Von Solidarność zur Schocktherapie (eBook)
544 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3231-1 (ISBN)
Wie der Kapitalismus nach Polen kam
Die Berliner Mauer stand noch, als die Transformation in Polen schon in vollem Gange war. Wie kam es, dass ausgerechnet das Land der Solidarno??-Bewegung zum Vorreiter einer marktradikalen Schocktherapie wurde, die fast überall im östlichen Europa Nachahmer fand? Florian Peters erzählt, wie private Kleinunternehmer inmitten der tristen 1980er Jahre neue Märkte erschlossen, wie oppositionelle Gewerkschaftsaktivisten sich neue marktorientierte Selbstbilder aneigneten und wie kommunistische Funktionäre das Privateigentum für sich entdeckten. Zugleich erklärt er, warum die Privatisierung der staatseigenen Industrie östlich der Oder von langwierigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen begleitet wurde.
Florian Peters, Jahrgang 1981, Dr. phil., ist Historiker und forscht zur Zeitgeschichte Polens und Ostmitteleuropas. Nach Stationen am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) arbeitet er seit April 2021 im Sonderforschungsbereich 294 'Strukturwandel des Eigentums' an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Einleitung
Markt-Wirtschaft ohne Grenzen
Die Berliner Mauer stand noch, als die Transformation schon in den Westen kam: Seit Januar 1989 überwanden erst Tausende, bald Zehntausende polnischer Gelegenheitshändler die Grenze zwischen dem Osten und Westen Europas und schufen auf der amorphen Brachfläche, die einst der Potsdamer Platz gewesen war, einen riesigen irregulären Markt. Mitten in Berlin, nur einen Steinwurf von Beton und Stacheldraht entfernt, der die Welt für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt hatte, boten sie zunächst an den Wochenenden, bald auch wochentags ihre mitgebrachten Waren feil. Zu haben war dort alles von Lebensmitteln bis zu Haushaltswaren, von billiger Unterwäsche bis zu billigen Zigaretten – unangemeldet, ungeordnet, steuerfrei.
Der abschätzig so benannte »Polenmarkt«, der rasch zum Anlaufpunkt für findige Schnäppchenjäger und zum bevorzugten Ärgernis für die West-Berliner Boulevardpresse wurde, erschien in der wohlgeordneten westlichen Konsum- und Warenwelt wie ein archaischer Anachronismus. Da die polnischen Händler morgens früher vor Ort waren als die meisten Nutzer der benachbarten Staatsbibliothek, belegten sie dort sämtliche Schließfächer mit ihren Waren, und an den Wochenenden brachte der Ansturm von Kauf- und Schaulustigen den Verkehr in den umliegenden Straßen zum Erliegen.1 In der »mit allen Mitteln, vor allem mit Bundesmitteln«, gegen ihre Insellage immunisierten Mauerstadt reagierten viele mit Abwehr und Ressentiments auf die ungebetene Konkurrenz und die chaotischen Verhältnisse auf dem improvisierten Markt.2 Der West-Berliner Senat ließ die von den Polen als Marktplatz genutzte Brache absperren und versuchte ansonsten, das Problem mit ausländerpolizeilichen Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Man errichtete also vor dem »antifaschistischen Schutzwall einen antipolnischen Gitterzaun«, wie die linksalternative taz frotzelte. Deren Berichterstatter stellte denn auch die Frage in den Raum, warum der Senat nicht gleich mit der DDR über eine »Übernahme der Mauer« verhandele, »um die Stadt vor kommenden polnischen Invasionen hundertprozentig sichern zu können«.3 Nur wenige Zeitgenossen sahen hingegen, was der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel damals notierte: »Die primitive Form ist entwicklungsfähig, aus der einfachen wird sich die komplizierte Wertform ergeben, aus den Transaktionen mit Babysachen werden solche mit Maschinen und Computern.«4 Tatsächlich war der Polenmarkt in der damals noch leeren Mitte Berlins ein untrügliches Zeichen dafür, dass auch hier bald eine neue Zeit anbrechen sollte. Kaum hundert Kilometer weiter östlich war sie längst in vollem Gange.
»Nehmt euer Schicksal selbst in die Hand«, hatte Mieczysław Wilczek, der Industrieminister der letzten kommunistischen Regierung Polens, seinen Landsleuten schon Ende 1988 öffentlich zugerufen.5 Mit Beginn des Jahres 1989 erlaubten die polnischen Kommunisten in einer handstreichartigen Geste der Liberalisierung nicht nur jegliche wirtschaftliche Betätigung, sondern gaben auch die zuvor auf dem Amt verwahrten Pässe frei. Damit war West-Berlin quasi über Nacht visafrei erreichbar – und Wilczeks Ruf blieb nicht ungehört. Vor den Grenzübergängen bildeten sich lange Schlangen schwer beladener polnischer Fiats, und die Nachtzüge zwischen Gdynia, Warschau und Ost-Berlin, die in Polen schon seit Jahren den Spitznamen »Schmugglerzug« (przemytnik) trugen, waren fortan hoffnungslos überfüllt. Kaum jemand war unterwegs, um einer plötzlich ausgebrochenen Reisefreude zu frönen; fast alle hofften, an dem informellen Handel partizipieren zu können, der zuvor ein Privileg gewiefter Profischmuggler, findiger Dienstreisender und in der DDR tätiger polnischer Vertragsarbeiter gewesen war. Nun mussten sich die Reisenden zwischen Unmengen von Warenpaketen einrichten, die Händlergruppen durch die Fenster in die Abteile luden, um sie überall und nirgends zu verstauen.6 Für die Strapazen der Reise entlohnte der Schwarzmarktkurs der D-Mark, noch mehr aber der Preis, den fortgeschrittene Schleichhändler auf den Basaren jenseits der Oder für westliche Elektronik erzielen konnten, die sie mit den erzielten Einnahmen in den Läden der Charlottenburger Kantstraße erwarben. In einem Land, in dem man nach zehn Jahren wirtschaftlichen Niedergangs für viele Waren des täglichen Bedarfs Schlange stehen musste und Fleischwaren noch immer rationiert waren, wurde der grenzüberschreitende Kleinhandel für viele zur Verheißung – mochte das Startkapital auch nur aus getrockneten Pilzen und einer Bahnfahrkarte bestehen.
Der Berliner Polenmarkt am Potsdamer Platz blieb zwar Episode, weil die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten für die polnischen Kleinhändler neue Zollvorschriften und das vorläufige Ende der Visumfreiheit mit sich brachte. Dennoch wurden Märkte zu einem charakteristischen Erfahrungsraum der Transformationszeit im östlichen Europa. Zum Inbegriff dieser neuen, grenzüberschreitenden Markt-Wirtschaft entwickelte sich der gigantische »Jarmark Europa« auf dem östlichen Ufer der Weichsel in Warschau: Auf den Ruinen eines Stadions aus staatssozialistischer Zeit entstand hier ein regelrechtes Labyrinth aus Buden und Marktständen, in dem nunmehr polnische Kunden auf Händler aus allen Ländern des zusammengebrochenen sowjetischen Imperiums trafen, um sich mit »original italienischer« Kleidung, raubkopierten Tonträgern und allen möglichen und unmöglichen Waren und Dienstleistungen zu versorgen.7
Doch nicht nur das alltägliche Handeln der Menschen in Polen und Ostmitteleuropa war während der Transformationszeit von Märkten geprägt, sondern auch die Welt der Ideen und der sozialen Sinnstiftung. Von einem profanen, nicht selten als chaotisch und vulgär empfundenen Ort des Warenaustauschs stieg der Markt zum idealisierten Ordnungsmodell des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wandels auf. Hatte der untergegangene Staatssozialismus seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit noch auf die rauchenden Schlote immer größerer Fabriken und Kombinate zurückgeführt, wurden die Ikonen des sozialistischen Fortschritts nun im öffentlichen Bewusstsein vom selbstbestimmten Treiben der Vielen verdrängt, die sich auf dem Markt zum scheinbar zwanglosen Geben und Nehmen trafen. Lange bevor großmaßstäbliche Einkaufszentren und Shoppingmalls amerikanischen Zuschnitts den westlichen Massenkonsum im Original ins östliche Europa brachten, prägten Markthändler und Basarfrauen das Gesicht des jungen osteuropäischen Kapitalismus. Mit ihren improvisierten Buden und Boutiquen gaben sie den um die industriellen Kerne gruppierten Hochhaussiedlungen der postsozialistischen Städte neue Mittelpunkte und Handlungsräume. Sie füllten damit weit mehr als nur die städtebauliche Leere, die der Niedergang der industriellen Moderne staatssozialistischer Prägung hinterlassen hatte.
Die Arbeiter und die vielgerühmten »Massen« mussten ihre privilegierten Plätze in der sozialen Sinnwelt räumen. An ihre Stelle trat das unternehmerische Individuum, das sich anschickte, auf eigene Faust zu schaffen, woran der osteuropäische Staatssozialismus so grandios gescheitert war. Nicht mehr kollektive Mobilisierung und gemeinsame Anstrengung erschienen jetzt als Schlüssel zu Wohlstand und Prosperität, sondern Eigeninitiative und privates Gewinnstreben. Dies war »der Geist der kommenden Zeit«, den polnische Marktradikale in der oppositionellen Untergrundpresse schon 1984 gewittert und mit heraufbeschworen hatten.8 Die private Betreiberfirma des »Jarmark Europa« bewies also nicht nur geschäftlich, sondern auch semantisch ein gutes Gespür, indem sie im Namen ihres Großbasars das Bild des mittelalterlichen Jahrmarktes mit der Idee eines neuen Europas zusammenführte, das sich im Handeln auf dem Markt materialisierte.9
Abschied von der sozialistischen Moderne
Dieses Buch geht der Frage nach, wie es zu diesem tiefgreifenden Wandel der wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Leitbilder kommen konnte. Es begreift die Transformation vom Staatssozialismus zum Kapitalismus nicht allein als Projekt von Ökonomen und Wirtschaftspolitikern, sondern richtet den Blick über deren Schreibtische und Rednerpulte hinaus auf die sozialen Praktiken und sinnstiftenden Horizonte, die sich mit dem Übergang zu einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung konstitutiv verbanden. Dabei schaut es nach Polen, in das Vorreiterland des Wandels im östlichen Europa, um die Wurzeln des Protokapitalismus von unten aufzuspüren, der dort schon lange vor dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft aufblühte. Es geht aber auch den Brüchen und Ambivalenzen auf den Grund, die gerade für den polnischen Weg in den Kapitalismus charakteristisch waren. Schließlich hatte es noch wenige Jahre vor 1989 nicht danach ausgesehen, als ob ausgerechnet Polen die Blaupause einer radikalen marktwirtschaftlichen Transformation für die anderen Länder des europäischen Ostens liefern würde. Obwohl der Niedergang der sozialistischen Planwirtschaft hier...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2023 |
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Reihe/Serie | Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt | Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Arbeiterselbstverwaltung • Balcerowicz • Gewerkschaft • Graswurzel-Kapitalismus • Kriegsrecht • Marktpopulismus • Marktwirtschaft • Opposition • Polen • Privateigentum • Privatisierung • Schocktherapie • Solidarnosc • Sozialismus • Staatsbetrieb • Staatsdirigismus • Transformation • Verschuldung |
ISBN-10 | 3-8412-3231-0 / 3841232310 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3231-1 / 9783841232311 |
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Größe: 4,6 MB
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