Jugendengagement und politische Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft (eBook)
172 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8698-0 (ISBN)
Ana-Maria Nikolas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Integration und Migrationsforschung in Berlin und arbeitet im Projekt »Engagement und Zugehörigkeit - Muslimische Jugendvereinsarbeit und ihre zivilgesellschaftlichen Netzwerke«. Zuvor hat sie für das Institut für Protest- und Bewegungsforschung in der Projektkoordination und als freie politische Bildnerin gearbeitet. Sie hat Sozialwissenschaft mit dem Fokus auf Globalisierung, Transnationalisierung und Governance an der Ruhr-Universität Bochum studiert und promoviert in der Nachwuchsforschungsgruppe zu transnationalen Allianzen zwischen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in Europa. Deniz Greschner ist Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Dortmund. Sie war zuletzt Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück, Institut für Islamische Theologie und Mitglied der Post-Doc Forschungsgruppe »Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft«. Zudem arbeitete sie in dem Forschungsprojekt »Mädchen- und Frauenarbeit im Kontext von Demokratieförderung« als Wissenschaftliche Mitarbeiterin. In ihrer Dissertation befasst sie sich aus einer organisationssoziologischen Perspektive mit muslimischen Jugendorganisationen in Deutschland.
Einleitung - Hintergrund und Motivation: Die Notwendigkeit postmigrantischen Jugendengagements
Ana-Maria Nikolas und Deniz Greschner
Junge Menschen aus unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnissen, mit verschiedenen Familienhintergründen, Migrationserfahrungen oder Fluchterlebnissen, Geschlechtsidentitäten und vielen weiteren Identitätsmerkmalen engagieren sich in vielfältigen Arenen und Formen. Seien es soziale Bewegungen wie „Black Lives Matter“ oder „Fridays for Future“, Arenen der außerschulischen Jugendarbeit wie Jugendverbände, Initiativen oder in losen Netzwerken – diese Jugendlichen gestalten die Gesellschaft mit. Dabei ist in den letzten zwanzig Jahren eine zunehmende Differenzierung der Jugendverbandslandschaft zu beobachten, bedingt durch neu gegründete Jugendvereine und Verbände, die die zunehmende Diversität der Gesellschaft repräsentieren. Nicht zuletzt der 16. Kinder- und Jugendbericht des Bundes stellt z. B. eine große Vielfalt an Engagement in verschiedensten Kontexten der Demokratiepädagogik fest (BMFSFJ 2020, S. 564). Diese Entwicklungen sind sowohl Ergebnis als auch Bestandteil eines postmigrantischen Gesellschaftswandels. Dabei beschreibt der Begriff „postmigrantisch“ die Phase nach der Migration, in der Zugehörigkeiten, kollektive Identitäten, politische Teilhabe und Chancengerechtigkeit neu verhandelt werden (Foroutan 2019). Migration kann als Startpunkt verstanden werden, der sämtliche Sphären gesellschaftlichen Lebens beeinflusst (s. ebd.). Diese Neuaushandlung in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit bedeutet, dass die tiefgreifenden Veränderungen, die durch Einwanderung ausgelöst wurden, anerkannt werden und dass Strukturen, Institutionen und politische Kulturen sich nachträglich an die Realität der Migration anpassen. Im Idealfall bedeutet dies mehr Teilhabemöglichkeiten, gesellschaftliche Mobilität und stärkere Kooperation zwischen verschiedenen sozialen Gruppen auf Augenhöhe. Es löst jedoch auch neue Ausgrenzungsmechanismen, Abwehrreaktionen, eine Verfestigung von Gruppengrenzen und daraus resultierende Konflikte aus (vgl. El-Mafaalani, 2018).
Jugendverbände und Jugendorganisationen sind bedeutende Sozialisationsagenturen für junge Menschen und wichtige Arenen des non-formalen Lernens, wie es Studien in den Forschungsfeldern zu Jugendsoziologie, Sozialkapital und zivilgesellschaftlichem Engagement, die sich explizit mit Jugendengagement befassen, aufgezeigt haben (vgl. u. a. Ahlrichs 2019; Düx 2000; Hafeneger 2005; Sander 2008). Gleichaltrige, die insbesondere in Jugendgruppen aufeinandertreffen (vgl. Böhnisch et al. 1991) prägen in der Adoleszenz-Lebensphase deutlich Werte und Einstellungen (vgl. Schäfers/Scherr 2005). Dabei ist das postmigrantische Engagement junger Menschen mit diversen Identitätsmerkmalen von entscheidender Bedeutung, nicht nur damit sie sich selbstständig und unabhängig organisieren, sondern auch damit ihre Stimmen hörbar werden und dabei helfen, gesellschaftliche Vielfalt sowie Pluralität strukturell zu festigen. Auf diese Weise tragen Sie aktiv zur demokratischen Weiterentwicklung und zur Gestaltung einer Gesellschaft bei, die den Herausforderungen der postmigrantischen Realität gerecht wird. Ihr Engagement und der damit einhergehende kontinuierliche zwischenmenschliche Austausch fördern die Bildung von brückenbildendem Sozialkapital (Putnam 1993), was sowohl der Demokratie als auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zugutekommt. Die Relevanz gesellschaftlichen Engagements von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wurde bereits explizit für andere Länder belegt und ergab, dass über die Aktivitäten in Jugendgruppen vor allem das Gefühl der (Da-)Zugehörigkeit und die eigene Identität gestärkt sowie eine eigenständige Persönlichkeitsentwicklung gefördert wird (vgl. z. B. Kirpitchenko/Mansouri 2013; Jagusch 2011). In der postmigrantischen Gesellschaft bieten Jugendverbände, Jugendorganisationen und jugendlicher Aktivismus somit die zentralen Arenen, um Zugehörigkeit und Teilhabe gerade für die junge Generation auszuhandeln.
Postmigrantisches und pluralitätsförderndes Engagement ist allerdings durchaus voraussetzungsvoll, denn es braucht – wie bei demokratischem Engagement im Allgemeinen – förderliche Kontextbedingungen. Langfristige und stabile Unterstützungsstrukturen sind notwendig, um eine nachhaltige Organisationsentwicklung zu begleiten, damit Organisationen und Gruppen befähigt werden, zum Ausbau und zur Stärkung der demokratischen Infrastruktur beizutragen. Projekte wie JEM – Jugendliches Engagement in Migrant*innenorganisationen, deren Ziel es ist, Jugendliches (post-)migrantisches Engagement zu vernetzen und in der Entwicklung von Strukturen zu unterstützen, sind deshalb ein wichtiger erster Schritt. Nachhaltige Strukturplanung erfordert jedoch Zeit und langfristig eingeplante Ressourcen. Denn gerade postmigrantische Jugendorganisationen sind häufig klein, volatil und prekär aufgestellt.
Für die Verwirklichung von postmigrantischer Teilhabegerechtigkeit gilt es dagegen, nicht nur Organisationsentwicklung von postmigrantischen Jugendvereinen zu fördern, sondern auch Kooperation über Gruppenzugehörigkeiten und religiöse Zuschreibungen hinweg zu stärken. Hier fehlt es, wie zuletzt der 16. Kinder- und Jugendbericht des Bundes konstatiert, an grundsätzlichem, fundiertem Wissen über Räume und Formen sowie Ein- und Ausschlusspraxen unter diversitätsspezifischen Gesichtspunkten (BMFSFJ 2020, S. 564). An diesem Punkt setzt unser Sammelband an und möchte nicht nur die Vielfalt und intersektionale Komplexität von Jugendengagement in der postmigrantischen Gesellschaft deutlich machen, sondern auch auf Unterrepräsentation, Ausschluss und Konfliktlinien eingehen.
Jugendliche machen nicht nur aufgrund ihres Alters, sondern auch aufgrund diverser intersektionaler Verschränkungen wie Geschlecht, Ethnizität/Herkunft, Religion, Behinderung oder Sexualität Erfahrungen mit Benachteiligungen und Diskriminierungen. In verschiedenen Formen politischen Engagements geben sie diesen kollektiven Verletzungen Ausdruck, wie zuletzt soziale Bewegungen wie Black Lives Matter oder die Initiative 19. Februar Hanau gezeigt haben. Damit lenken sie die mediale und politische Aufmerksamkeit erfolgreich auf virulente Themen wie strukturellen Rassismus und machen Stimmen und Anliegen von Betroffenen rassistischer Gewalt sicht- und hörbar.
Zu den Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements und der politischen Bildung, die von engagierten Jugendlichen genutzt werden, zählen zunehmend auch virtuelle, analoge oder hybride Vergemeinschaftungen außerhalb der etablierten Jugendverbandsstrukturen wie z. B. lose Initiativen, unabhängige Vereine oder an etablierte Erwachsenenverbände gebundene Jugendgruppen. Aus rassismuskritischer Perspektive lassen sich allerdings in Bezug auf die strukturelle Verankerung, Beteiligung, Sichtbarkeit und Vertretung von jungen Menschen of Color (BPoC) und/oder mit Migrationsgeschichten nach wie vor deutlich ungleiche Ermöglichungen feststellen. Denn (post-)migrantische Jugendorganisationen erhalten häufig nicht die Chance, sich in etablierten jugendpolitischen Gremien, wie z. B. den Jugendringen, zu beteiligen. Dort sind als migrantisch oder muslimisch wahrgenommene Gruppen immer noch stark unterrepräsentiert. So zeigte eine Studie des DJI von 2015, dass in der Mehrheit der Jugendringe keine einzige (post-)migrantische Jugendorganisation vertreten ist – nur 39 % haben mindestens eine solche Jugendorganisation in ihren Reihen (vgl. Peucker et. al. 2019). Im Deutschen Bundesjugendring findet sich kein Jugendverein mit muslimischem Identitätsbezug und nur in sechs von 16 Landesjugendringen sind sie als ordentliche Mitglieder mit Stimmrecht repräsentiert (vgl. Greschner 2022).
Vor dem Hintergrund einer postmigrantischen Gesellschaft und unter dem Fokus intersektionaler Forschung setzt sich der vorliegende Sammelband eingehend mit den Ein- und Ausschlüssen in den etablierten Strukturen der Jugendarbeit und politischen Jugendbildung auseinander. In den Jugendstrukturen spiegeln sich nicht nur gesamtgesellschaftliche Spaltungen, sondern auch Ausgrenzungsphänomene und komplexe Konfliktlinien wider. Angesichts dieser Herausforderungen ist es von besonderer Bedeutung, der Vielfalt des Jugendengagements und den damit einhergehenden Ausgrenzungsdiskursen in diesem Sammelband die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Welche Gruppen haben zu Gremien, Strukturen und Arenen Zugang...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8698-1 / 3779986981 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8698-0 / 9783779986980 |
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