Der See (eBook)

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2014 | 2. Auflage
128 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60423-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der See -  Banana Yoshimoto
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Zwei junge Menschen, die in der Großstadt Tokio zueinander- und dabei zu sich selbst finden. Eine Reise führt sie zunächst an einen geheimnisvollen See, wo all die Verletzungen wieder zu schmerzen beginnen, die ihnen das Leben schon zugefügt hat. Eine zarte Reifungs- und Liebesgeschichte.

Banana Yoshimoto, 1964 geboren, hieß ursprünglich Mahoko Yoshimoto. Ihr erstes Buch ?Kitchen? schrieb sie während ihres Studiums, sie jobbte nebenbei als Kellnerin in einem Café und verliebte sich dort in die Blüten der ?red banana flower?, daher ihr Pseudonym. Ihr Debütroman verkaufte sich auf Anhieb millionenfach - ein Phänomen, dem man die Bezeichnung ?Bananamania? gab. Sie schrieb zahlreiche Bücher, die auch außerhalb Japans ungewöhnlich hohe Auflagen erreichten.

Banana Yoshimoto, 1964 geboren, hieß ursprünglich Mahoko Yoshimoto. Ihr erstes Buch ›Kitchen‹ schrieb sie während ihres Studiums, sie jobbte nebenbei als Kellnerin in einem Café und verliebte sich dort in die Blüten der ›red banana flower‹, daher ihr Pseudonym. Ihr Debütroman verkaufte sich auf Anhieb millionenfach – ein Phänomen, dem man die Bezeichnung ›Bananamania‹ gab. Sie schrieb zahlreiche Bücher, die auch außerhalb Japans ungewöhnlich hohe Auflagen erreichten.

 

 

 

 

 

 

 

[5] In jener Nacht, als Nakajima zum ersten Mal bei mir blieb, träumte ich von meiner verstorbenen Mutter. Vielleicht, weil ich lange nicht mehr mit jemandem im selben Zimmer geschlafen hatte?

Das letzte Mal war es in Mamas Krankenzimmer gewesen, zusammen mit Papa.

Wenn ich aufwachte, war ich erleichtert, dass Mama noch atmete. Dann fiel ich wieder in meinen Dämmerschlaf. Der Fußboden war für ein Krankenhaus ungewöhnlich schmutzig. Während draußen im Flur die Schritte geschäftiger Krankenschwestern hallten, blieb mein Blick an den Staubflocken hängen, die sich in immer den gleichen Ecken sammeln. Ich war umgeben von sterbenskranken Menschen. Aber eigenartig, dachte ich, hier fühle ich mich geborgener als draußen.

Für Menschen, die ganz am Ende angelangt sind, hat ein Ort wie dieser auf seine Art etwas Tröstliches.

 Seit ihrem Tod hatte ich erstmals von Mama geträumt.

[6] Bisher war sie in meinen Träumen nur flüchtig und schemenhaft aufgetaucht, doch diesmal war es wie ein richtiges Wiedersehen nach langer, langer Zeit.

Bei einer Toten klingt das vielleicht komisch, aber so empfand ich es.

Meine Mutter – das waren zwei Seelen in einer Brust. Es kam mir wirklich vor, als gingen bei ihr zwei vollkommen verschiedene Wesen ein und aus.

Einerseits war sie eine fröhliche, den Verlockungen des Hier und Jetzt zugetane lebenserfahrene Frau, der man nichts vormachen konnte; andererseits konnte sie sehr zart und zerbrechlich sein, wie eine Blume, die beim geringsten Lufthauch hin- und herschwang und zu knicken drohte.

Ihre fragile Seite verbarg Mama jedoch meistens. Sie zeigte sich lieber als temperamentvolle Frau, die gerne ihre Gäste verwöhnte. Zahlreiche Liebschaften, Komplimente und überhaupt das Gefühl, geschätzt zu werden – das war sozusagen der Nährboden, auf dem ihr offenes, großherziges Wesen gedieh.

Mama hatte mich zur Welt gebracht, ohne Papa zu heiraten.

Papa war der Chef einer kleinen Handelsfirma in einer kleinen Stadt in der Nähe von Tōkyō, während Mama, die zwar keine Schönheitskönigin, aber [7] schon ziemlich hübsch war, im Vergnügungsviertel derselben Kleinstadt eine Bar für die gehobene Kundschaft führte.

Ein Kollege hatte ihn eines Abends dorthin eingeladen, und es verschlug ihm den Atem – es war Liebe auf den ersten Blick. Auch Mama war von Papa angetan. So sehr, dass sie nach der Arbeit nicht direkt nach Hause, sondern mit Papa in ein koreanisches Restaurant ging, wo die beiden in ausgelassener Stimmung ein Gericht nach dem andern bestellten. Am nächsten und übernächsten Abend kam Papa wieder in Mamas Lokal, und dann jeden Abend, auch bei Regen und Schnee. Zwei Monate später waren die beiden ein unzertrennliches Liebespaar. Wenn man bedenkt, wie sie sich kennengelernt hatten, war das doch ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung.

Als ich sie fragte, warum sie denn damals so gelacht hätten, sagten Mama und Papa wie aus einem Mund: »In jene Kneipe hatte sich offenbar noch nie ein Japaner verirrt. Wir entdeckten sie durch Zufall, als wir spätnachts durch die Straßen streiften, in der Hoffnung, noch etwas zu essen zu finden. Die Speisekarte konnten wir nicht lesen, also bestellten wir aufs Geratewohl, und da bekamen wir Sachen serviert, die ich noch nie gesehen hatte, extrem scharf, und auch mit der Menge hatten wir nicht [8] gerechnet… Es war lustig, wir amüsierten uns bestens.«

In Wahrheit wird es aber wohl etwas anderes gewesen sein. Ich denke, sie waren einfach deshalb so vergnügt, weil sie wie durch ein Wunder miteinander in diesem Lokal saßen und ihr Glück nicht fassen konnten. Ihrem gesellschaftlichen Ansehen mochte die Beziehung nicht gerade förderlich gewesen sein, doch in meinen Augen waren sie ein reizendes Paar. Sie stritten sich zwar oft, aber immer nur wegen Kleinigkeiten, wie Kinder.

Da Mama unbedingt ein Kind haben wollte, ging es nicht lange, bis sie mit mir schwanger war. Offiziell geheiratet haben Mama und Papa aber nie – was ungewöhnlich ist, denn Papa hatte weder eine Frau noch sonst ein Kind. Bis heute ist das so geblieben.

Papas Verwandtschaft stemmte sich mit allen Mitteln gegen seine Beziehung zu Mama, aber Papa stand zu ihr, und so blieb ich, was ich von Anfang an war: ein uneheliches Kind.

Anders als viele denken mögen, fühlte ich mich dabei keineswegs unglücklich, denn Papa war oft bei uns zu Hause und kümmerte sich sehr um mich.

Aber ich kann nicht verhehlen, dass mir die ganze Situation dennoch sehr zu schaffen machte.

Die Stadt, die familiären Umstände – alles war [9] mir zuwider. Ich hätte am liebsten einfach nur vergessen, wer und wo ich war. So kam mir sogar Mamas Tod entgegen: Ich brauchte nie wieder in jene Stadt zurückzukehren. Oder allenfalls, um Papa zu besuchen. Das Apartment, in dem ich mit Mama gewohnt hatte, drohte zum Zankapfel der Verwandtschaft zu werden. Deshalb verkaufte Papa es schnell und überwies mir das Geld auf mein Bankkonto. Es kam mir vor wie eine Art Schmerzensgeld, was mir überhaupt nicht behagte, aber es war zugleich auch Mamas Erbe. Mit dem Verkauf der Wohnung waren alle meine Spuren getilgt, meine Verbindungen zu jener Stadt gekappt. Ich trauerte meiner Vergangenheit nicht nach.

Wenn ich Mama tagsüber in ihrer schummrigen Bar besuchte, wirkte alles eher trostlos und schal, vom Vorabend hing noch immer der Geruch von Tabak und Alkohol in der Luft. Auch Mamas elegante Kleider, die immer frisch aus der Reinigung kamen, sahen bei Tag auf einmal schäbig aus.

Die ganze Stadt fühlte sich so an.

Selbst jetzt, wo ich fast dreißig bin, ist das nicht anders.

Mit den Jahren bin ich Mama immer ähnlicher geworden. Das letzte Mal, als ich Papa traf, schaute er mich wie hypnotisiert an. Tränen traten ihm in die Augen.

[10] »Es sollte doch erst so richtig beginnen und schön werden, unser Leben im Alter… Wir wollten zusammen da- und dorthin fahren, sogar eine Weltreise machen… Hätten wir gewusst, was auf uns zukommt, wären wir nicht so verdammt zögerlich gewesen, ich hätte nicht immer wieder meine Arbeit vorgeschoben oder Mama ihre Bar. Wir hätten einfach losziehen müssen, ohne Wenn und Aber.«

Papa war ein geselliger und trinkfreudiger Mensch, der früher bestimmt ein ausschweifendes Leben geführt hatte, aber ich glaube, seit er mit Mama zusammen war, hatte er sich nie mehr an eine andere Frau herangemacht.

Besessen von der Vorstellung, ein rechter Kerl müsse eben so sein, spielt er zwar gern den Frauenhelden, aber der Schein trügt; in Wahrheit ist er ein bäurischer, noch dazu glatzköpfiger Typ aus der Provinz, an dem man beim besten Willen nichts Aufregendes finden kann. Absolut uncool. Ein echter Frauenheld würde sich angesichts dieser tolpatschigen und unfreiwillig komischen Erscheinung kringeln.

Papa war der Sohn eines begüterten Grundbesitzers, und die Familie ging selbstverständlich davon aus, dass er die Geschäfte seines Vaters fortführte. Obwohl er sich davon beengt fühlte, hatte er offenbar nie versucht, aus diesem Leben voller Zwänge [11] und Pflichten auszubrechen. Als er die Handelsfirma übernahm, gab er sich Mühe, wenigstens der Form nach alles so zu machen, wie man es von ihm erwartete. Das spürte jeder, der ihn sah.

Ich glaube, Mama war in seinem Leben die einzige Blume, die den Duft von Freiheit verströmte.

Papa achtete stets darauf, alles Störende von seiner gemeinsamen Welt mit Mama fernzuhalten. Wenn er von der Arbeit zurückkehrte, erwachten seine Lebensgeister: Er reparierte das Hausdach oder kümmerte sich um den Garten, ging mit Mama essen, half mir bei den Hausaufgaben, brachte mein Fahrrad wieder auf Vordermann – als wäre dieses private Dasein seine wahre Bestimmung, sein wahres Glück.

Aber die beiden hatten nicht das Bedürfnis, der Provinzstadt den Rücken zu kehren und anderswo ein unbeschwertes, neues Leben aufzubauen, das ihnen alle Freiheiten ließ. Nein, sie blieben da, und gerade in diesem hartnäckigen Ausharren bestand der eigentliche Sinn ihrer Beziehung.

Jetzt fürchtet sich Papa wohl am meisten davor, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will und die Beziehung abbricht, ein für allemal.

Na ja, wahrscheinlich fürchtet er sich nicht wirklich, sondern denkt nur mit einem gewissen Unbehagen an diese Möglichkeit. Dass er vielleicht eines [12] Tages von mir hören muss: »Unsere Familiennamen waren ja schon immer verschieden, und von heute an sehe ich es auch so. Das heißt, wir sind zwei Fremde, die nichts miteinander zu tun haben.«

Hin und wieder lässt Papa ohne besonderen Anlass Geld auf mein Bankkonto überweisen, oder er schickt mir Lebensmittel. Dann rufe ich ihn jeweils an und bedanke mich. Und merke an seiner Art zu reden, wie sehr ihn die Angelegenheit beschäftigt.

»Du bist doch schließlich meine leibliche Tochter, oder etwa nicht?«, sagt er wie beschwörend.

Ich nehme das Geld ja gerne an, allerdings habe ich Papa gegenüber noch nie deutlich gesagt, dass unsere Beziehung auch in Zukunft so sein wird wie bisher; ich sehe keinen Anlass, das zum Thema zu machen. Papa wird immer mein Papa bleiben, auch wenn er sich – anders als ich – wegen seiner Anflüge von schlechtem Gewissen viele Gedanken über unsere Beziehung macht.

Im Notfall würde ich Papa sogar noch um mehr Unterstützung bitten. Wenn er mir allerdings mit einer größeren Anschaffung helfen würde, bestünde die Gefahr, dass irgendwelche selbsternannten Freunde davon...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2014
Übersetzer Thomas Eggenberg
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bardame • Belletristik • Gegenwartsliteratur • Geschäftsmann • Großstadt • Kunst • Liebe • Medizin • Naher Osten • Reifungsgeschichte • Reise • Roman • See • Studenten • Tokio • Vergangenheit • Verletzung
ISBN-10 3-257-60423-8 / 3257604238
ISBN-13 978-3-257-60423-8 / 9783257604238
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