Forschen als partizipative Praxis (eBook)
330 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8423-8 (ISBN)
Kristina Schmidt, Jg. 1984, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Professionalität im Kontext von Inklusion und Sozialer Arbeit, Disability Studies, Diversität(-sforschung), Ungleichheit und Empowerment.
1Grundlegendes zur Untersuchung
Die Studie legt das Hauptaugenmerk auf die Partizipation und Teilhabeerfahrungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Bereich Forschung. Während die Begriffe Beteiligung und Partizipation als Synonyme in diese Arbeit einfließen, wird Teilhabe als weitere Leitperspektive betrachtet. Von diesem Standpunkt aus ist es erforderlich, einige grundlegende Hinweise zur Verwendung von Begriffen und Leitkonzepten zu geben. Der adressierte Personenkreis nimmt dabei eine zentrale Funktion ein. In diesem Kapitel werden deshalb sowohl die Bezeichnung ‚Menschen mit geistiger Behinderung‘ als auch die Alternativbenennung ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ diskutiert und mögliche Schritte für deren Entstigmatisierung ausgelotet. Schließlich werden die rechtlichen und sozialen Legitimationsstränge für die Partizipative Forschung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten dargelegt. Das Kapitel schließt mit einer Überleitung zum nachfolgenden Kapitel, in welchem die methodologischen Grundannahmen der Partizipativen Forschung im Kontext von Disability vorgestellt werden.
1.1Teilhabe und Partizipation: zum Verhältnis verwandter Begriffe
Während Teilhabe ein etablierter Begriff ist, wenn es um Fragen zu Behinderung und gesellschaftlicher Inklusion geht, erfährt Partizipation als Leitgedanke vergleichsweise noch wenig Aufmerksamkeit (siehe u. a. Nieß 2016; Dobslaw 2018; Schachler 2022). Die zurückhaltende Rezeption – sowohl in wissenschaftlichen als auch in fachpraktischen Zusammenhängen – kann damit begründet werden, dass einerseits im allgemeinen Sprachgebrauch unter Partizipation „das Teilhaben, Teilnehmen, Beteiligtsein“ (Duden o. J.) verstanden wird und hierfür bereits ein etablierter Begriff vorhanden ist: nämlich Teilhabe. Andererseits, und das ist das Unterfangen dieses Diskurses, wird in der Übersetzung der englischen Originalfassung der UN-Behindertenrechtskonvention von participation ausgegangen (vgl. United Nations [UN] o. J.), während die deutsche amtlich anerkannte Fassung an diese Stellen das Substantiv Teilhabe einsetzt (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS] o. J.). Partizipation wird somit zur Teilhabe, was mitunter dazu führt, im Diskurs beide Begriffe unter derselben oder ähnlichen konzeptionellen Prämisse zu verwenden.
Ein Blick über die disziplinären Grenzen zeigt, dass die deutschsprachige Rezeption der Deklaration über die Rechte von Kindern und Jugendlichen der Vereinten Nationen (UN-KRK) eine andere Entwicklung genommen hat: Seit ihrer Einführung im Jahr 1989 finden breite Diskussionen in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern zu der Frage statt, wie Partizipation als Leitperspektive in der Pädagogik und Politik umgesetzt werden kann. Dies ist geschehen, obwohl der Begriff in der UN-KRK sowohl in der englischen als auch in der deutschen Fassung nicht explizit genannt wird. Die Herleitung erfolgt über den Artikel 12 der UN-KRK: Dieser beschreibt die Berücksichtigung des Kindeswillens, das Recht auf freie Meinungsbildung und darauf, diese frei zu äußern und dass sie zu berücksichtigen ist.
Obwohl der Teilhabebegriff in den pädagogischen Diskursen eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es Hinweise darauf, dass in der Kinder- und Jugendforschung strukturelle und praktische Unterscheidungen von Teilhabe und Partizipation unternommen werden. Sowohl in politischen Zusammenhängen zeigen sich Unterschiede durch die Verwendung des Begriffspaares „Teilhabe und Beteiligung“ (Deutscher Bundestag 2002: 265) als auch bei der Diskussion von sogenannten Partizipationsstufen, die für die Beobachtung und Feststellung (nicht) partizipativer Praxis herangezogen werden. Das älteste Stufenmodell der Partizipation ist eine Partizipationsleiter, die auf Arnstein (1969) zurückgeht und von ihr entwickelt wurde, um die Beteiligung von Bürger*innen zu bewerten. Nach der Einführung der UN-KRK wurde die Leiter von Roger Hart (1992) rezipiert und für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen modifiziert. Diese Arbeiten finden Niederschlag in gegenwärtigen Analysemodellen zur Beschreibung und Bewertung von Partizipationsprozessen.2 Eine deutsche Interpretation von Gernert (1993) und Schröder (1995) verwendet den Teilhabebegriff für eine Stufe, obwohl in der englischen Fassung kein Äquivalent zu finden ist. Während andere Stufenmodelle acht Stufen vorweisen, wird in diese Leiter eine Stufe integriert, die Teilhabe markieren soll. Dabei zeigt sich: Teilhabe ist hier zwischen den Stufen ‚Alibi-Teilnahme‘ und ‚Zugewiesen, informiert‘ angesiedelt (vgl. Gernert 1993; Schröder 1995: 16).
Abb. 1: Partizipationsleiter übersetzt von Gernert (1993); Schröder (1995): 16. Eigene Darstellung.
Ob diese Einordnung und Verhältnissetzung von Teilhabe und Partizipation auch für den Diskurs im Kontext von Behinderung zutrifft, wird folglich diskutiert: Teilhabe hat in der Debatte zu Behinderung einen hohen Stellwert, denn einerseits ist sie in der deutschen Rechtsordnung fest verankert (z. B. ist das Recht auf Teilhabe im SGB IX und insbesondere im BTHG geregelt), andererseits ist Teilhabe als deutsche Übersetzung von participation der UN-BRK ein wichtiger Bezugspunkt konzeptioneller und rechtlicher Vorgaben geworden. Aus der Perspektive dieser Auslegung wären Teilhabe und Partizipation deckungsgleich, sie würden sich konzeptionell nicht voneinander unterscheiden (vgl. Kastl 2017: 236). Die ausdrückliche Forderung nach Partizipation, die eine Unterscheidung zwischen Teilhabe und Partizipation intendiert, existiert jedoch: Hirschberg (2010) hat im Anschluss an das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) formuliert, Partizipation sei ein Querschnittsanliegen für die zivilgesellschaftliche Entwicklung inklusiver Strukturen (vgl. Hirschberger 2010). Diese Auffassung teilen auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013), das im Teilhabebericht Partizipation als Grundsatz festschreibt (vgl. ebd.: 28), sowie Heiden (2014), der Partizipation zu einem „Gebot“ erklärt. Hirschberg (2010) bekräftigt zudem, dass bei der offiziellen deutschen Übersetzung „wesentliche Aspekte, die die Konvention mit dem Begriff ‚Partizipation‘ verbindet, etwa der Aspekt der Mitbestimmung, verloren [gehen: KS]. Deshalb sollte der Begriff ‚Partizipation‘ auch in die deutschsprachige Diskussion aufgenommen werden“ (ebd.: 2). Mit der Akzentuierung der Mitbestimmung erhält Partizipation einen unmittelbaren demokratietheoretischen Bezug: Die individuellen Interessen und Aktivitäten von Bürger*innen werden als grundlegendes Prinzip des Zusammenlebens betrachtet (vgl. Nieß 2016: 230).
Einen politischen Vorstoß leistet das Netzwerk Artikel 3, indem es eine sogenannte „Schattenübersetzung“ (Netzwerk Artikel 3 e. V. 2018) der UN-BRK entwirft und diese semantisch so ausgestaltet, wie die Konvention in der englischen Originalfassung unter der Mitarbeit3 von Menschen mit Behinderungen und ihren Selbstvertretungsorganisationen entworfen wurde (vgl. Degener 2015: 56). Neben der unzureichenden Übersetzung von participation enthält die Schattenübersetzung des Netzwerk Artikel 3 noch weitere Änderungsvorschläge, die folgendermaßen begründet werden:
„Die Bewusstseinsbildung der gesamten Gesellschaft ist ein wichtiges Anliegen der Konvention, denn der Artikel 8 der BRK beschäftigt sich mit diesem Thema. Deshalb soll mit der Schattenübersetzung eine deutsche Version des Konventionstextes zur Verfügung gestellt werden, die den authentischen Fassungen mehr entspricht als die offizielle deutsche Übersetzung“ (Netzwerk Artikel 3 o. J.)
In der Schattenübersetzung wird der Teilhabebegriff gestrichen und durch den Partizipationsbegriff ersetzt. Das Recht auf Partizipation ist demnach nicht mit dem Recht auf Teilhabe gleichzusetzen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den beiden Konzepten liegt daher nahe. Ich werde mich zunächst mit dem etablierten und aktuell stark diskutierten ...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8423-7 / 3779984237 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8423-8 / 9783779984238 |
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