Das Watt (eBook)

Wunderwelt zwischen Land und Meer
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2022 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01352-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Watt -  Karsten Reise
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«Das Watt ist ein Trick der Natur, der uns erlaubt, das Meer zu Fuß zu besuchen. Watt lebt vom tiefen Ein- und Ausatmen des Meeres.»  Zwischen Land und Meer, sichtbar bei Ebbe und verborgen in der Flut, liegt eine faszinierende Naturlandschaft: das Watt. Kaum jemand kennt diese flüchtige Welt besser als Karsten Reise, seit Jahrzehnten widmet er sich der Erforschung und dem Schutz des Wattenmeers mit unerschöpflicher Leidenschaft und Neugier. In seinem Buch erzählt er anschaulich und voller Zuneigung zu den Wattbewohnern vom mitunter harten Leben der Weichtiere, von der Arbeitswut des Wattwurms und «systemrelevanten Garnelen» - ein Buch wie ein Watt-Spaziergang, nur mit trockenen Füßen.   

Prof. Dr. Karsten Reise ist zwischen Nord- und Ostsee aufgewachsen. Er lehrte Zoologie, Meereskunde und Küstenforschung an den Universitäten Göttingen, Hamburg und Kiel und erforschte das Watt vor Sylt. Am Alfred-Wegener-Institut leitete er die Wattenmeerstation Sylt und wirkte daran mit, dass da Wattenmeer zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Er lebt in List auf Sylt.

Prof. Dr. Karsten Reise ist zwischen Nord- und Ostsee aufgewachsen. Er lehrte Zoologie, Meereskunde und Küstenforschung an den Universitäten Göttingen, Hamburg und Kiel und erforschte das Watt vor Sylt. Am Alfred-Wegener-Institut leitete er die Wattenmeerstation Sylt und wirkte daran mit, dass da Wattenmeer zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Er lebt in List auf Sylt.

Ich bin nicht im Watt geboren


Ich war schon acht, als ich zum ersten Mal in Nordseewellen schwamm. Das Meer ließ mich spüren, wie leicht es mich trug. Damit hatte es mich für immer gewonnen.

Als Zehnjähriger bin ich erstmals um die flache Bucht auf Sylt gelaufen, die Königshafen heißt, bei List, wo ich bis heute wohne und forsche. Meine Beine waren die kürzesten, aber ich war stolz, mit den Großen laufen zu dürfen. Vom Schwimmen am Inselende, der Ellenbogenspitze, rieten mächtige Strudel unmissverständlich ab. Schafe betreuten die Salzwiesen, Strandflöhe hüpften wohl aus Freude durcheinander, und dazwischen fand ich eine vom Bohrschwamm durchlöcherte Austernschale für meine kleine Sammlung. Die Austernschale sah aus wie ein Sieb. Seit dieser Zeit liebe ich wie das Meer auch das Watt, so matschig und nutzlos es auch lange galt. Für mich war es nie nutzlos. Für mich gab es eine Welt zu entdecken, die auf magische Weise mal sichtbar und mal unsichtbar war. Wurde sie sichtbar, zog sie mich unwiderstehlich an.

Wer kennt nicht die Verlockung, zwischen zwei Fluten so weit wie möglich ins Watt zu waten, wohin bei Ebbe und ablandigem Wind das Meer zurückgewichen ist? Wen zog nicht ins Watt die Neugier auf das Leben am Grund, den das Meer nur für einen Augenblick dort bloßlegte? Was hat das Watt, dass man so etwas macht: nicht weiß, ob die Flut genug Zeit lässt, wieder an Land zu kommen, zu Fuß oder schwimmend? Wer blieb weit draußen sogar einfach mal stehen, bis Garnelen und Grundeln nicht nur an Zehenspitzen kitzelten, sondern schließlich am Hals, ist dann losgeschwommen, hat kein Land mehr gesehen …?

Das Watt zwischen Land und Meer bleibt ein Abenteuer. Für uns Landtiere sowieso, die im Watt immer nur kurz zwischen zwei Fluten zu Besuch sein können. Schlick saugt an den Füßen, plötzlicher Seenebel raubt die Orientierung, bei Gewitter sind wir verlockend für einschlagende Blitze. Selbst für alle Meereswesen, die dort wohnen, aber immerzu auf- und abtauchen müssen, sich bei Ebbe verkriechen, ausharren oder wegschwimmen, ist das Wattleben voller Unwägbarkeiten. Auch für das viele Wattgevögel: Wo gibt es was zu picken, zu stochern oder zu ertauchen? Und was passiert mit Wattrippeln bei Flut? Was wird aus den Schalen, wenn eine Muschel ihr Leben aushaucht? Was überhaupt ist Sand, was ist Schlick, und wozu sind die Priele da?

Von solchen Watterkundungen und Wattforschungen erzählt dieses Buch. Und es fragt auch, warum dort kaum natürliche Harmonie zu finden ist, warum Watt entstand und wieder verschwand, sich immerzu veränderte und dennoch schließlich für uns an Reiz und Wert gewann. Stecken in so einem Watt nicht nur Wunder, sondern auch Hoffnung und Zuversicht?

Ich erforschte Watten weltweit und im kleinen Königshafen von Sylt bereits seit 20 Jahren, als mich Tony Chapman 1995 besuchte, ein kanadischer Algenforscher. Tony und mich verband ökologisches Experimentieren an Meeresküsten. So tat er mir den Gefallen und ließ sich auf eine Wattwanderung durch den Königshafen ein. Wir fanden hier und da einzelne Algen, aber nichts Spektakuläres. Handfeste Algen lieben Felsen in starker Brandung, nicht aber haltlosen Schlick. Für Tony war deshalb der Königshafen alles andere als einladend. Den absoluten Tiefpunkt fand unsere Tour in einer Schlicksenke, die ich ansteuerte, um ihm dort zusammengespülte Grünalgen zu zeigen. Aber wir steckten fest im Matsch, und Tony machte seinem Entsetzen Luft: «Karsten, this is absolutely disgusting!» Ich sah ihn betroffen an. Zwar reichten meine Sprachkenntnisse, um zu verstehen, dass er diese Situation als ekelhaft empfand, aber ich war so in meinem Element, dass ich sein Gefühl nicht nachvollziehen konnte.

Das merkte er, und wir mussten lachen. Es entspann sich ein Gespräch über die Wirkung von Watt und Felsküsten auf unser ökologisches Denken, auf unseren Charakter. War Tonys Hang zu harten Fakten und klaren Aussagen von steilen Klippen geprägt? Dort wachsen von oben nach unten erst grüne, dann braune und schließlich rote Algen in geordneten Zonen. Oder hatte er ein Forschungsgebiet gefunden, das seinen Neigungen entsprach? Hat sich beides wechselwirkend verstärkt? Wir sackten immer noch etwas tiefer in den Matsch. Und wie lag das bei mir? Was hat das Watt über all die Jahre mit mir gemacht? War ich matschig im Kopf geworden und versandeten bei mir klare Gedanken? Wie sich Würmer und Muscheln im Wattboden verteilen, ist nicht so offensichtlich wie Algen an felsigen Küsten. Ich musste erst mühsam nach den Tieren im Wattboden graben und sie aussieben, um Zonierungsmuster zu erkennen. Die blieben zudem ziemlich verschwommen. Vermutlich war das Watt nicht steil genug und die Bodenarten zu sehr durchmischt. Fühlte ich mehr mit den Versackten und Tony mit denen, die immer sauber blieben?

Wir waren nicht nur ins Gespräch vertieft, sondern außerdem mittlerweile tief verschlammt. Nur unter Mühen gelangten wir ans Ufer, und Tony hatte leicht das letzte Wort: «Now you know what I mean, don’t you?» Ja, ja. Aber lag der Reiz des Watts nicht gerade im Verborgenen? Und hat es nicht außerdem die große Weite, die Ruhe und die Vogelscharen bis zum Horizont? Im Schlick zu stecken ist lästig. Aber auf rutschigem Felsenufer hinzuschlagen tut auch nicht gut. Im nordspanischen Galizien setzen mutige Fischer in tobender Brandung ihr Leben aufs Spiel, um von Felsen Entenmuscheln abzukratzen. Zweifellos färbt die Mitwelt auf uns ab, aber ebenso sicher formen wir uns zumindest im Geiste unsere Mitwelt so, wie wir sie aushalten oder sogar lieben können.

Seit fast 50 Jahren bin ich nun Wattforscher und ich weiß noch, wie vom nahen Deich im Abenddämmern pausenloses Knallen erscholl, Hunde mit Gebell ins Watt wetzten und mitbrachten, was taumelnd vom Himmel fiel. Das Watt ist heute nicht mehr zum Schießen da. Aus ihm wird auch nicht mehr eingedeichtes Land, sondern es ist unschätzbar wertvoll geworden. Wie es zu diesem Sinneswandel kam, habe ich selbst miterlebt und es drängt mich, davon zu erzählen. Auch, wie es gelang, dass eine einst als trügerisch und öde verkannte Flachküste schließlich als Wattenmeer 1985 zum Nationalpark und 2009 zum Erbe der Menschheit erklärt wurde. Nicht nur änderte sich unser Blick auf diese sonderbare Naturlandschaft, sondern auch das Watt selbst wandelte sich, hat seine Geschichte und Geschichten. Die Erforschung der Ökosysteme hatte ihr Konzept von Wald und Wiese dem Watt zunächst einfach übergestülpt, und die Meeresforschung hatte sich kaum um diesen verschwommenen Saum zwischen Land und Meer gekümmert. Das gefiel mir nicht und ich fand, die Wattforschung sollte ihr eigenes Konzept entwickeln, um den Eigenheiten dieser amphibischen Welt besser gerecht zu werden.

Das Watt gehört ganz klar zum Meer, auch wenn es uns bei Ebbe vorgaukelt, ein Land zu sein. Selten braust im Watt das Meer mit voller Wucht auf. Schmiegt sich meist sanft ans Land, zeigt nur kurz mit dem Watt seinen weichen Grund her. Wissenschaftlich betrachtet: Watt ist allseits auf Empfang, produziert selbst viel und bewirtet schwimmende und fliegende Gäste mit reich – aber niemals gleich – gedecktem Tisch. Im Watt leben nicht nur ausgebuffte Opportunisten und solche, die hart im Nehmen sind. Verborgen im Wattboden entfaltet sich eine Parallelwelt mikroskopisch kleinster Meereswesen. Die sind von unglaublicher Vielfalt und erst lückenhaft erforscht. Unter den gefiederten Fliegern sind Herumtreiber ebenso wie Hochleistungssportler mit engstem Zeitplan auf eiliger Durchreise. Alles in allem lebt im Watt eine vielschichtige Gesellschaft, die einen mit- und die anderen gegeneinander.

Und ein Nebeneinander kommt auch noch vor. Gemeinsam ist allen nur das sichere Zeitgefühl für Ebbe und Flut. Auf ihre Art tuscheln im Watt Land und Meer miteinander. Belauschen wir sie, entdecken wir vielleicht neue Wege zu ersehnten Ufern. Die werden wir brauchen. Weltweit stauen sich an den Küsten mehr Menschen in Metropolen, die kaum über und manchmal sogar schon unter dem Meeresniveau gebaut sind, und das, obwohl der Meeresspiegel klimabedingt nun wieder schneller zu steigen beginnt. Bei Sturm bremst das Watt das hochwogige Meer, bevor es unsere Ufer erschüttern kann. Das Watt ersetzt harte Grenzen durch seine Allmählichkeit. Schon darum lohnt es, der Wattnatur achtsam zu begegnen und auf den Grund zu gehen.

Dieses Buch erzählt vom oft untergründigen und flüchtigen Leben im Watt und empfiehlt, in dem Mit- und Durcheinander von Natürlichem und Verändertem auf Anregungen zu achten. Regeln, so scheint mir inzwischen, spielen im Wattleben nur Schattenrollen. Der Zufall ist dagegen dort ein großer Meister. Das Wechselbad von Ebbe und Flut lässt oftmals Leerstellen im Gemenge der Wattwesen frei. Auch wer aus Übersee stammt, kann sich leicht und locker einbringen. Alles ist wie im Fluss. Immer hat die Wattnatur Überraschungen auf Lager. Noch immer weiß ich nichts über ein mögliches Wir-Gefühl von Wattwürmern. Lässt sich die Flugfreude schwärmender Küstenvögel auch auf den Square Dance der Krebse übertragen? So manches Tier entzieht sich mit Geschick weiterhin allen Nachforschungen.

Viele Rätsel sind noch ungelöst. Enttäuscht kam ich nie aus dem Watt zurück, höchstens erschöpft, wenn ich zu lange blieb und die Flut mich auf dem Rückweg überholte. Im Watt sind wir immer nur Gast auf Zeit. Es bleibt ein spannender Erkundungsraum in sonst schwer zugänglicher Meeresnatur. Der bin ich forschend begegnet, ließ mich hinters Licht führen und erfuhr dennoch viel über ihr Wesen und ihre Wesen, was sie lieben und woran sie leiden. Davon und was es uns bedeutet,...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2022
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. Abb; zahlr. s/w Zeichn. des Autors
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte Biologie • Küstenforschung • Küstenschutz • Meeresbiologie • Meereskunde • Naturkunde • Nordsee • Ostsee • Sachbuch • Wattenmeer • Weltnaturerbe
ISBN-10 3-644-01352-7 / 3644013527
ISBN-13 978-3-644-01352-0 / 9783644013520
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