Die Zeit kann dahinkriechen oder rasend schnell verfliegen. Wir wünschen uns alle Zeit der Welt und wissen doch, dass sie irgendwann abläuft. Über Zeit zu sprechen heißt, in Bildern zu sprechen. Denn was genau ist Zeit? Erlebt ein Kind sie so wie ein Erwachsener? Warum fließt sie zäh wie Honig dahin, wenn wir uns langweilen, und zerrinnt im Alter wie Sand zwischen den Fingern? Warum und wie verfliegt die Zeit?
In seiner ebenso leichtfüßigen wie tiefgreifenden Erkundung sucht Alan Burdick nach dem Uhrwerk, das in uns allen tickt. Ein Jahrzehnt lang hat er die wissenschaftliche Forschung über unsere Wahrnehmung von Zeit verfolgt und dabei die genaueste Uhr der Welt besucht (die nur auf dem Papier existiert), herausgefunden, das 'jetzt' tatsächlich den Bruchteil einer Sekunde her ist, in der Arktis gelebt, um jegliches Zeitgefühl zu verlieren und, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment, in einem Labor den Fluss der Zeit umgekehrt.
Ein größtenteils wissenschaftliches, mitreißend persönliches und faszinierendes Buch über unsere lebenslange Beziehung mit der Zeit.
Alan Burdick schreibt für den New Yorker, wo er bereits als leitender Redakteur tätig war. Sein erstes Buch Out of Eden wurde für den National Book Award nominiert und vom Overseas Press Club ausgezeichnet. Seine Arbeiten erschienen u.a. in GQ, Harper's, Outside und der Anthologie Best American Science and Nature Writing. Burdick ist Guggenheim Fellow und Namensgeber des Asteroiden Nr. 9291, er lebt mit seiner Familie in der Nähe von New York.
Ich nehme in der Pariser Métro Platz und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Ich treibe ohne Anker dahin. Mein Kalender zeigt späten Winter, aber draußen vorm Fenster ist ein warmer, sonniger Tag, an den Ästen glitzern die Knospen, die Stadt strahlt. Gestern traf ich aus New York ein und saß bis nach Mitternacht mit Freunden zusammen, heute herrscht in meinem Kopf noch nächtliches Dunkel, so als sei er an der Jahreszeit und der Zeitzone angeleimt, die mehrere Stunden hinter mir liegen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr: 9.44. Wie üblich bin ich zu spät dran.
Die Uhr ist ein Geschenk meines Schwiegervaters Jerry, der sie jahrelang selbst getragen hat. Zur Verlobung mit Susan boten ihre Eltern mir eine schöne neue Uhr an. Ich lehnte dankend ab, plagte mich dann aber lange mit dem Gedanken, dass ich damit einen ziemlich lausigen Eindruck hinterlassen haben muss. Welche Art von Schwiegersohn ignoriert schon die Zeit? Als Jerry mir schließlich wenigstens seine alte Armbanduhr schenken wollte, nahm ich augenblicklich an. Sie hat goldene Zeiger und Striche statt Ziffern, ein schwarzes Blatt, auf dem der Markenname (Concord) und in fetten Buchstaben quartz stehen, und ein breites silbernes Armband. Ich mochte das Gewicht an meinem Handgelenk, es gab mir das Gefühl, wichtig zu sein. Ich dankte Jerry und bemerkte zutreffender, als es mir in diesem Moment klar war, dass sie ein wichtiges Utensil für meine Recherchen über die Zeit sein werde.
Meine Sinne machten mich immer glauben, dass die Zeit all der Zeitmesser und Uhren und Zugfahrpläne »da draußen« eine messbar andere sei als die Zeit, die durch meine Zellen, meinen Körper, meinen Kopf fließt. Doch die Wahrheit ist, dass ich über Erstere genauso wenig wusste wie über Letztere. Weder konnte ich sagen, wie diese oder jene Uhr funktioniert, noch, wie es ihr gelingt, fast immer genau mit all den anderen Uhren übereinzustimmen, auf die zufällig mein Blick fiel. Wenn es denn einen Unterschied zwischen äußerer und innerer Zeit gibt – einen so realen wie der zwischen Physik und Biologie –, dann hatte zumindest ich keine Ahnung, worin er besteht.
Meine neue alte Uhr war also eine Art Experiment. Welch bessere Möglichkeit hätte es auch geben können, meine Beziehung zur Zeit auszuloten, als sie nun eine Weile lang doch physisch an mir festzuzurren? Resultate ergaben sich fast sofort. In den ersten paar Stunden, die ich sie trug, konnte ich an nichts anderes denken. Das Handgelenk war schweißnass, sie zog am ganzen Arm. Die Zeit zerrte buchstäblich und im übertragenen Sinne an mir, weil meine Gedanken ständig um dieses Zerren kreisten. Aber es dauerte nicht lange, und ich vergaß die Uhr. Erst am nächsten Abend fiel sie mir plötzlich wieder auf. Ich badete gerade einen unserer Zwillingssöhne, als ich sie an meinem Handgelenk sah. Unter Wasser.
Insgeheim hoffte ich, dass diese Uhr ein gewisses Maß an Pünktlichkeit auf mich übertragen würde. So wie gerade eben, als ich glaubte, ich bräuchte nur oft genug auf sie zu blicken, um noch pünktlich zu meiner Zehn-Uhr-Verabredung im Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) im Pariser Vorort Sèvres einzutreffen, wo Wissenschaftler sich der Perfektionierung, Kalibrierung und Standardisierung aller Maße und Gewichte zu einem internationalen Einheitssystem verschrieben haben. Seit der Globalisierung unserer Volkswirtschaften wird es immer unumgänglicher, dass wir allesamt auf genau derselben messtechnischen Wellenlänge sind, dass ein Kilo in Stockholm exakt einem Kilo in Jakarta entspricht, ein Meter in Bamako exakt einem Meter in Schanghai, eine Sekunde in New York exakt einer Sekunde in Paris. Das Büro ist die UNO der Maßeinheiten, der Standardisierer weltweiter Standards.
Gegründet wurde es 1875 durch die Internationale Meterkonvention, einen Vertrag, »vom Wunsch geleitet, die internationale Einigung und die Vervollkommnung des metrischen Systems zu sichern«. (Der erste Akt des Büros bestand in der Aushändigung von dreißig »Linealen«: exakt vermessene Platin-Iridium-Stäbe für das sogenannte Meternormal oder Urmeter, durch die der weltweite Streit um die korrekte Länge eines Meters beigelegt wurde.) Siebzehn Nationen waren ihm beigetreten, achtundfünfzig gehören ihm heute an, darunter alle großen Industriestaaten. Die Garnitur der Referenzkörper für die Basis- oder SI-Einheiten, die das Büro bewahrt, ist mittlerweile auf sieben angewachsen: der Meter (Länge), das Kilo (Masse), das Ampere (elektrische Stromstärke), das Grad Kelvin (thermodynamische Temperatur), das Mol (Stoffmenge), die Candela (Lichtstärke) und die Sekunde.
Zu den vielen Pflichten des Büros zählt also auch die Wartung des einzigen offiziellen, weltweit gültigen Zeitstandards, genannt Coordinated Universal Time oder UTC (vor der globalen Einführung der UTC im Jahr 1972 hatten sich die Parteien nicht verständigen können, ob man das englische Akronym CUT oder das französische TUC verwenden sollte, also fand man den Kompromiss UTC). Jeder Zeitmesser über oder auf der Welt, von den hypergenauen Uhren in den GPS-Satelliten bis hin zu unseren Armbanduhren, ist direkt oder indirekt an der UTC ausgerichtet. Wo immer man steht und geht und nach der Zeit fragt, erhält man eine Antwort, die letztendlich von den Zeitwächtern des Pariser Büros stammt.
»Zeit ist, was nach allgemeiner Vereinbarung Zeit ist«, sagte einmal ein Zeitforscher zu mir. Wer zu spät kommt, verspätet sich demzufolge im Rahmen einer Konvention. Die Zeit des Büros ist aber nicht nur die genaueste Zeit der Welt, sondern genau genommen auch die einzig korrekte. Als ich gerade eben erneut auf meine Uhr blickte, erkannte ich demnach, dass ich nicht einfach nur zu spät dran war, sondern so viel zu spät, wie ich der einzig richtigen Zeit nach überhaupt nur sein konnte. Ich sollte schon bald erfahren, wie weit ich der Zeit wirklich hinterherhinkte.
Eine Uhr tut zwei Dinge: Sie tickt und sie zählt ihre Ticks. Eine Klepsydra, die Wasseruhr der alten Griechen, tickte zu dem steten Tropfen, der in ein Einlaufbehältnis fiel, in dem man anhand des Wasserstands die Stundenlinien ablesen konnte. Bei den fortschrittlicheren Varianten trieben die Tropfen bereits eine Reihe von Rädchen an, die ihrerseits einen Zeiger die Linie entlangstießen, an der sich der Lauf der Zeit ablesen ließ. Klepsydren wurden schon vor mindestens dreitausend Jahren verwendet. Römische Senatoren nutzten sie, um ihre Kollegen von allzu langen Reden abzuhalten: Das Wasser tickte, akkumulierte Zeit, und irgendwann war die Redezeit »ausgeschöpft«.
Die längste Zeit der Geschichte war es jedoch die Erde, die in den meisten Uhren tickte. Während der Planet um seine Achse rotiert, zieht die Sonne ihre Himmelsbahn und bewegt ihren Schatten über sie; fällt dieser auf eine Sonnenuhr, zeigt sie an, welcher Punkt des Tages es ist. 1656 erfand Christiaan Huygens die Pendeluhr, die sich die Schwerkraft zunutze machte: Ein Pendel reguliert mit seinen Schwingungen den Gang der Hemmung und löst damit eine Aktion im Werk aus, die die Zeiger weiterdreht. Ein Tick ist schlicht eine Schwingung, ein steter Takt. Den Rhythmus gibt die Erdrotation vor.
Faktisch war das, was tickte, der Tag: das Rotationsintervall von einem Sonnenaufgang zum nächsten. Alles dazwischen – die Stunden, die Minuten – war erfunden, eine vom Menschen ersonnene Möglichkeit, den Tag in beherrschbare Einheiten aufzuteilen, die der eine genießen und der andere zum Handeln nutzen konnte. Heute werden unsere Tage mehr und mehr von Sekunden beherrscht. Sie sind die Währung des modernen Lebens, die Groschen unserer Zeit: omnipräsent und notfalls entscheidend (wie dann, wenn es dir gerade eben noch gelingt, den Anschlusszug zu erreichen), doch zugleich hinreichend marginal, um verplempert werden zu können oder reihenweise gedankenlos unbeachtet zu bleiben. Jahrhundertelang existierte die Sekunde nur theoretisch, als eine kontextdefinierte mathematische Untergruppe: 1/60 von einer Minute, 1/3 600 von einer Stunde, 1/86 400 von einem Tag. Im 16. Jahrhundert tauchten die ersten Uhren mit Sekundenzeiger in Deuschand auf, doch erst als der englische Uhrmacher William Clement 1670 der Huygens’schen Pendeluhr das vertraute Tick-tack eines zweiten Pendels für die Sekunden zufügte, nahmen sie eine verlässliche physische oder zumindest hörbare Form an.
Ihren endgültigen Einzug in unser Leben hielt die Sekunde im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Quarzuhr. Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass ein Quarzkristall Zehntausende Male pro Sekunde wie eine Stimmgabel schwingen kann, wenn er durch ein oszillierendes elektrisches Feld dazu angeregt wird. Die genaue Frequenz hängt von der Größe und Form des Kristalls ab. In einer 1930 von den Bell Telephone Laboratories publizierten Abhandlung mit dem Titel The Crystal Clock wurde erstmals vermerkt, dass diese Eigenschaft auch eine Uhr antreiben könnte. Und da diese ihre Zeit nicht mehr von der Schwerkraft, sondern von einem elektrischen Feld bezieht, kann sie auch in Erdbebengebieten, fahrenden Zügen und Unterseebooten ein verlässlicher Zeitgeber sein. Moderne Quarzuhren, ob an der Wand oder am Handgelenk, verwenden dazu üblicherweise einen laserbearbeiteten Uhrenquarz, der exakt 32 768 (oder 215) mal pro Sekunde bei 32 768 Hz vibriert. Damit hatte man eine praktikable Definition: Eine Sekunde sind 32 768 Quarzvibrationen.
Seither gelang es Wissenschaftlern, der Sekunde immer weitere Dezimalstellen anzufügen, bis man in den 1960er-Jahren schließlich zur folgenden offiziellen...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2017 |
---|---|
Übersetzer | Yvonne Badal |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Why Time Flies - A Mostly Scientific Investigation |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | eBooks • Erleben • Innere Uhr • Nominierung National Book Award • Wahrnehmungspsychologie • Zeitgefühl • Zeitwahrnehmung |
ISBN-10 | 3-641-22052-1 / 3641220521 |
ISBN-13 | 978-3-641-22052-5 / 9783641220525 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich