Die Warnung (eBook)

Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an
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2019 | 1. Auflage
272 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-24673-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Warnung -  Hans-Jürgen Papier
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Vor dem Gesetz sind alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zunehmend zu Lasten der Freiheit verloren geht? Wenn zwar der Sozialstaat weiter ausgebaut wird, die Kernaufgaben des Rechtsstaates aber vernachlässigt werden? All dies ist heute in Deutschland zu beobachten und weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt eindringlich vor einer Erosion des Rechtsstaates, insbesondere vor einer Schwächung der Judikative.

Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier wurde im Februar 1998 zum Vizepräsidenten und im April 2002 zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Wegweisend in seiner Amtszeit war unter anderem das Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung - ein weitreichender Richterspruch zum Schutz der Freiheitsgarantien der Bürger. Nach 12 Jahren schied Prof. Papier 2010 aus dem Bundesverfassungsgericht aus und nahm seine frühere Tätigkeit als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München wieder in vollem Umfang auf. Seit 2011 ist er emeritiert und nach wie vor in der Lehre tätig.

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Der Wert der Freiheit: oft unverstanden und missachtet

Bevor wir uns mit den Bedrohungen des Rechtsstaats auseinandersetzen, ist es wichtig, uns nochmals das Rückgrat unserer Demokratie bewusst zu machen. Das sind die Grundrechte – sowie die bürgerliche Freiheit und Unabhängigkeit, für die sie in vielen Fällen stehen.

Keine Demokratie ohne Grundrechte

Warum ist es so wichtig, dass wir in Deutschland in einem »Rechtsstaat« leben? Schließlich kennen viele Nationen diesen Begriff gar nicht und setzen ihn mit »Demokratie« oder »Verfassungsstaat« gleich. In Ländern wie der Türkei, aber auch in Polen, Ungarn oder sogar den USA verunglimpfen führende Politiker den Rechtsstaat als Hindernis und schwärmen von einer »illiberalen Demokratie«. Man beginnt auch bei uns, darüber zu diskutieren, ob es eine Demokratie ohne Rechtsstaat geben kann. Das ist jedoch eine sehr gefährliche Entwicklung.

Eine Demokratie ohne rechtsstaatliche Ordnung ist weder erstrebenswert, noch kann sie auf Dauer existieren. Denn dass »das Volk« regiert, das zeigen viele historische Beispiele, bedeutet nicht automatisch, dass ein Staat prosperiert. Demokratie führt auch nicht zu Gerechtigkeit, sondern unweigerlich in eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Ohne Rechtsstaat wären die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes also der Willkür ausgeliefert.

Deshalb legt das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) fest, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Und damit der Gesetzgeber den Geist der Verfassung nicht einfach ändern kann – auch nicht, wenn er dies mit demokratischen Mehrheiten tun will –, enthält das Grundgesetz einen Kanon fundamentaler und unverbrüchlich festgeschriebener Rechte, die ihm quasi eingebrannt sind. Sie dürfen nicht wesentlich verändert werden. Diese Grundrechte sind der Kern unseres Rechtsstaats und damit unserer Demokratie. Auch die Europäische Union gründet sich auf ähnliche Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 des EU-Vertrages).

Heute erscheint uns das selbstverständlich, doch im 19. Jahrhundert war dies noch anders: Die Bürger hatten nur die Rechte, die ihnen von den jeweiligen deutschen Staaten verliehen wurden, aber auch jederzeit wieder entzogen werden konnten. Gesetze durften der Verfassung inhaltlich widersprechen. Auch die Grundrechte in der 1919 verkündeten Weimarer Reichsverfassung hatten keinen Vorrang vor den Befugnissen des Parlaments und des Reichspräsidenten, wie auch die Bürger nicht vor verfassungswidrigen staatlichen Handlungen geschützt waren. Die Erfahrung der Instabilität der Weimarer Republik und der folgenden totalitären Diktatur der Nationalsozialisten veranlasste die Mitglieder des Parlamentarischen Rates 1948/49, das zu ändern. Sie schrieben Grundrechte fest, an denen weder das Parlament als Gesetzgeber noch der Staat insgesamt rütteln können.

Die Herrschaft des Rechts ist uneingeschränkt und unverbrüchlich; was das allerdings konkret bedeutet, lässt sich nicht leicht auf einen definitorischen Nenner bringen. In der Praxis wird der Rechtsstaat stark von der Werteordnung beeinflusst, die sich in den Artikeln des Grundgesetzes ausdrückt. Zu seinen konstituierenden Prinzipien gehören außerdem: Die Gerichte sind unabhängig. Nur der Staat darf Recht unmittelbar durchsetzen, zur Not auch mit physischer Gewalt. Die Bürger können zur Verteidigung ihrer Rechte ein Gericht anrufen (»staatliche Justizgewährung«).

Der Wert der Freiheit

Auch wenn Deutschland fast ein halbes Jahrhundert lang durch eine Mauer getrennt war, denken wohl zumindest im westlichen Teil der Bundesrepublik die wenigsten Menschen im Alltag über die Freiheit nach. Sie ist uns selbstverständlich. Das ändert sich erst an dem Punkt, an dem wir das Gefühl bekommen, in unserer persönlichen Freiheit im Übermaß beschnitten zu werden. Denn so, wie die Freiheit des Autofahrens durch den nächsten Stau ihre Grenzen findet, so müssen wir in einer Demokratie den Mitbürgern in unserer Gesellschaft dieselben Rechte zubilligen, wie wir sie für uns in Anspruch nehmen – und das führt automatisch zu Beschränkungen. Doch Freiheit darf nur begrenzt werden um der größeren Freiheit aller willen. Dies bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Allgemeinheit – in Gestalt der demokratischen Gesetzgebung. Individuelle Freiheit und kollektive Freiheit bedingen also einander wechselseitig. Einer allein kann nicht frei sein.

Das Verhältnis zwischen Individuen ist jedoch nur die eine Seite des Freiheitsbegriffs. Historisch älter und bedeutsamer ist die Freiheit gegenüber dem Staat. Seit der Aufklärung ist sie die wichtigste staatsphilosophische wie auch politische Forderung; im Kern zielt sie auf die Befreiung von Furcht. So formulierte der große niederländische Philosoph Baruch de Spinoza bereits 1670: »Der letzte Zweck des Staats ist nicht zu herrschen, noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den Einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht, zu sein und zu wirken, ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann […] Der Zweck des Staats ist in Wahrheit die Freiheit.«

20 Jahre zuvor, 1651, hatte der englische Mathematiker Thomas Hobbes, geprägt von der anhaltenden Gewalt der Kriege, politischen Umstürzen und religiösen Auseinandersetzungen in seinem Land, die Idee einer starken Staatsmacht entwickelt. An sie sollten die Untertanen per Vertrag ihre natürlichen Rechte abtreten. Am besten repräsentiert würde die Macht, so Hobbes in seinem Leviathan, durch den absolutistischen Herrscher, da ohne ihn die Gesellschaften »im Naturzustand« dem egoistischen Krieg aller gegen alle zum Opfer fallen würden. Macht gegen Schutz war also das Konzept von Hobbes, der von sich selbst schrieb, dass er schon »mit einem Zwilling aus Angst« geboren worden war. Der Preis für den Schutz war der Verzicht auf Freiheit.

Hobbes war bereits zu Lebzeiten heftig für seine Staatsphilosophie kritisiert worden, denn andere wollten nach den europaweiten Verwüstungen und Umbrüchen des Dreißigjährigen Kriegs den Staat nun lieber als Friedenseinheit etablieren und dazu die Rechte des Herrschers einschränken. Zu diesem Kreis gehörte auch der englische Arzt und Landbesitzer John Locke, der durch die Förderung prominenter Patienten politischen Einfluss gewann. Er postulierte die Gleichheit und Unverletzlichkeit der vernunftbegabten Mitglieder einer Gesellschaft. Ihre Freiheit bestehe gerade darin, sich nicht den Entscheidungen eines anderen zu unterwerfen. In diesem Impetus von Aufklärung und Liberalismus wurzelt auch unser moderner Verfassungsstaat christlich-abendländischer Prägung.

Bis heute ist er Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach Sicherheit – mehr noch: Er schützt seine Bürger nicht nur vor Gefährdungen von außen wie Gewalt, Verbrechen und Not, sondern auch von innen. In unserem modernen Verständnis kann aber nur ein solcher Staat den äußeren wie inneren Frieden gewährleisten, dessen Macht durch Bürger- und Menschenrechte begrenzt ist. Der moderne Rechts- und Verfassungsstaat hat also, das ist wichtig, eine dienende Funktion. Er beschränkt sich selbst, indem er eines seiner wichtigsten Ziele darin sieht, Freiheit zu ermöglichen. Um das zu tun, braucht er das Recht. Bürger- und Menschenrechte sind also im Kern Abwehrrechte.

Sicherheit als Staatsziel

Unsere Vorväter wollten mit dem Staat die »Furcht« besiegen. In moderner Auffassung verlangen wir heute »Sicherheit«. Da werden wieder Rufe nach einem »starken Staat« laut. Aber was bedeutet »stark« in einem Rechtsstaat? »Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren«, ist ein berühmter Ausspruch von Benjamin Franklin, einem der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Schon bei der Gründung der ersten modernen Demokratie war also die sensible Balance von Freiheit und Sicherheit ein Thema. Beide sind Ziele mit Verfassungsrang. Das Gewaltmonopol des Staats, das Frieden und Sicherheit gewährleisten soll, darf aber nicht auf Kosten der liberalen, staatsbegrenzenden und freiheitsverbürgenden Funktionen des Rechtsstaats gehen. So weckt die Furcht vor Terroranschlägen zwar vielleicht unsere elementaren Sicherheitsbedürfnisse, aber das darf uns nicht dazu verleiten, unsere Freiheitsrechte, das hohe Gut unserer verfassungs- und rechtsstaatlichen Errungenschaften, dafür zu opfern.

Es gibt also auch kein »Supergrundrecht« auf Sicherheit, wie das 2013 der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) nach einer Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags sagte und damit letztlich Abhöraktionen des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA in Deutschland zu verharmlosen suchte – gemäß dem Motto »Terrorabwehr vor Datenschutz«. Wenn Terror die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Ordnung zum Ziel hat und dafür auch noch planmäßig Menschenleben einsetzt, ist es ganz klar, dass der Staat das mit effektiven Mitteln bekämpfen muss. Die Maxime des Rechtsstaats dabei lautet aber: Der Staat hat sich bei der Auswahl seiner Mittel auf diejenigen zu beschränken, deren Einsatz mit der Verfassung, insbesondere mit den Grundrechten, in Einklang steht. Seine Kraft zeigt sich gerade darin, dass er sich auch im Umgang und im Kampf mit seinen Gegnern den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen unterwirft.

Die Verfassung in Schräglage

Ich habe bereits früher...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Asyl • Bundesverfassungsgericht • Demokratie • eBooks • Gerechtigkeit • Gewaltenteilung • Im Recht • Jens Gnisa • Judikative • Rechtspolitik • Thomas Fischer
ISBN-10 3-641-24673-3 / 3641246733
ISBN-13 978-3-641-24673-0 / 9783641246730
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