die Ländergrenzen überfliegt, einen neuen Text verpasst, der ausgelassenen Stimmung im Wirtschaftswunderfasching um einiges angemessener: »Humba, Humba, Humba, Humba, Täterä!« Das Lied wurde ein Knaller und für Generationen zur Hymne bundesdeutscher Feierlaune. Die 60 000 DM Tantiemen, die das Lied dem Komponisten einbrachte, musste er nicht nach Moskau an Nowikow überweisen. Die Welt war aufgeteilt. Aber der Gebrauch dieses Liedes verweist vielleicht hinterrücks auf einige Besonderheiten in der Geschichte von Ost und West.

Die Deutschen sangen immer gern – ob »unter der Linden« oder auf Wanderschaft, ob am Lagerfeuer der Freideutschen Jugend gegen den heraufziehenden Weltkrieg oder beim Hochzeitsfest oder in der Kirche. Der Gesang vermochte ihren ach so melancholischen Seelen ein wenig Licht zu stiften – sei es durch die in der Erinnerung bewahrten Lieder der Alten oder die Sehnsuchtswallungen der Romantik: all die großen Schmerzen, die Heinrich Heine in die kleinen Lieder packte oder Franz Schubert oder der bittere Spott Frank Wedekinds oder die klare, fast biblische Sprache Brechts mit den Melodien Eislers und Weills. Eine lange Tradition nachdenklicher Gesänge, aber auch harte, von Männlichkeit strotzende Soldatenlieder. All diese Lieder sprachen aus tiefstem Herzen, denn die Deutschen haben sehr, sehr tiefe Herzen, manchmal keine großen, aber sehr, sehr tiefe. Und wenn die Sehnsucht brannte, dann gab es ein Lied.

Doch die großen Kriege, die Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert vom Zaune gebrochen hatte, hinterließen auch in den Liedern und im Gebrauch der Sprache ihre Spuren. In den Liedern lassen sich mit archäologischem Blick, ähnlich dem in die Erdschichten, die Indizien des wirklichen Lebens auffinden, in ihren Variationen oder Veränderungen des Gestus, in ihrer Kraft zur Verführung, denn sie begleiten den Menschen atemnah vom ersten bis zum letzten Ton auf seinem Weg. Die Verwüstungen waren enorm nach dem zweiten großen Weltkrieg, nach zwölf Jahren Nationalsozialismus, zwölf Jahre, in denen eine kulturelle Tradition der Moderne rigoros aus dem Land getrieben worden war und die Sprache großen Schaden genommen hatte. Die Dichter, bedroht und verfolgt, mussten fliehen, und das Leben ging ohne sie weiter im Land. Übrig geblieben war ein Surrogat aus »Sentimentalität und Brutalität«, wie es der Komponist Hanns Eisler beschrieb. »Nun muss sich alles, alles wenden …«, heißt es in Uhlands »Frühlingsglaube« (die schöne Melodie von Schubert klingt dabei mit!) – das war der Ausgangspunkt nach dem Ende der Schrecken, die erst Stück um Stück sichtbar wurden, dieses »nach Auschwitz«. Die Aussage, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden könnten, stand im Raum. Die Vertriebenen kehrten teilweise heim und mit ihnen ein anderes Deutschland, und die Skepsis gegen die eigene Kultur war begründet, denn sie hatte die Barbarei nicht verhindern können.

Als trüge die Sprache Mitschuld, gab es auch ein Misstrauen gegen sie, gab es ein Misstrauen gegen den Reim, den Einklang, das Liedhafte. Günter Eich reimte nur noch »Hölderlin« auf »Urin«, mehr schien nicht mehr erträglich an Harmonie. Und Dichter, die der Liedform die Treue hielten, wie Theodor Kramer, galten als unmodern und wurden im Literaturbetrieb des Nachkriegslandes nicht ernst genommen. Kurz gesagt: Das Lied war verdächtig geworden. (Obwohl ein Medium nie etwas dafür kann, wie es gebraucht bzw. missbraucht wird!)

Als aus dem Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches schließlich zwei Staaten entstanden, an der Nabelschnur ihrer jeweiligen Besatzungsmächte, entwickelten sich auch zwei Arten der Kultur und also auch der Lieder.

Das Verhältnis zur deutschen Sprache unterschied sich in Ost und West. Während im Westen die Muttersprache in ihrem konservativen Gebrauch durch die alten, neuen Eliten von den Jungen als Fortführung faschistischer Traditionen betrachtet wurde, gab es im Osten, gefördert durch eine Konzeption der Volksfront und ein Besinnen auf klassische Normen, eine andere Kontinuität. Man konnte Brecht oder Ernst Busch nicht vorwerfen, dass sie Faschisten waren. Ihre Sprache schien unbeschädigt auch für die Generation, die eben begann, ihren Weg zu finden. In der Bundesrepublik gab es bis weit in die Fünfzigerjahre einen Brecht-Boykott, in Österreich sogar noch länger.

So bewegte sich in der Bundesrepublik das politische oder engagierte Lied in Richtung Nordamerika. Nicht aus Opportunismus, weil es die kulturbestimmende Option der Besatzungsmacht war, sondern weil es neben dem Misstrauen gegen die Geschichte der Eltern eine Weltentdeckung bedeutete, die Entdeckung einer aufmüpfigen Tradition, sozialen und politischen Protestes, getragen von einer Sprache, die andere Musikalität für das Lied ermöglichte. Da gab es Phänomene, die dem europäischen Musikverständnis, das sich stark durch Harmonie und Kontrapunkt definierte, Neues zur Seite stellten: Groove. Der Swing als Welthaltung. Nicht die preußischen Achtelnoten, nein, es gab eine Hinwendung zu übergebundenen Triolen, die eine neue Dimension in das rhythmische Gefüge einzubringen imstande waren. Das war sexy. Sexy war auch die Gitarre. Es entstand eine globalisierte Jugendkultur, verwurzelt im Blues der Sklaven Amerikas und aus den Neuansätzen der Folkbewegung vor allem durch Woody Guthrie. Ein kultureller Aufbruch fand statt in der westlichen Welt. Eine Initiation, die bis heute Pop- und Folkmusic bestimmt. Die Gravitationskraft dieser Musik machte auch vor dem Eisernen Vorhang nicht halt, obwohl der Osten stärker dem Einfluss slawischer Tradition ausgesetzt war. Vielleicht ist die verstärkte Hinwendung zu Moll-Tonarten ein Ergebnis dieser Öffnung nach Osten. Die angelsächsische Musizierweise aber strahlte Modernität aus und beeinflusste auch den Osten, obwohl dies begrenzt werden sollte, eine Option des Klassenkampfes gegen den »amerikanischen Imperialismus«. Schließlich gab es bis in die Achtzigerjahre in der DDR eine Quotierung für den Rundfunk und für Live-Auftritte von Rockbands, das sogenannte 60 : 40-Prinzip; es bedeutete, mindestens 60 Prozent der Darbietungen mussten deutschsprachig sein. (Im frisch vereinigten Deutschland gab es eine ähnliche Initiative von Künstlern! Aber Quoten lösen das Problem nicht, sie befrieden nur die Widersprüche.)

Der kulturelle Aufbau der DDR begann mit dem Versuch, die klassische Liedtradition und das Arbeiterlied gegen die Nazilieder zu setzen. Es gab einen großen Fundus aus dem spanischen Bürgerkrieg, den Kämpfen der Zwanzigerjahre. Aber ganz so einfach funktionierte diese Wiederbelebung nicht. Der große Sänger Ernst Busch wurde in den Fünfzigerjahren mit einem Auftrittsverbot belegt, und die Liedkompositionen von Eisler und Dessau gerieten schnell unter den Verdacht des »Formalismus« und kamen in die Schusslinie der Kulturfunktionäre.

Wo waren die Orte zum Singen in der jungen DDR? Im Volkschor, im Kirchenchor (mehr beargwöhnt als gefördert von staatlicher Seite), im Konzertsaal, bei der Armee. Das hatte eine altbackene Ästhetik und taugte nicht für die Suche der neuen Generation nach Sinn. In den Sechzigern entstanden, angeregt durch die ersten Beat-Gruppen im Westen, Combos mit E-Bass, Elektrogitarre und Schlagzeug, ein Andocken an die Welt, an Lieder, die über Ländergrenzen fliegen können. Beatles und Rolling Stones und andere Bands wurden gehört und übten einen stilprägenden Einfluss aus. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Anstoß, das Lied in der DDR neu zu beleben, von einem Kanadier kam. Perry Friedman beschreibt diesen Vorgang sehr interessant in seinem Interview. Es ging darum, dem gemeinsamen Singen einen neuen Sinn zu geben, neuen Raum und neue Gründe. Aus dieser Hootenanny-Bewegung entstand...

Erscheint lt. Verlag 29.5.2019
Reihe/Serie Zeitgeschichte
Co-Autor Lutz Kirchenwitz
Illustrationen Thomas Neumann
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 140 x 140 mm
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Annekathrin Bürger • Arno Schmidt • Barbara Kellerbauer • Bettina Wegner • Bianca Tänzer • Biografien • Chanson • DDR • Dieter Kalka • Dirk Michaelis • Edgar Harter • Friedliche Revolution • Gerd Eggers • Gerd Krambehr • Gerhard Gundermann • Gina Pietsch • Gisela Kraft • Gisela May • Gisela Oechelhaeuser • Hans-Eckart Wenzel • Interviews • Jens Quandt • Jörg Sobiella • Jürgen Walter • Kabarett • Liedermacher • Martin Miersch • Matthias Görnandt • Musik • Norbert Bischoff • Ostdeutschland • Perry Friedman • Peter Ensikat • Politisches Lied • Rainer Schulze • Stefan Körbel • Stephan Krawczyk • Udo Magister • Wende
ISBN-10 3-86284-452-8 / 3862844528
ISBN-13 978-3-86284-452-4 / 9783862844524
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