Ödipus und der Teufel (eBook)

Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
316 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561924-7 (ISBN)

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Ödipus und der Teufel -  Lyndal Roper
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Warum tötet eine Frau ihr Kind? Warum gesteht eine andere, mit dem Teufel wie Mann und Frau gelebt zu haben? Warum beschäftigt ein berühmter Bankier und Kaufmann eine Dorfhellseherin? Und was verbirgt sich hinter der frühneuzeitlichen Mode der opulenten Schamkapseln? Lyndal Roper bietet überraschende Einblicke in eine fremde und doch begreifbare Welt. Ihr gelingt es, der Historiographie der Frühen Neuzeit einen entscheidenden Impuls zu verleihen. Mit feinem, aber festem Strich fügt sie dem Bild vom ausschließlich sozial und kulturell geprägten Individuum, wie es uns seit Max Weber und Norbert Elias vertraut ist, eine neue Dimension hinzu: Lyndal Roper fragt nach den psychischen und physischen Aspekten individuellen Handelns, nach der Bedeutung des Irrationalen und Unbewußten für die Geschichte, nach der Bedeutung des Körpers und schließlich nach der Beziehung dieser Aspekte zur Geschlechterdifferenz. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Lyndal Roper ist »Regius Professor of History« in Oxford. Sie ist Expertin für die Geschichte der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit dem Leben Martin Luthers. Auf Deutsch erschienen von ihr u. a. ?Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der frühen Neuzeit? (Fischer Taschenbuch Verlag 1995), ?Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung? (2007) und ?Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen? (2012).Lyndal Roper wurde mit dem Gerda Henkel Preis 2016 ausgezeichnet.

Lyndal Roper ist »Regius Professor of History« in Oxford. Sie ist Expertin für die Geschichte der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit dem Leben Martin Luthers. Auf Deutsch erschienen von ihr u. a. ›Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der frühen Neuzeit‹ (Fischer Taschenbuch Verlag 1995), ›Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung‹ (2007) und ›Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen‹ (2012). Lyndal Roper wurde mit dem Gerda Henkel Preis 2016 ausgezeichnet. Peter Sillem, geb. 1967, ist Lektor und Programmgeschäftsführer im Frankfurter S. Fischer Verlag.

Einleitung


I


Im Jahre 1686 gestand Appolonia Mayr, eine sitzengelassene Dienstmagd, ihr neugeborenes Kind ermordet zu haben. Der Teufel hatte ihr versprochen, daß ihr Liebhaber sie heiraten würde, wenn sie ihr Kind umbrächte. Sie hatte den Säugling an einem kleinen Hügel jenseits der Lechbrücke, kurz vor dem Dorf Friedberg, erdrosselt. Sie erinnerte sich noch an den Ort ihrer Tat und konnte ihn wiederfinden. Nicht weit davon entfernt stand ein Baum. Sie war in die Felder gegangen, und es war Mittag, als es passierte.[1] Bei der Beschreibung der Geburt und des Mordes sagte sie aus, »der bose habe Ihr kein frid gelassen, es seie nur ein Augenblick gewesen, der Teuffel habs angeruhrt, als wan Er ein hebam were, seie gar bald geschehen, das dz kind heraus gewesen. Sie habs auch gleich ertrosselt mit der hand, vnd sie habe im bringen kein schmerzen gespuhrt.«[2] Anschließend ging Appolonia weiter: »Ja sie habs also gantz nackent ligen lassen, vnbedeckt, vnd unbegraben. […] der Teuffel seie nicht mit Ihr gegangen, sondern beym kind stehen bliben, sie habe weitter nicht vmbgesehen.«[3]

Was können wir mit einem solchen kulturellen Fragment anfangen? Anscheinend begeht hier eine Frau Kindsmord als eine Art Liebeszauber, als verzweifelten und hoffnungslosen Versuch, ihren Liebhaber dazu zu bewegen, sie zu heiraten. Allein auf dem Pfad zwischen den Feldern und dem Dorf, hat sie die Grenze menschlicher Behausung überschritten – der einsame Baum, der den Ort bezeichnet, ist das einzige markante Merkmal in der Landschaft. Sie gebiert das Kind ohne die Unterstützung einer Frau. Der Teufel agiert als Hebamme, und er ist es auch, der bei dem Kind bleibt. Appolonia selbst tut kaum irgend etwas – die Geburt bereitet ihr kaum Mühe, Appolonia läßt das Kind unbedeckt im Gebüsch zurück und läuft weiter. Um so deutlicher sticht ihre einzige Tat heraus: das eigenhändige Erdrosseln ihres neugeborenen Kindes. Appolonia Mayr wurde als Hexe verbrannt. Sie lebte in einer Welt, in der der Teufel ein Wesen war, dem man auf jedem einsamen Pfad begegnen konnte, das einem einzuflüstern vermochte, wen man töten sollte und wie man andere Menschen beherrschen konnte. Wie ist eine solche Welt zu verstehen? Es hat viele Anläufe dazu gegeben, angefangen bei den Richtern, die die Kriminellen verhörten, über die Verleger von Flugschriften, die diese schrecklichen Fälle in Unterhaltung verkehrten, bis hin zu den Kulturgeschichtlern des 19. Jahrhunderts[4] und weiter zu den Historikerinnen und Historikern unserer Tage. Damals wie heute rührt ein Großteil dieses Interesses aus der Faszination einer fremden und doch vertrauten Welt. Fälle wie dieser geben uns Rätsel auf über unsere eigene Identität und sind ein Anreiz für uns zu spezifizieren, worin das Historische eigentlich besteht. Sie konfrontieren uns mit einer Zeit, die anscheinend unberührt war von unserem Persönlichkeitsbegriff, in der moralische Kategorien eine andere Gewichtung hatten und in der man sich die Beziehung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen anders vorstellte. Wir haben viele Hilfsmittel bemüht, um diese Welt zu analysieren. Wir haben von der Anthropologie und der Literaturwissenschaft gelernt, beim Lesen unserer Texte das Augenmerk auf Symbole und Rituale zu richten, Verwandtschaftsstrukturen aufzudecken und, dies vor allem, die Andersartigkeit der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu unterstreichen.[5] Durch dieses Vorgehen konnten wir schließlich die Distanz ausloten, die uns von jener anderen Welt trennt, und diese durch die Rekonstruktion des kollektiven Charakters der frühneuzeitlichen Gesellschaft »historisieren«, wobei Subjektivität selbst als kulturelles Konstrukt gilt. Wie können wir mit einer historischen Vorgehensweise, die auf solchen Annahmen beruht, Appolonia Mayrs Geschichte deuten? Man könnte in ihr das Beispiel einer Frau auf dem Höhepunkt der Gegenreformation sehen, gepeinigt von sexuellen Schuldgefühlen, mit denen sie durch katholische »Umschulung« und Sozialdisziplin beladen war. Ihre Geschichte vom Teufel könnte man lesen als eine Art abgedroschenen Blindtext, den Frauen, die sich einer geschlechtsspezifischen Sünde schuldig gemacht hatten, in der Kultur des Barock aufzusagen gezwungen waren. Ganz wie eine gute Katholikin des 17. Jahrhunderts es tun würde, die sich ihrer religiösen, konfessionellen Identität bewußt ist – das würden uns die Historiker erwarten lassen –, beschreibt Appolonia, wie sie in Augsburg nach Katholiken Ausschau hielt, um in deren Herberge ihr Kind zur Welt zu bringen.

Doch es gibt in ihrem Verhalten etwas Tiefgründigeres, Verstörenderes. Als Appolonia einige Monate später nach Augsburg zurückkehrte, war es ihre Bitte an die Franziskaner, ihr eine Taufurkunde für ihr totes Kind auszustellen, die den Stein ins Rollen brachte. In der ersten Befragung bestritt Appolonia energisch, ihr Kind getötet zu haben; sie erzählte, »Fast Ein stund nach der geburth habe sie begert Jhr kind zu sehen«, und sei dann davon unterrichtet worden, daß ihr Kind schon nicht mehr gelebt hätte, als es zur Taufe zu den Franziskanern gebracht worden war. Die fehlende Bescheinigung der Kindstaufe als Beweis für das ewige Leben des Säuglings steht für den Verlust des Kindes selbst. Wie Appolonia es ausdrückte: »Sie wolle halt ihr kind wieder sehen, kenne also nicht mehr leben«.[6] In ihren Versuchen, an das Schriftstück zu gelangen, offenbart sich eine selbstmörderische Verzweiflung: Auf ihrer Suche nach dem Schreiben verfing sie sich im Spinnennetz der Bürokratie, die unweigerlich ihre Tat aufdeckte und ihr Lügengebäude über den Tod des Kindes zum Einsturz brachte. Das spricht weniger für konfessionelle Identität und sexuelle Schuld – Appolonia hatte keinen Hehl aus ihrer Schwangerschaft gemacht –, als vielmehr für nackte Verzweiflung angesichts des Verlusts ihres Kindes, ein Schmerz, der nicht das Produkt gegenreformatorischer Religiosität ist. Angesichts der Vielfalt und Inkonsistenz der Erklärungen darüber, wo und wie Appolonia das Kind zur Welt brachte, müssen die Historikerin und der Historiker (ebenso wie Appolonias Befrager) jegliche Hoffnung aufgeben, jemals die »Wahrheit« darüber zu ergründen; doch die Erklärungen sind in anderer Weise aufschlußreich.

Appolonias Teufelsphantasien haben wenig mit Ritualen zu tun. Sie sind so eindeutig lokalisierbar und offenbaren so viel persönliches Leid, daß es unangemessen wäre, von kollektiven Überzeugungen und Symbolen zu sprechen. Der Prozeß, den Appolonia durchlief, bis sie, indem sie über den Teufel sprach, ihren Schmerz beschreiben konnte, ist wesentlich komplexer, als eine bloße Rekapitulation kultureller Stereotypen es wäre. Es ist sicher richtig, daß die Plausibilität ihrer Aussagen für ihre Befrager ebenso wie für sie selbst von dem gemeinsamen Glauben an die Macht des Teufels abhing, doch gestaltete Appolonia ihre ganz eigene Geschichte über Mutterschaft und Schuld. Es war eine Geschichte mit einer eigenen gotteslästerlichen, marianischen Ausprägung: In ihrer ersten Version erzählte sie, wie sie als Fremde um Aufnahme in einer Herberge ersucht und in einem einsamen Raum auf einem Bett aus Stroh das Kind zur Welt gebracht habe.

Es waren Geschichten wie jene von Appolonia Mayr, bei denen es mir unbehaglich wurde in der Art und Weise, wie ich bislang die Beziehung zwischen individueller Subjektivität und Kultur konstruiert hatte. In diesem Buch möchte ich einer allzu starken Betonung der kulturellen Erzeugung von Subjektivität entgegentreten und dafür plädieren, daß Hexerei und Exorzismus, diese beiden fremdartigsten Phänomene frühneuzeitlicher Kultur, daß Freien, Werben und Rituale, also scheinbar unwiderlegbar kollektive Gesellschaftsereignisse der Frühen Neuzeit, nicht zu verstehen sind, ohne ihre psychische Dimension zu berücksichtigen. Ich bin davon überzeugt, daß die frühneuzeitlichen Menschen über eine individuelle Subjektivität verfügten, die geprägt war durch Konflikte, welche uns nicht ganz unvertraut sind. Ich behaupte nicht, daß es keine historische Kluft gäbe, die unser Zeitalter von der Epoche der Frühen Neuzeit trennt – das wäre absurd. Aber ich möchte mich dafür stark machen, daß diese Kluft zwischen uns und der Vergangenheit, durch die wir uns eine bestimmte Art des Umgangs mit jener Vergangenheit angewöhnt haben, nicht so tief ist, wie wir manchmal glauben, und daß die Annahme von Differenz nicht immer ein brauchbares heuristisches Hilfsmittel ist. Im Gegenteil meine ich, daß sie uns beim Verständnis der frühneuzeitlichen Menschen als Individuen hinderlich gewesen ist.

Dieses Buch beschäftigt sich (vor allem) mit drei Themen: Erstens mit der Bedeutung des Irrationalen und des Unbewußten in der Geschichte; zweitens mit der Bedeutung des Körpers; und drittens mit der Verbindung dieser beiden zur Differenz der Geschlechter. Es geht darin um das Wesen von Männlichkeit und Weiblichkeit, um den kulturellen Einfluß von Reformation und Gegenreformation sowie um die zentrale Rolle von Magie und Hexerei für die psychische und emotionale Welt der Frühen Neuzeit und für das, was wir für »Rationalität« halten. Die vorliegenden Aufsätze dokumentieren, was mich angeht, eine Abkehr von der Überzeugung, daß die Geschlechtlichkeit [gender][7] ein Produkt kultureller und sprachlicher Praxis sei, hin zu der Ansicht, daß die Geschlechterdifferenz ihre eigene physiologische und psychologische Realität besitzt und daß die Anerkennung dieser Tatsache sich auf die Geschichtsschreibung auswirken...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2017
Übersetzer Peter Sillem
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Anton Fugger • Augsburg • Berlin • Disziplinlosigkeit • Drucknachweis • EndNote • Folter • Frankfurt • Geschlechterrollen • Hexenphantasie • Hexenverfolgung • Hexerei • John S. Oyer • Kulturgeschichte • London • Lyndal Roper • Männlichkeit • München • New York • Norbert Elias • Psychologie • Reformation • Regina Bartholome • Sachbuch • Sexualität • Sexualutopie • Sozialgeschichte • S. Schomburg-Scherff • Subjektivität • Teufelsaustreibung
ISBN-10 3-10-561924-0 / 3105619240
ISBN-13 978-3-10-561924-7 / 9783105619247
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