In der Mitte ihres Lebens (eBook)

Erzählung

Gerold Necker (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
123 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-73739-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In der Mitte ihres Lebens -  Samuel Joseph Agnon
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Samuel Joseph Agnon, der von 1912 bis 1924 in Deutschland lebte, ist der Klassiker der modernen hebräischen Literatur, ein Autor von weltweiter Geltung und Wirkung, der 1966, zusammen mit Nelly Sachs, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein Werk beschreibt die Hoffnungen und das Scheitern an der Grenze zwischen jüdischer Tradition und säkularer Moderne. Die Erzählung In der Mitte ihres Lebens schildert aus der Perspektive des Mädchens Tirza, das früh seine Mutter verlor, die gesellschaftlichen Zwänge und die Sehnsucht nach geglückter Liebe. In einer bürgerlichen Welt, in der Bildung erwünscht, religiöse Tradition aufgegeben oder am Verblassen ist, wird der heranwachsenden jungen Frau zunehmend bewusst, dass sie sich trotz ihrer eigenen freien Lebensentscheidungen der ihr zugedachten Rolle nicht entziehen kann. Agnons Erzählung In der Mitte ihres Lebens ist unvermutet modern. Sie wurde vor einigen Jahren unter dem gleichen Titel verfilmt.

In der Mitte ihres Lebens erscheint hier erstmals in deutscher Übersetzung und mit einem ausführlichen Kommentar zu Agnons assoziativer Sprache, die sich auf die gesamte jüdische Traditionsliteratur bezieht. Das Nachwort des Übersetzers Gerold Necker hellt diesen Zusammenhang auf.

<p>Samuel Joseph Agnon, geboren 1888 in Galizien, gehört zu den wichtigsten hebräischen Prosaschriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine besondere Erzähltechnik und seine eigentümliche Sprache wurden oft mit Thomas Mann und Franz Kafka verglichen. Samuel J. Agnon erhielt 1954 und 1958 den Israel-Preis für Literatur und wurde 1966, zusammen mit Nelly Sachs, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er starb 1970 in Jerusalem.</p>

In der Mitte ihres Lebens


In der Mitte ihres Lebens starb meine Mutter.1 Einunddreißig Jahre war meine Mutter alt, als sie starb. Kurz und unglücklich verlief ihr Leben.2 Tagsüber blieb sie im Haus; sie verließ das Haus nie. Ihre Freundinnen und Nachbarinnen kamen nicht zu Besuch, und auch mein Vater lud sich keine Gäste ein. Still litt unser Haus vor sich hin, keinem Fremden öffnete sich die Tür. Meine Mutter lag im Bett und sprach nicht viel. Aber wenn sie sprach, war es, als würde ich auf ganz reinen Flügeln, die sich für mich öffneten, in einen Palast des Segens getragen.3 Wie sehr liebte ich ihre Stimme.4 Oft öffnete ich die Tür, damit sie fragte, wer da sei. Ich war noch klein.5 Manchmal kam sie aus dem Bett und setzte sich ans Fenster. Weiß gekleidet saß sie dann am Fenster. Immer war sie weiß gekleidet.6 Einmal war ein Freund meines Vaters zufällig in unserer Stadt, sah meine Mutter und hielt sie für eine Krankenschwester, weil ihn ihre Kleidung in die Irre geführt hatte. Er wusste nicht, dass sie die Kranke war. Ihre Krankheit, eine Herzkrankheit, zerstörte ihr Leben.7 Jeden Sommer schickten sie die Ärzte zu den Heilquellen, aber sie kam zurück, kaum dass sie fort war, weil sie vor lauter Sehnsucht keine Ruhe fand, wie sie sagte. Dann saß sie wieder am Fenster oder lag im Bett.

Mein Vater begann, seine Geschäfte einzuschränken. Er fuhr auch nicht mehr nach Deutschland,8 wohin er jährlich gereist war, um mit seinen Partnern zu verhandeln. Er vertrieb Hülsenfrüchte. Doch diesmal fuhr mein Vater nicht. Das war die Zeit, als er vergaß, wie es in der Welt zuging. Sobald er abends nach Hause kam, setzte er sich zu meiner Mutter. Seine linke Hand hatte er hinter seinem Kopf, seine Rechte lag in ihrer Rechten.9 Gelegentlich beugte sie sich hinunter zu seiner Hand und küsste sie.

Im Winter des Jahres, als meine Mutter starb, wuchs die Stille in unserem Haus um das Siebenfache.10 Meine Mutter verließ das Bett nur noch, wenn es von Kele11 bezogen wurde. In den Hausflur legte man einen Teppich, damit jeder Tritt absorbiert wurde. Unsere Zimmer waren alle durchdrungen von Arzneimittelgeruch, und in jedem Raum war Schwermut spürbar. Die Ärzte waren ständig in unserem Haus. Sie kamen auch ungerufen. Fragte einer, wie es um ihre Gesundheit stehe, antworteten sie, die Heilung liegt in Gotteshand. Das heißt, man kann die Hoffnung aufgeben, gegen ihre Krankheit ist kein Kraut gewachsen. Aber meine Mutter seufzte nicht, klagte nicht und vergoss keine Träne. Still lag sie auf ihrem Bett, und ihre Kraft schwand wie ein Schatten.12

Gewiss gab es erfreuliche Tage voller Hoffnung, dass sie weiterleben würde. Der Winter ging vorüber, und der Frühling hielt Einzug im Land.13 Es war, als ob meine Mutter ihren Schmerz vergessen hätte. Wir konnten mitansehen, wie ihr Leiden nachließ. Auch die Ärzte spendeten uns Trost. Es gibt Hoffnung, sagten sie, die Frühlingszeit beginnt, und das Sonnenlicht wird Leben in ihre Gebeine bringen.14

Pessach stand vor der Tür.15 Kele kümmerte sich um alle notwendigen Vorbereitungen für das Fest. Auch meine Mutter gab acht darauf, dass es an nichts fehlte. Sie hatte als Frau des Hauses ein Auge auf alles, was darin vorging.16 Außerdem hatte sie sich ein neues Kleid gemacht.

Einige Tage vor dem Fest stand sie auf. Sie stellte sich vor den Spiegel und trug ihr neues Kleid. Ihr Körper blitzte schemenhaft im Spiegel auf,17 und auf ihrem Antlitz strahlte hell ihr Lebenslicht.18 Mein Herz tat vor Freude einen Sprung. Wie schön war ihr Gesicht mit diesem Kleid! Es war nicht zu erkennen, welches Kleid das neue und welches das alte war, beide waren ja weiß, und das abgelegte war ebenfalls wie neu, da meine Mutter den ganzen Winter über gelegen und kein Kleid getragen hatte. Ich weiß auch nicht, welche Zeichen mir Hoffnung gaben. Vielleicht ließ die Frühlingsblüte,19 die sie über ihrem Herzen angebracht hatte, einen Hauch von Hoffnung erahnen. Zugleich hatte sich der Arzneimittelgeruch verflüchtigt, und ein frischer, angenehmer Duft drang durch unser ganzes Haus. Unter all den Duftstoffen, die mir bekannt waren, gab es keinen wie diesen. Aber ich traf ihn noch einmal, diesen Duft, im Traum, in einem Nachtgesicht.20 Woher kam dieser Duft? Meine Mutter pflegte ihren Körper nicht mit weiblichen Kosmetika.21

Meine Mutter erhob sich von ihrem Bett und setzte sich ans Fenster. Beim Fenster stand ein Tisch, und auf dem Tisch war ein Schrein.22 Der Schrein war fest verschlossen,23 und der Schlüssel hing am Hals meiner Mutter. Schweigend öffnete meine Mutter den Schrein und holte ein Bündel Briefe heraus. Sie las den ganzen Tag darin. Bis zum Abend las meine Mutter. Die Tür wurde zwei-, dreimal geöffnet, aber sie fragte nicht, wer da sei; auch wenn ich sie ansprach, antwortete sie nicht. Als sie daran erinnert wurde, ihre Medizin zu nehmen, schluckte sie einen Löffel voll auf einmal. Sie verzog keine Miene und gab keinen Laut von sich, als ob die Medizin nicht mehr bitter schmeckte. Gleich nachdem sie getrunken hatte, wandte sie sich wieder ihren Briefen zu.

Die Briefe waren in makelloser Schrift auf dünnes Papier geschrieben, mit kurzen und langen Zeilen. Sie kommt nicht mehr los davon, sagte ich mir, als ich meine Mutter die Briefe lesen sah. Die Schnur mit dem Schlüssel am Hals meiner Mutter verband sie mit dem Schrein und den Briefen. Aber als sich der Tag neigte, nahm sie das Bündel mit ihren Briefen, wickelte die Schnur darum, die sie mit dem Schlüssel um den Hals hatte, küsste sie und warf sie mitsamt dem Schlüssel in den Ofen. Doch der Kamin war verstopft. Nur eine Kohle glomm noch im Ofen. Die Glut leckte am dünnen Papier, die Briefe gingen in Flammen auf, und das Haus war voller Rauch.24 Besorgt eilte Kele ins Zimmer, um das Fenster zu öffnen, aber meine Mutter hinderte sie daran. Die Briefe brannten, das Haus war voller Rauch, und meine Mutter saß bei dem Schrein und atmete den Rauch der Briefe ein, bis zum Abend.

In dieser Nacht kam Mintschi Gottlieb, um sich nach dem Befinden meiner Mutter zu erkundigen. Mintschi war ihre Freundin. Sie hatte in ihrer Kindheit zusammen mit meiner Mutter bei Akavia Masal gelernt.25 Frau Gottlieb saß am Bett meiner Mutter, vielleicht zwei oder drei Stunden lang. Mintschi, sagte meine Mutter, ich sehe dich jetzt zum letzten Mal. Mintschi wischte sich die Tränen ab und sagte: Halte durch, Lea, du wirst bald wieder gesund sein, lebensfroh wie früher. Meine Mutter schwieg, ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre fiebrigen Lippen. Plötzlich nahm meine Mutter Mintschis rechte Hand in die ihre und sagte: Geh nach Hause, Mintschi, und bereite alles für den Schabbat vor. Morgen Nachmittag wirst du mich zu meinem Grab begleiten. Es war die Nacht zum Donnerstag, die fünfte Nacht in der Woche, und der folgende Tag war der Schabbatvorabend. Frau Gottlieb umfasste mit den ausgestreckten Fingern ihrer Rechten die Hand meiner Mutter und sagte: Lea. Dann stockte sie, weil sie ihr Schluchzen unterdrücken musste. Unsere Zuversicht schwand.

Mein Vater kam von der Arbeit und setzte sich ans Bett. Meine Mutter küsste ihn, schattengleich huschten ihre verzagten Lippen über sein Gesicht. Frau Gottlieb erhob sich, hüllte sich in ihren Umhang und ging. Meine Mutter stieg aus dem Bett und Kele bezog es. In der halbdunklen Zimmerflucht streiften die Säume des weißen Kleides aneinander.26

Meine Mutter kehrte ins Bett zurück und nahm die Medizin ein, die ihr mein Vater zu trinken gab. Sie nahm seine Hand, führte sie an ihr Herz und sagte: Danke. Wie Tränen tropfte die Arznei auf seine Hand. Meine Mutter atmete tief ein und sagte zu ihm: Geh ins Esszimmer, iss zu Abend. Er antwortete: Ich kann nichts essen. Sie drängte ihn so lange, bis er ins Esszimmer ging. Er aß Tränenbrot.27 Dann nahm er wieder seinen Platz ein.

Meine Mutter sammelte ihre Kräfte und setzte sich im Bett auf.28 Noch einmal ergriff sie seine Hand, schickte die Krankenschwester nach Hause und trug meinem Vater auf, ihr zu sagen, sie solle nicht wiederkommen. Sie drehte das Licht der Lampe herunter und legte sich hin. Mein Vater sagte zu meiner Mutter: Wenn ich schlafen könnte, ginge ich jetzt schlafen. Da mich Gott um den Schlaf gebracht hat, lass mich an deiner Seite sitzen. Falls du mich brauchst, bin ich da. Falls nicht, weiß ich wenigstens, dass es dir gutgeht. Doch meine Mutter hörte nicht auf das, was mein Vater sagte. Also ging mein Vater in sein Zimmer und legte sich hin. Nächtelang hatte er keinen Schlaf gefunden. Diesmal schlief er ein, kaum dass er sich hingelegt hatte. Auch ich war zu Bett gegangen und eingeschlafen.29 Plötzlich erwachte ich und erschrak. Ich sprang aus dem Bett, um nach meiner Mutter zu sehen. Friedlich sah ich sie auf ihrem Bett liegen. Doch ach – kein Atemzug war mehr zu hören. Ich weckte meinen Vater. Laut entfuhr ihm ein bitterer Schrei: Lea!30

Aber meine Mutter lag friedlich auf ihrem Bett; ihre Seele hatte sie zu Gott zurückkehren lassen.31 Meine Mutter gab ihren Geist auf, und in der Abenddämmerung zum Schabbat wurde sie zum Friedhof geleitet. Am Schabbatvorabend war meine Mutter als rechtschaffene Frau gestorben.32

Schweigend saß mein Vater die ganzen sieben Trauertage lang. Der Fußschemel meiner Mutter stand vor ihm;...

Erscheint lt. Verlag 30.6.2014
Co-Autor Gerold Necker
Übersetzer Gerold Necker
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Bidmi jameha
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Jüdische Tradition • säkularer Moderne
ISBN-10 3-633-73739-1 / 3633737391
ISBN-13 978-3-633-73739-0 / 9783633737390
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99