Die Grenzbereiche des Lebens (eBook)

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2018 | 1. Auflage
286 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561985-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Grenzbereiche des Lebens -  Lyall Watson
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Hat sich Lyall Watson in seinem vorhergehenden Buch »Geheimes Wissen. Das Natürliche des Übernatürlichen« mit den Rätseln des Lebens auseinandergesetzt und mit überraschenden Vorschlägen zu ihrer Lösung aufgewartet, so widmet er sich hier den Rätseln des Todes und einem möglichen Weiterleben nach dem Tod. Er vertritt und begründet die Auffassung, es sei biologisch gesehen nicht länger sinnvoll, zwischen Leben und Tod auf irgendeiner Ebene zu unterscheiden. Wo das Leben seine Grenzen, auch unter dem Einfluß technischen Fortschritts, ständig weiter ausdehne, verwischten sich die Übergänge zwischen beiden Zuständen bis zur Unkenntlichkeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Lyall Watson, geboren 1939 in Südafrika, promovierte an der Universität von London in Biologie. Er war u.a. Direktor des Zoos von Johannesburg, Filmautor bei der BBC und Leiter zahlreicher Expeditionen. Watson starb 2008.

Lyall Watson, geboren 1939 in Südafrika, promovierte an der Universität von London in Biologie. Er war u.a. Direktor des Zoos von Johannesburg, Filmautor bei der BBC und Leiter zahlreicher Expeditionen. Watson starb 2008.

Teil I Der Körper


Der Romeo-Irrtum ist weder selten noch verwirrten südländischen Liebhabern vorbehalten. Er wurde sogar von dem berühmtesten aller Anatomen begangen: Auf dem Höhepunkt seiner Karriere sezierte Andreas Vesalius um die Mitte des 16. Jahrhunderts einen spanischen Edelmann, als die »Leiche« plötzlich wieder lebendig wurde [1].[1] Der verletzte Don erholte sich wieder vollständig, aber Vesalius wurde der Inquisition angezeigt und für diesen Irrtum zum Tode verurteilt. Nicht lange danach soll der Großinquisitor selbst auf dem Seziertisch eines anderen Anatomen das Bewußtsein wiedererlangt haben.

Andere hatten mehr Glück. Der Reverend Schwartz, einer der ersten Missionare im Orient, wurde in Delhi durch die Klänge seiner Lieblingshymne vom Scheintod erweckt. Die zum Sterbegottesdienst versammelte Gemeinde bemerkte ihren Irrtum, als seine Stimme im Sarg in den Chor einfiel [2]. Eine nicht minder große Bestürzung richtete Nikephorus Glykas, der griechisch-orthodoxe Bischof von Lesbos, unter seinen frommen Anhängern an. Nachdem er zwei Tage in vollem Ornat in der Kirche von Methymni aufgebahrt gewesen war, setzte er sich plötzlich kerzengerade auf, blitzte die Reihe der vorbeidefilierenden Trauernden zornig an und wollte wissen, was sie da zu glotzen hätten [3].

Ähnliche Berichte finden sich in Platons Dialogen, in den Lebensbeschreibungen Plutarchs und in der Naturgeschichte Plinius’ des Älteren, aber es wäre irrig anzunehmen, dergleichen Irrtümer seien nur in ferner Vergangenheit vorgekommen. Im Jahre 1964 wurde in einer New Yorker Leichenhalle eine Autopsie beim ersten Schnitt abgebrochen, denn der »Patient« sprang auf und packte den Chirurgen an der Kehle. Der Arzt bezahlte seinen Irrtum mit dem Leben: der Schock tötete ihn.

»Autopsie« bedeutet wörtlich »selbst sehen«, aber die exakte Feststellung des Todes bereitet in manchen Fällen solche Schwierigkeiten, daß die meisten Länder Gesetze haben, die eine zu rasche Beerdigung verbieten. Der italienische Dichter Francesco Petrarca lag in Ferrara zwanzig Stunden lang scheinbar tot da, und er wäre nach weiteren vier Stunden, das heißt nach Ablauf der in seiner Heimatstadt gesetzlich festgelegten Wartefrist, begraben worden, wenn ihn nicht ein plötzlicher Temperaturwechsel veranlaßt hätte, in seinem Bett aufzusitzen. Er beklagte sich über die Zugluft, schalt seine Diener und lebte weitere dreißig Jahre, in denen er noch einige seiner schönsten Sonette schrieb [4]. In manchen Ländern gibt oder gab es sogar Wartezimmer in den Leichenhallen. So steht in München ein großes gotisches Gebäude, in dem einst die Toten in langen Reihen lagen und durch Schnüre mit Glöckchen im Zimmer des Aufsehers verbunden waren. Anscheinend wurde der Mann so oft aus dem Schlaf gerissen, daß sich diese Anordnung lohnte.

Selbstverständlich kann man eine Leiche nicht beliebig lange liegen lassen, und daher wurden verschiedene Proben erdacht, um Irrtümer zu vermeiden. Eine der ältesten besteht darin, den Körper an verschiedenen Stellen mit einer Kerzenflamme zu berühren – in der richtigen Annahme, daß sich auf der Haut keine Blasen mehr bilden, sobald der Blutkreislauf zum Stillstand gekommen ist. Diese Technik bewährte sich bei Luigi Vittori, einem Karabinier im Dienste Papst Pius’ IX., der in einem römischen Krankenhaus laut Feststellung eines Arztes an Asthma gestorben war und für tot gehalten wurde, bis ihm ein anderer, skeptischer Arzt eine Flamme an sein Gesicht hielt. Luigi zuckte und sein Bewußtsein kehrte zurück. Er nahm seinen Dienst im Vatikan wieder auf, aber Zeit seines Lebens trug er ein Memento mori in Form von Verbrennungen dritten Grades an der Nase mit sich herum (198).

Dr. Icard in Marseille führte eine moderne Variante dieser Probe ein. Er injizierte eine Fluoreszein-Lösung, die bei Lebenden eine vorübergehende Grünfärbung der Hornhaut des Auges hervorruft, nach Eintritt des Todes aber keine Wirkung mehr hat [5]. In den Vereinigten Staaten wurde Atropin, das normalerweise die Pupillen erweitert, für ähnliche kritische Tests verwendet, wenn der Arzt im Zweifel war. In Großbritannien experimentieren die Leichenbeschauer mit einem einfachen tragbaren Kardiographen, der auch noch eine sehr schwache elektrische Aktivität im Herzen registriert. Als das neue Instrument am 26. Februar 1970 in der Leichenhalle von Sheffield zum erstenmal verwendet wurde, entdeckte man Lebenszeichen in einer Dreiundzwanzigjährigen, von der man angenommen hatte, sie sei an einer Überdosis Rauschgift gestorben [6].

Es gibt einige Tests, die gut funktionieren, aber alle haben den Nachteil, daß ein negatives Ergebnis nichts Endgültiges besagt. Und allein in Großbritannien sterben jährlich mehr als 600000 Menschen ohne irgendeinen Test. Es besteht genug Grund zu der Annahme, daß auch in Ländern, in denen, wie in Großbritannien, der Tod amtlich bescheinigt und registriert werden muß, sehr viele Menschen beerdigt werden, bevor ihre Zeit wirklich abgelaufen ist. Einer Schätzung zufolge sind es in England und Wales nicht weniger als 2700 jährlich, aber dazu muß vermerkt werden, daß diese Schätzung gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurde, als die allgemeine Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden ihren Höhepunkt erreicht hatte [7].

Der englische Romancier Wilkie Collins legte jeden Abend einen Zettel auf seinen Nachttisch, auf dem bestimmte Vorsichtsmaßnahmen standen, die zu ergreifen waren, bevor man annahm, daß er tot sei, und Hans Christian Andersen ging nie aus dem Haus, ohne einen ähnlichen Zettel zu sich zu stecken. Oberst Edward Vollum vom Sanitätskorps der Armee der Vereinigten Staaten legte einen Plan vor, wonach jeder, der ohne Einbalsamierung begraben wurde, eine Flasche Chloroform in unmittelbarer Reichweite haben sollte [8]. Graf Karnicé-Karnicki, Kämmerer des Zaren Alexander III., erfand eine humanere Vorrichtung: Vom Sarg aus führte ein Rohr zu einem Kasten über der Erde, der von außen nicht geöffnet werden konnte, aber beim ersten Lebenszeichen von innen aufsprang, so daß Luft eindringen konnte, worauf ein kleiner Mast mit einem Wimpel ausgefahren wurde und zugleich eine Glocke zu läuten und ein Licht zu blinken begann, um Hilfe herbeizurufen. Der Graf hatte die Absicht, diese Mechanismen an die Friedhöfe zu verkaufen, die sie für eine Sicherheitsfrist von vierzehn Tagen an die frisch Bestatteten ausleihen sollten (101).

Diese allgemein verbreitete Besorgnis scheint zum Teil auf das Treiben professioneller Leichenräuber zurückgegangen zu sein, die in England unter dem Namen Resurrection Men (Wiederauferstehungsmänner«) bekannt waren. Sie gruben frisch bestattete Leichen aus und verkauften sie an die Barber Surgeon Company, einen Chirurgenverband, dem amtlicherseits nur vier Leichen jährlich zugeteilt wurden und der Spitzenpreise für weitere Versuchsobjekte zahlte und keine peinlichen Fragen stellte. Von diesem Handel erfuhr die Öffentlichkeit 1824, als John MacIntyre, dessen Tod amtlich bescheinigt und der auf dem Friedhof seiner Heimatstadt ordnungsgemäß bestattet worden war, auf dem Seziertisch einer Londoner medizinischen Schule erwachte, als das Messer des Prosektors seine Brust durchbohrte (77). Nach einer Untersuchung dieses Falles wurden auf den Friedhöfen Wachen aufgestellt, die dafür sorgten, daß die Bestatteten in ihren Gräbern blieben, und bald darauf wurden mehrere neue Fälle bekannt, in denen man Lebende begraben hatte.

Im Jahre 1856 wurde das Grab eines Mannes geöffnet, nachdem man Klopfzeichen gehört hatte, aber die Genehmigungen seitens des Priesters und der Polizei hatten so lange auf sich warten lassen, daß der Mann tatsächlich tot war, als die Retter den Sarg erreichten. Daß er lebendig begraben worden war, erkannte man an den Bißwunden, die er sich an Schultern und Armen zugefügt hatte [9]. Und im Jahre 1893 wurde eine hochschwangere Frau, die für tot erklärt und begraben worden war, exhumiert, nachdem man Geräusche aus dem Grab vernommen hatte. Die Vertreter der Behörde stellten fest, daß sie blutig und zerschunden war nach einem verzweifelten Befreiungskampf, der zur Geburt des Kindes geführt und mit dem Ersticken von Mutter und Kind geendet hatte.

In Kriegs- und Pestzeiten, wenn Tausende von Leichen so rasch wie möglich beseitigt werden mußten, wurden viele Menschen lebendig begraben. Als die ärztliche Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, müssen solche Fehler oft begangen worden sein. Heute dagegen, wo der Tod ärztlich bescheinigt und die Leiche professionellen Bestattungsunternehmern übergeben wird, scheinen Irrtümer unmöglich geworden zu sein. Doch am 11. Dezember 1963 brach die 35jährige Elsie Waring in ihrer Wohnung in London zusammen und wurde ins Willesden General Hospital gebracht, wo bei ihrem Eintreffen drei Ärzte ihren Tod feststellten. Zehn Stunden später stöhnte sie auf und begann wieder zu atmen, als man sie in der öffentlichen Leichenhalle von Kilbum in ihren Sarg legte [10].

Der Romeo-Irrtum wird immer noch begangen, und er wird weiter begangen werden, denn die Grenzen zwischen Leben und Tod sind verschwommen, weil wir nicht imstande sind, den einen oder den anderen Zustand eindeutig zu definieren.

In diesem ersten Abschnitt will ich...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2018
Übersetzer Joachim A. Frank
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Aisenberg • Besessenheit • Charles C. Thomas • Drogen • EEG • EndNote • Energiekörper • Erleuchtung • Fortpflanzungszelle • G. Borotha-Schoeler • Grenzbereich • Harold Burr • Ian Stevenson • Julian Press • Leben nach dem Tod • Literaturverzeichnis • London • Manila • Mary • New York • Organismus • Philippinen • Sachbuch • Sachregister • Stepan Fort • Tod • Todeszyklus • Traumschlaf • University of California • USA
ISBN-10 3-10-561985-2 / 3105619852
ISBN-13 978-3-10-561985-8 / 9783105619858
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