Sinneswelten -  Wolfgang-M. Auer

Sinneswelten (eBook)

Wahrnehmung schulen, Welt erfahren
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlag Freies Geistesleben
978-3-7725-4064-6 (ISBN)
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Die Sinne als Tore zur Welt Bildung beginnt mit Wahrnehmung. Die Welt durch die Sinne erfahren zu können ist eine Grundbedingung menschlicher Entwicklung. Wolfgang-M. Auer stellt in seinem wegweisenden Werk ein Konzept vor, das die Sinne nicht bloß mit physiologischen Vorgängen in bestimmten Organen identifiziert, sondern sie als spezifische Form der Erfahrung beschreibt, als die Fähigkeit, in einem besonderen Erfahrungsfeld wahrnehmen zu können. Gerade heutzutage, in Zeiten übermäßigen Medienkonsums, leiden viele Kinder daran, dass ihnen der Zugang zu verschiedenen Erfahrungsfeldern fehlt. Was genau das bedeutet und wie dem begegnet werden kann, wird hier für alle, denen die Entwicklung unserer Kinder am Herzen liegt, so umfassend wie differenziert dargestellt.

Wolfgang-M. Auer, Dr. phil., geboren 1943, ist Pädagoge, Kunstwissenschaftler und Sinnesforscher. Er war 30 Jahre Klassenlehrer und Werklehrer sowie Oberstufen-Fachlehrer (Kunstbetrachtung) an der Rudolf Steiner Schule Bochum und Initiator des neuen Unterstufenkonzeptes des Bewegten Klassenzimmers. Als Autor hat er zur Waldorfpädagogik, den Sinnen sowie zur Kunstbetrachtung und Ästhetik veröffentlicht. Er war Dozent an der Alanus Hochschule in Alfter sowie am Rudolf Steiner-Berufskolleg in Dortmund im Bereich Kindheitspädagogik und ist auch heute noch weltweit als Dozent für Waldorfpädagogik in Kindergarten und Schule tätig.

Wolfgang-M. Auer, Dr. phil., geboren 1943, ist Pädagoge, Kunstwissenschaftler und Sinnesforscher. Er war 30 Jahre Klassenlehrer und Werklehrer sowie Oberstufen-Fachlehrer (Kunstbetrachtung) an der Rudolf Steiner Schule Bochum und Initiator des neuen Unterstufenkonzeptes des Bewegten Klassenzimmers. Als Autor hat er zur Waldorfpädagogik, den Sinnen sowie zur Kunstbetrachtung und Ästhetik veröffentlicht. Er war Dozent an der Alanus Hochschule in Alfter sowie am Rudolf Steiner-Berufskolleg in Dortmund im Bereich Kindheitspädagogik und ist auch heute noch weltweit als Dozent für Waldorfpädagogik in Kindergarten und Schule tätig.

Wo sind wir zu Hause? Der Tastsinn


Das Wahrnehmungsfeld


Wir alle kennen sicher Situationen wie die folgende: Wir stehen nachts auf und gehen durch die Wohnung, und da wir den Weg vom Schlafzimmer zur Küche gut kennen, verzichten wir darauf, das Licht anzumachen. Dann stoßen wir plötzlich an. Hier steht doch sonst nichts! Das Abtasten mit den Händen bestätigt unsere Vermutung: Da hat jemand den Stuhl an einer Stelle stehen lassen, wo er nicht hingehört. Wir stellen ihn an den richtigen Platz, damit wir nicht noch einmal dagegen laufen. Hätten wir einen anderen Weg genommen, dann hätten wir den Stuhl nicht bemerkt. So aber hat uns der Zusammenstoß eine Wahrnehmung des Stuhls verschafft. Doch nicht nur das. Wir haben durch das Anstoßen auch eine Wahrnehmung der Stelle unseres Körpers, an der uns der Stuhl getroffen hat. So ist es bei jeder Tastwahrnehmung:11 Berühren wir mit der Hand einen Gegenstand, dann nehmen wir an ihm glatte oder raue Oberfläche wahr, Härte oder Nachgiebigkeit, Wölbungen, Kanten und vieles mehr. Gleichzeitig haben wir immer die Wahrnehmung der Stelle unseres Körpers, mit der wir den Gegenstand berühren oder abtasten. Jede Tastwahrnehmung an Dingen der Welt ist also immer zugleich eine Eigenwahrnehmung. Und diese Seite des Tastens ist es, die uns jetzt beschäftigen wird, wenn wir den Tastsinn als Körpersinn betrachten. Die andere Seite werden wir bei Behandlung der Weltsinne genauer untersuchen.

Unsere Haut ist das Organ des Tastsinns. An jeder Stelle sind Tastwahrnehmungen möglich. Dabei unterscheidet sich die Sensibilität verschiedener Hautpartien sehr stark. Es gibt Stellen, da befinden sich auf einem Quadratzentimeter etwa 135 Tastrezeptoren, wie auf der Zungenspitze, den Fingerspitzen oder den Lippen, wo wir besonders sensibel sind. An anderen, weniger sensiblen Stellen, zum Beispiel am Rücken, sind es nur sieben.12 Außerdem gibt es in der Haut verschiedene Rezeptoren mit ganz unterschiedlichen Aufgaben.13 Jedes Haar beispielsweise ist an der Wurzel von einem Nerv umgeben (Haarbalgrezeptor). Er reagiert auf die Berührung des Haares und registriert jede Ablenkung. Dicht unter der Hautoberfläche befinden sich Rezeptoren (Merkelzellen), die auf Druck und Verformung reagieren. Etwas tiefer liegen Rezeptoren (Meißnersche Körperchen), die auf Berühren und leichtes Antippen sensibel sind, darunter andere, die eine Dehnung und Verformung der Haut registrieren (Ruffini-Körperchen), zuunterst solche, die auf Vibration ansprechen (Paccini-Körperchen). Durch diese Rezeptoren werden alle Formen des Hautkontaktes registriert. Zusammen bilden sie das Organ des Tastsinns.

Wir haben ständig Tastwahrnehmungen im Leben. Ob wir stehen, sitzen oder liegen, immer nehmen wir die Berührung mit dem Untergrund wahr, der uns trägt. Im Wasser nehmen wir die Berührung mit dem Wasser, in der Luft die Berührung mit diesem Medium wahr. Wir spüren die Kleidung auf der Haut, jede Berührung mit einem Gegenstand oder einem anderen Menschen, gleichgültig ob die Aktivität von uns oder vom anderen ausgeht. Wir nehmen natürlich auch wahr, wenn wir uns selbst berühren. Berührungen können uns wecken. So erwachen wir zum Beispiel an einer Falte im Bettlaken oder weil uns jemand anfasst. Und wir können uns durch eigene Berührung wach halten. Jeder von uns hat hier vielfältige Erfahrungen. Es gibt, das gilt es festzuhalten, keine Situation im Leben ohne eine Tastwahrnehmung.

Und was nehmen wir mit dem Tastsinn wahr, wenn er nur Körpersinn ist? Mit jeder Berührung nehmen wir eine Stelle unserer Körperoberfläche wahr, lernen sie kennen und können sie lokalisieren. Würden wir keine Berührung erleben, bliebe uns unsere Körperoberfläche und damit überhaupt die Existenz unseres Körpers unbekannt. Das Sehen kann hier nichts nützen, es kann uns nur das Aussehen dieser Oberfläche zeigen. Dass die gesehene Oberfläche zu unserem Körper gehört, kann uns allein das Tasterlebnis vermitteln. Menschen, die den Tastsinn verloren haben, sind in einer schrecklichen Situation: Sie haben einen Körper und haben keine Wahrnehmung von ihm. Sie spüren nicht, wenn sie irgendwo anstoßen oder wenn sie berührt werden, und deswegen spüren sie auch die Grenze ihres Körpers nicht. Wir kennen alle eine vergleichbare Situation, nämlich wenn uns Hand oder Arm, wie wir sagen, eingeschlafen ist. Berühren wir dann den eingeschlafenen Arm, so fühlt er sich fremd an, weil er selbst keine Wahrnehmung von der Berührung hat.

Durch unsere Berührungserlebnisse erfahren wir zuallererst die Existenz unseres Körpers, dann seine Oberfläche, das heißt seine plastische Gestalt und Ausdehnung, und das führt schließlich zum Erlebnis der eigenen Grenze. Denn wir hören als körperlich-räumliches Wesen da auf, wo etwas anderes beginnt. Und so setzen wir uns mit jeder Berührung vom anderen ab und erfahren uns als Eigenwesen. Selbstverständlich ist das nur die eine Seite der Erfahrung. Denn Berührung bedeutet nicht nur Trennung. Mit jeder Berührung wird auch eine Verbindung zum Berührten hergestellt. Deshalb führt jede Wahrnehmung des Tastsinns immer zu zwei Erfahrungen, zu Trennung und Verbindung, oder anders ausgedrückt: Wir erfahren uns selbst nur durch die Wahrnehmung eines anderen.

Entwicklung und Erfahrung


Der Tastsinn steht unter allen Sinnen als Erster zur Verfügung. Der fünfeinhalb Wochen alte Embryo spürt die Berührung von Lippen und Nase, mit neun Wochen die von Kinn, Augenlidern und Armen, nach zehn Wochen auch Berührungen an den Beinen und von der zwölften Woche an fast an der gesamten Körperoberfläche (an der Ober- und Rückseite des Kopfes am wenigsten).14 Der Fötus ist bis zur Geburt von Flüssigkeit umgeben und eingehüllt und erlebt darüber hinaus ständig Berührungen der ihn umgebenden Mutterhülle. Mit der Geburt tritt dann das wohl eindrücklichste Berührungserlebnis ein, das ein Mensch haben kann, wenn sie auf natürlichem Wege stattfindet. Durch die Wehen und das Hindurchpressen durch den Geburtskanal wird der kleine Körper durchgeknetet und massiert,15 sodass eine starke Erfahrung der eigenen Körperoberfläche, und das heißt des Eigenseins, eintritt, eine Erfahrung, die das Kind für den nun beginnenden Weg der Eigenständigkeit stärkt. Die anschließende Nacktheit, in der kaum eine Berührung vorhanden ist, bedeutet unter diesem Blickwinkel einen Schock, einen Mangel an Selbstwahrnehmung und das Gefühl, verloren zu sein. Soll das Neugeborene positive Erfahrungen mit seinem neuen Zustand verbinden, muss man seine Situation der früheren Situation vor und während der Geburt möglichst ähnlich machen,16 das Kind also viel berühren und streicheln, gut einhüllen, warm und fest, und möglichst viel am eigenen Körper tragen. Dadurch kann es sich spüren, erlebt die Existenz seines Körpers, bekommt eine Bestätigung seiner selbst und erlebt außerdem Schutz und Geborgenheit durch einen anderen Menschen. Erlebt das Kind zu wenig Berührung und Umhüllung, dann fühlt es sich verloren, und es entsteht Angst. Die Sorge, man würde das Kind beengen und in seiner freien Entfaltung beeinträchtigen, wenn man es fest einwickelt oder in einen Puck- oder Strampelsack steckt, ist in den ersten Wochen und Monaten unbegründet. Man bewirkt vielmehr, dass es bei jeder Bewegung und beim Strecken sich selbst spürt, den Körper und seine Ausdehnung wahrnimmt und damit eine positive Selbstbestätigung erfährt.

Kinder, die durch Kaiserschnitt zur Welt kommen, haben einen sehr viel schwierigeren Start, denn ihnen fehlen die Tasterlebnisse der natürlichen Geburt, die das Starterlebnis zur Eigenständigkeit darstellen und die eigene Existenz erleben lassen. Sie beginnen ihr Leben ohne Bestätigung des Eigenseins, mit einer Verunsicherung also, die bestehen bleibt, wenn kein Ausgleich für das fehlende Geburtserlebnis geschaffen wird. Diese Kinder brauchen deshalb nach der Geburt besonders viel Berührung, besonders starke Umhüllung und eine besonders enge und sorgfältige Begleitung, damit der Mangel einigermaßen ausgeglichen werden kann.17 Auch Frühgeborenen fehlen Berührungserlebnisse, weil sie zu früh aus der Umhüllung und Geborgenheit der Gebärmutter entlassen wurden. Wenn sie dann nackt im Brutkasten liegen, ist dies das Gegenteil dessen, was sie brauchen. Man sollte sie vielmehr einhüllen und ihnen Nester bauen, den Eltern in die Arme oder auf die Brust legen, damit sie das Fehlende nachholen können.18

In vielen Ländern, auch in Deutschland, ist heute die 1978 in Bogotà, Kolumbien, entwickelte Känguru-Methode (KMC – kangoroo mother care)19 verbreitet. Dabei wird das Frühgeborene von den Eltern Tag und Nacht nackt auf der nackten Brust getragen und von der Mutter gestillt, bis es ein Gewicht von 2500 Gramm erreicht hat, ein Gewicht, mit dem es in der Regel über den Berg ist. Viele wissenschaftliche Studien bestätigen nicht nur, dass die Känguru-Methode positiv auf die Entwicklung der Säuglinge wirkt, sondern auch auf die Entwicklung des Gehirns und der allgemeinen Gesundheit. Dabei werden die positiven Ergebnisse in der Regel auf die Wärme zurückgeführt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass auch die intensive und dauernde Berührung wesentlich zum Erfolg beiträgt.

Berührungs- und Tasterlebnisse haben auch sonst eine eindeutig positive Auswirkung auf die Gesundheit. Es liegen Studien vor, die zeigen, dass bereits regelmäßiges Massieren bei Kindern, besonders bei Frühgeburten, einen schnelleren Heilungs- bzw. Entwicklungsprozess bewirkt.20 Das bestätigt die Erfahrungen vieler Eltern...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7725-4064-3 / 3772540643
ISBN-13 978-3-7725-4064-6 / 9783772540646
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