In fester Umarmung (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60241-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In fester Umarmung -  Erich Hackl
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Geschichten und Berichte: über ein Gelage und über die Winde, die dabei entschlüpfen; über Liebesbriefsteller und ihren zweifelhaften Nutzen; über die Entdeckung der Stadt Schleich-di; über die Wiederkehr des Che Guevara; über Gedichte einer Frau, die immer alles gewußt hat, und über Gedichte einer Frau, die sich nie überschätzt hat; immer wieder über Menschen, denen der Autor zugetan ist ­ in fester Umarmung.

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, hat Germanistik und Hispanistik studiert und einige Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller in Wien und Madrid. Seinen Erzählungen, die in 24 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. ?Auroras Anlaß? und ?Abschied von Sidonie? sind Schullektüre. 2018 erschien die vielbeachtete Erzählung ?Am Seil. Eine Heldengeschichte?. Hackl wurde unter anderem 2017 mit dem Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet.

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, hat Germanistik und Hispanistik studiert und einige Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller in Wien und Madrid. Seinen Erzählungen, die in 24 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. ›Auroras Anlaß‹ und ›Abschied von Sidonie‹ sind Schullektüre. 2018 erschien die vielbeachtete Erzählung ›Am Seil. Eine Heldengeschichte‹. Hackl wurde unter anderem 2017 mit dem Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet.

[9] Kleine Stadt der Arbeitslosen

1. Ein möglicher Anfang

wäre, befänden wir uns noch in den dreißiger Jahren, und in Hollywood, die romantische Version vom Ende des Werksdirektors Herbst: Eine schwarze Limousine, ein Steyr 30 (6 Zylinder, 40 PS), fährt vom Direktionsgebäude auf das Werkstor zu; wir sehen sie durch das Fenster der Portierloge näher kommen, ein verschneites Wiesenstück im Hintergrund, unter den Rädern bricht das Eis gefrorener Pfützen. Vor den geschlossenen Schranken stoppt das Fahrzeug, der Lenker wirft einen prüfenden Blick herein, da erst sehen wir auf dem Boden den Pförtner liegen, vielleicht ein grauhaariger hagerer Mann mit scharfer Nase. Er zappelt, ist an Händen und Füßen gefesselt, um den Mund hat man ihm einen schmutzigen Lappen gebunden. Jetzt wird der Fahrer mißtrauisch, aber da tauchen sieben maskierte Gestalten neben dem Pförtnerhäuschen auf, zwei von ihnen springen blitzschnell hinter die Limousine, schießen mit Karabinern durch die Heckscheibe, die Projektile zerfetzen die ledergepolsterten Sitze, töten den großen, schweren, bleichen Mann.

Oder aber die Wirklichkeit war nüchterner, logischer [10] als der Bericht der Steyrer Zeitung, das Ergebnis freilich dasselbe: Als Direktor Herbst wie jeden Morgen kurz nach acht im Werk eintrifft, haben in Linz »die Vertragsverhandlungen begonnen« (Waffensuche der Polizei, Widerstand des Republikanischen Schutzbundes). Arbeiter aus St. Valentin oder Herzograd, die täglich herüberfahren, im Sommer mit dem Fahrrad, jetzt, im Winter, mit der Bahn, könnten die Nachricht als erste mitgebracht haben: Drüben wird geschossen. Dann, um halb acht, der Anruf, der das Gerücht zur Gewißheit werden läßt: die vereinbarte Parole und, als bräuchte es die Bestätigung, Schüsse im Hintergrund. Der Obmann, August Moser, am vorigen Tag noch bei Bernaschek, ruft die Betriebsräte zusammen; der Streik wird beschlossen. Die Arbeiter verlassen das Werk. Direktor Herbst hat sich seit seinem Eintreffen nicht mehr blicken lassen, versucht aber zu telefonieren. Das Mädchen in der Vermittlung ist nervös: Der Direktor ruft mich an! Na und, könnte der Schutzbündler sagen, der das Gebäude besetzt hält: Jetzt wird nicht mehr geredet.

Gegen Mittag verläßt Herbst ungehindert das Büro. Er steigt in sein Auto, um nach Hause zu fahren. Die Porsche-Villa, die er seit seiner Übersiedlung aus Wiener Neustadt bewohnt, liegt einen Kilometer oberhalb des Werksgeländes. Würde Herbst die kürzeste, und übliche, Route wählen, geriete er nicht in das Schußfeld. Aber er fährt, als wolle er die Arbeiter noch einmal demütigen, durch das Haupttor direkt in die Gefahrenzone. Vor der [11] Werkseinfahrt wird er erschossen. Im Leergang läuft der Motor weiter, bis der Treibstoff verbraucht ist: einen Tag und eine Nacht.

So beginnt der 12. Februar 1934.

2. Marktpreise

Direktor Herbst war nicht beliebt. Als man ihn auf die Not der Arbeiter ansprach, soll er geantwortet haben: Solange bei denen da oben noch Blumen vor den Häusern wachsen statt Kartoffeln, geht es ihnen nicht schlecht.

Von denen da oben kamen die Schüsse: von der Ennsleite, einer im Norden und Nordwesten steil abfallenden Terrasse am rechten Ufer der Enns, durch den Fluß von der Altstadt getrennt. Die Ennsleite ist ein Arbeiterviertel, ihre Sozialbauten, hart an den Rand der Rampe gebaut und weithin sichtbar, waren der Stolz der Sozialdemokraten. Hinter ihnen standen die Baracken; Vizebürgermeister Azwanger, Fürsorgereferent der Stadt, hatte dem jungen, zum Pathos neigenden Journalisten Ernst Fischer erzählt, wie sich da leben ließ: »In zwei Betten schlafen sieben Menschen; diese Betten bestehen aus aufeinandergetürmten Kisten. Durch eine Wand sikkert ununterbrochen Flüssigkeit; um die nassen Flecken nicht länger sehen zu müssen, verhüllte die Frau sie mit einer Wanddecke. Auf diese Decke hatte sie einen Spruch gestickt: ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.‹«

[12] Am 7. Februar veröffentlichte das Steyrer Tagblatt die neueste Statistik beschäftigungsloser Unterstützungsempfänger. Demnach erhielten im Jänner 1934 1271 Personen Arbeitslosengeld, 4969 Personen Notstandshilfe. In den Steyr-Werken, die noch 1929 sechstausend Beschäftigte aufwiesen, arbeiteten Anfang 1934 tausend Personen. Steyr hatte 22000 Einwohner, von denen in einem Jahr, 1932, 17770 öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen mußten. 1934 veranschlagte die Gemeinde die Hälfte aller Einnahmen für Fürsorgezwecke. Hatte ein Arbeitsloser das zusätzliche Unglück, ein arbeitsloses Kind in der Familie erhalten zu müssen, so bekam er dafür einen Zuschuß von 20 Groschen. Das reichte, halten wir uns an die Steyrer Marktpreise vom 8. Februar, für ein halbes Kilo Kohl oder zwei bis drei Äpfel.

Zweimal die Woche kamen die Bauern in die Stadt. Den Arbeitslosen lief das Wasser im Mund zusammen, wenn sie die vollen Butterstriezel sahen, die saftigen Birnen, die abgebalgten Hasen. Vollbeladen, wie sie gekommen waren, fuhren die Karren wieder aufs Land.

Man sei hinaus fechten, das heißt, betteln, gegangen, sei froh gewesen, wenn man gegen Kost arbeiten durfte, ältere, unversorgte Frauen hätten sich bei Bauern als Schneiderinnen durchgebracht, andere, Schlosser, Werkzeugmacher, Tischler, seien als Pfuscher willkommen gewesen, die kleinen Bauern hätten sich ja auch nichts mehr leisten können, nur zum Essen sei immer was auf dem Tisch gestanden. Wenn in der Stadt einmal [13] Fleisch gekocht wurde, habe man Türen und Fenster geschlossen, um die Nachbarn nicht mit dem Geruch zu peinigen. Und jene, die damals noch Arbeit hatten, schauten sich erst einmal um, bevor sie im Wirtshaus eine Halbe Most bestellten, die Blicke von Arbeitslosen, die sich in der Gaststube bloß aufwärmten, seien unangenehm gewesen, da ist man lieber wieder gegangen. Um wenigstens Ordnung in die Not zu bringen, habe man dann einen Betteltag einführen müssen, das sei der Freitag gewesen.

Ganz schlimm wurde es im Winter, als die Saisonarbeit ein Ende hatte, da zogen die Leute mit Leiterwagen fünfzehn, zwanzig Kilometer weit vor die Stadt, um Brennholz zu sammeln. Am Vorwärts-Platz, wo zum Eislaufen aufgespritzt wurde, standen die Arbeitslosen Schlange; nur die ersten durften mit Eisentrümmern die Wellen, die der Wind ins Eis blies, begradigen. In den Schulen gab es oft nichts mehr zu heizen, glücklich, wer das Kind eines Arztes oder eines höheren Beamten zum Mitschüler hatte, dessen Vater spendete vielleicht Kohlen. In der Apotheke beim Bahnhof bettelten die Kinder von der Ennsleite um Medikamente für ihre kranken Eltern.

Für arbeitslose Burschen richtete die Stadt einen freiwilligen Arbeitsdienst ein. Essen und Trinken und die Pritsche seien gratis gewesen, außerdem habe man in der Woche 25 Groschen bekommen. Das Lager sei neben der Kaserne gelegen, so habe einer der Jungen, arbeitslos seit [14] dem Tag des Lehrabschlusses, von der anderen Seite der Planken die Befehle gehört.

Am 12. Februar gegen Mittag.

Erste Kompanie rauf auf die Ennsleite. Zweite Kompanie Stadtplatz sichern. Dritte Kompanie Schloß Vogelsang besetzen.

3. Rot und Schwarz

Die erste Kompanie lag bald im Straßengraben. Als die Soldaten gegen 13 Uhr unter dem Viadukt der Damberggasse auftauchten, über die man auf die Ennsleite zu gelangen hoffte, gab Hauptmann Fasching, ein stadtbekannter Haudegen, den Befehl zum Sturmangriff. Bevor die Truppe seiner Anordnung nachkommen konnte, hatte das Bundesheer sechs Verletzte. Faschings Hand, eben noch kühn zum Signal in die Höhe gestreckt, war durchschossen. Der Sturmangriff wurde verschoben.

Die zweite Kompanie konnte den Stadtplatz ohne Gegenwehr besetzen. Unangenehm war der Marsch durch die enge, abschüssige Gleinker Gasse, die von der Kaserne in die Altstadt führte. Einer, der mit Sturmgewehr, Stahlhelm und Tornister dabei war, wurde mit Abfällen, Steinen, altem Geschirr beworfen. Auch heißes Wasser hat man aus den Fenstern geschüttet. Das ist natürlich zu weit gegangen. Da hat man hinaufgeschossen.

Als Soldat habe man in Steyr früher genug [15] mitgemacht. Wenn man bei Zusammenrottungen gegen die Demonstranten mit aufgepflanztem Bajonett vorging, vorgehen mußte, sei man bespuckt worden, von oben bis unten bespuckt! Beinahe jedes freie Wochenende sei mit Waffensuchen draufgegangen, am schlimmsten habe man den Einsatz im Volkskino empfunden, wo jedes Jahr im Herbst die Kohlen umgeschaufelt wurden. Nichts habe man gefunden, rußgeschwärzt sei man unter dem Gelächter der Passanten wieder abmarschiert, zurück in die Kaserne. In Uniform sei man ungern ausgegangen, viele Gasthäuser habe man laut Dienstanweisung meiden müssen. Aber man sei, ein paar starke Burschen, doch hineingegangen, sei angestänkert worden und habe zurückgestänkert. Natürlich sei man politisch rechts gestanden, sonst wäre man gar nicht genommen worden; der Feind, so wurde einem gelehrt, steht links. Aber man habe nicht gezielt auf Menschen geschossen, auch wenn es später hieß, ihr seids Arbeitermörder, man habe große Angst ausgestanden, ehe, in der Nacht, ein Zug der Feldhaubitzenbatterie aus Enns und, am nächsten Vormittag, das motorisierte Feldjägerbataillon zu Rad aus Stockerau eintrafen. Ein paar, Alte, die schon bei der Volkswehr dabei waren, hätten sich geweigert, auf Arbeiter zu schießen.

Der Aufstand sei zu spät erfolgt, er, der ausgelernte, arbeitslose Werkzeugmacher, habe von seinem Bruder, der beim Bundesheer war, schon viel früher zu hören bekommen: Von uns könnt ihr nichts...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2012
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bericht • Che Guevara • Entdeckung • Erich Hackl • Erzählung • Gedichte • Gelage • Geschichten • Liebe • Persönlichkeiten • Sammlung
ISBN-10 3-257-60241-3 / 3257602413
ISBN-13 978-3-257-60241-8 / 9783257602418
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99