Effektive Schulsteuerung? Bilanz einer globalen Reformagenda -  Richard Münch,  Oliver Wieczorek

Effektive Schulsteuerung? Bilanz einer globalen Reformagenda (eBook)

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2024 | 1. Auflage
299 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8754-3 (ISBN)
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Schulreformen stehen seit drei Jahrzehnten weltweit auf der Tagesordnung. Diese Reformen haben einen gemeinsamen Kern, der den Schwerpunkt auf Schulautonomie, freie Schulwahl, Wettbewerb zwischen Schulen, zielführendes Schulmanagement, hohe Lehrerqualität und testbasierte Rechenschaftspflicht von Schulen legt. Richard Münch und Oliver Wieczorek haben anhand der Forschungsliteratur und eigener statistischer Analysen auf Grundlage von PISA-Daten der OECD detailliert untersucht, inwieweit diese Reformen in vier exemplarischen Ländern, die ihrem je eigenen Entwicklungspfad folgen, zur Verbesserung der Bildungsleistungen und zur Verringerung ihrer Determination durch den sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler geführt haben: im Vereinigten Königreich, in Deutschland, Schweden und Finnland. Anders als von der globalen Reformagenda postuliert, haben sich die Steuerungsinstrumente in allen vier untersuchten Ländern als unwirksam erwiesen.

Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee und Emeritus of Excellence an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

1.1Grundzüge der globalen Reformagenda


In der Perspektive der Public-Choice-Theorie gewinnen staatliche Leistungen an Nutzen für ihre Konsumenten, wenn sie wie private Dienstleistungen im Wettbewerb auf einem Markt öffentlicher Dienstleistungen erbracht werden und öffentliche Verwaltungen mit Instrumenten des betriebswirtschaftlichen Managements arbeiten. Nach der Prinzipal-Agent-Theorie werden öffentliche Dienstleister als Agenten begriffen, denen aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse die selbständige Gestaltung der Dienstleistung überlassen werden muss. Ihre Auftraggeber sind die Prinzipale, die ihnen vertrauen müssen, dass sie ihre Kompetenzen zu ihrem Besten einsetzen. Dabei besteht eine grundsätzliche Informationsasymmetrie zwischen Prinzipal und Agent. Da der Agent eigenständig und in der Regel nicht unter direkter Beobachtung des Prinzipals handelt, besteht immer das Risiko, dass der Agent eigene Interessen verfolgt und nicht zum Besten des Prinzipals handelt. Um das zu verhindern, benötigt der Prinzipal Instrumente, die den Agenten zwingen, das Beste im Interesse des Prinzipals zu geben. Diesen Zweck erfüllt die Kombination von marktförmigem Wettbewerb und Ergebniskontrollen. Das sind die Grundpfeiler von New Public Management (NPM) (Münch 2019). Wegen der zentralen Stellung des Wettbewerbs zwischen Schulen um Schüler und bestmögliche Bildungsresultate auf einem Bildungsmarkt können wir auch von einem Wettbewerbsparadigma sprechen. Der amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman hat dafür schon 1955 die Vorlage gegeben (Friedman 1955). Er sah die Schule in der Hand übermächtiger Bürokraten und wollte sie entsprechend der amerikanischen Tradition der lokalen Selbstverwaltung der Schulen durch School Boards wieder in die Hand der Eltern zurückgeben (Friedman 1977). Statt die Schulen direkt zu finanzieren, sollte der Staat die Eltern mit Bildungsgutscheinen (Voucher) ausstatten, die sie in die Schule ihrer Wahl investieren können. Zwar ist dieses Modell nur in wenigen Schulbezirken eingeführt worden, dennoch hat sich die Idee eines Wettbewerbs zwischen Schulen auf einem Bildungsmarkt in den Ländern des liberalen Wohlfahrtsregimes, so auch in den Vereinigten Staaten, durchgesetzt (Münch 2018, S. 112–114; 2020, S. 61–63).

Im Kontext des internationalen Leistungsvergleichs zwischen Bildungssystemen in Studien wie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study), PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) hat sich ein dominierendes Paradigma der Schulsteuerung herausgebildet, das den Prinzipien von New Public Management (NPM) folgt. Schulen sollen mehr Autonomie, Eltern mehr Freiheit in der Schulwahl und mehr Verbraucherrechte erhalten, regelmäßige und zentral koordinierte Evaluationen von Schulleitern und Lehrern sowie Leistungstests von Schülern sollen sicherstellen, dass die neuen Freiheiten nicht missbraucht, sondern zur Verbesserung der Schülerleistungen genutzt werden (Van Zanten 2005; Ball 2012, S. 122; Salokangas und Ainscow 2017; Salokangas und Wermke 2020). Wie erwähnt, ist die theoretische Grundlage dieser Programmatik die Prinzipal-Agent-Theorie. Aus der Sicht dieser Theorie ist es bei komplexen Aufgaben wie der Lehrtätigkeit zielführend, wenn Prinzipale (Gesetzgeber, Ministerien, Schulbehörden, Eltern) ihren Agenten (Schulleiter, Lehrer) mehr Autonomie gewähren, um von ihrem professionellen Spezialwissen und ihrer lokalen Nähe zu den Klienten (Schüler) zu profitieren. Zugleich ergibt sich dabei aber das erwähnte Risiko der Informationsasymmetrie, dass die Agenten ihren Informationsvorsprung zu ihren Gunsten und zum Schaden des Prinzipals (wie auch der Schüler) ausnutzen (shirking). Es müssen deshalb Vorkehrungen getroffen werden, um diesen „moral hazard“ zu vermeiden. Das heißt, es müssen ausreichende Kontrollen des Prinzipals über die Leistungserbringung der Agenten eingerichtet werden. Diese Funktion erfüllen im Bildungswesen Accountability-Regime in Gestalt von regelmäßigen Leistungstests (Smith 2016; Verger, Parcerisa und Fontdevila 2019) und die Einsetzung von Schulleitern, die eine starke Führungsrolle in der Schule übernehmen und direkt in das Schulgeschehen eingreifen, wenn es Hinweise auf Leistungsschwächen gibt, sich also wie die Manager eines auf dem Markt operierenden Unternehmens verhalten und nicht wie ein bloßer primus inter pares im Lehrerkollegium (Clair und Belzer 2007). Die OECD stellt dazu fest:

„After all, several studies find that to reap the full benefits of school autonomy, education systems need to have effective accountability systems to discourage opportunistic behaviour by school staff, and highly qualified teachers and strong school leaders to design and implement rigorous internal evaluations and curricula.“ (OECD 2016b, S. 114)

Die OECD verweist dabei auf eine Studie von Hanushek, Link und Woessmann (2013). Die Autoren dieser Studie argumentieren in der Perspektive der Prinzipal-Agent-Theorie, dass Dezentralisierung und damit einhergehende größere Schulautonomie nur dann zu besseren Schulleistungen führen, wenn es auch die notwendigen Leistungskontrollen durch die zentralen Instanzen des Schulsystems gibt. Dass das in unterentwickelten Ländern weniger gegeben ist als in entwickelten, erklärt in ihren Augen, dass in diesen Ländern Schulautonomie negativ mit PISA-Leistungen korreliert ist, in den höher entwickelten Ländern jedoch positiv. Die Folgerung ist dementsprechend, dass eine Leistungssteigerung und eine Verringerung von Leistungsdifferenzen im Bildungssystem dann zu erwarten ist, wenn Schulautonomie mit starker Schulführung, hochqualifizierten Lehrern und verbindlichen Leistungskontrollen nach zentral definierten Standards gepaart ist. Torres (2021) ist indessen anhand der PISA-Wellen 2006–2015 zu dem Ergebnis gekommen, dass Accountability-Maßnahmen in Hocheinkommens-Ländern keinen Unterschied machen, in Mittel- und Niedrigeinkommens-Ländern jedoch in Mathematik und Naturwissenschaft das Leistungsniveau leicht anheben, aber auch die Ungleichheit steigern. Das gilt insbesondere in Verbindung mit größerer Autonomie von Curriculum-Management und Assessments, in diesem Fall auch für die Lesekompetenz. Der Autor rät deshalb, nicht zu viel von gesteigerter Autonomie und Accountability zu erwarten.

Dessen ungeachtet wird immer noch weithin erhofft, dass eine Reformagenda nach diesem Muster zu einer Steigerung der Bildungsleistungen führt. Der finnische Bildungsexperte Pasi Sahlberg (2016, 2023) hat dafür den Begriff des Global Educational Reform Movement (GERM) geprägt. Das durchschnittliche Leistungsniveau soll angehoben, der Abstand zwischen den besten und den schlechtesten Schülern verringert und der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leistungen der Schüler eingedämmt werden. Diese Reformagenda basiert auf der Annahme, dass die genannten Steuerungsinstrumente die leistungshemmenden und Leistungsdifferenzen erzeugenden Einflüsse von Struktur und Kultur der Gesellschaft verringern. Dazu gehören insbesondere die in einer Gesellschaft bestehende soziale Ungleichheit, der durchschnittliche familiäre sozioökonomische Status der Schüler einer Schule, der familiäre sozioökonomische Status der einzelnen Schüler, ein gegebener oder nicht vorhandener Migrationshintergrund auf einem niedrigen, mittleren oder hohen Niveau des sozioökonomischen Status als strukturelle Faktoren und die Schuldisziplin als kultureller Faktor. Zu beantworten ist die Frage, inwieweit die genannten Steuerungsinstrumente die Wirkung dieser Faktoren reduzieren können. Die entsprechende Hypothese H1 lautet wie folgt:

H1: Schulsysteme und Schulen verbessern ihre Leistungen und verringern Leistungsunterschiede nach sozialer Herkunft durch die Anwendung der folgenden Steuerungsinstrumente: (1) erweiterte Autonomie und Selbstverwaltung der Schulen im Wettbewerb auf einem Bildungsmarkt mit freier Schulwahl in Verbindung mit (2) starker Schulführung, (3) hochqualifizierten Lehrern und (4) regelmäßiger Kontrolle des Leistungsstands der Schüler durch Tests nach zentral definierten...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8754-6 / 3779987546
ISBN-13 978-3-7799-8754-3 / 9783779987543
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