Differenzierung und Integration (eBook)
400 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8496-2 (ISBN)
PD Dr. Marc Mölders arbeitet am Institut für Soziologie im Arbeitsbereich Mediensoziologie & Gesellschaftstheorie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. Renn hat eine Professur am Institut für Soziologie der Universität Münster inne. Dr. Jasmin Siri ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der LMU München.
Differenzierung und Integration
Zur Fortführung einer Theoriedebatte
Marc Mölders, Joachim Renn, Jasmin Siri
Die Geschichte dieses Bandes beginnt in Bielefeld. Ursprünglich geplant als Grundlage für eine »Sonderveranstaltung« des 41. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) »Polarisierte Welten« im Jahre 2022, die zur Weiterentwicklung der soziologischen Differenzierungstheorie an einem für diese relevanten Ort vorgesehen war, landete das Konzept schließlich bei der Sektion Soziologische Theorie, die dem Thema dankenswerterweise einen Veranstaltungsplatz einräumte. Der Zuspruch in Form von Einreichungen, aber auch von Teilnehmenden vor Ort, hat die Resonanzerwartungen der Veranstalter:innen weit übertroffen. Das Interesse an einer Aktualisierung differenzierungstheoretischer Überlegungen – und nicht bloß deren Verwaltung – bewegt das Fach offensichtlich noch immer.
Differenzierungstheoretisches Denken begleitet die Soziologie im Grunde länger, als sie sich eine eigenständige Disziplin nennt (Spencer 1897). Auch ein Aktualisierungsbedarf wird hier nicht zum ersten Mal angemeldet (Albert/Sigmund 2011; Schwinn 2004; Schwinn et al. 2011). Insofern ist der vorliegende Band, bei aller erwünschten Heterogenität (um nicht zu sagen: Differenzierung), von der Annahme getragen, dass differenzierungstheoretisches Denken nicht aus der Zeit gefallen ist, wohl aber innehalten kann (und sollte), um sich seiner Zeitgemäßheit zu versichern. Denn die Problemstellungen der älteren Differenzierungstheorie haben sich nicht erledigt. Zwar sind sogenannte sozialtheoretische Initiativen Teil einer berechtigten Absetzungsbewegung von den großen Theorien (»Grand Theories«) extensiver Gesellschaftsformen, aber das kann nicht bedeuten, auf die Untersuchung der sozialen Differenzierung der Gesellschaft zu verzichten, sondern nur, dass solche Analysen auf revidierte Grundlagen zu stellen sind. Und dafür scheint – aus guten Gründen – die Zeit gekommen. Dieses Buch markiert ebendiesen Zeitpunkt und skizziert offene Fragen, Entwicklungslinien, aber auch Kritikpunkte.
Erweiterungen werden etwa bezüglich der für eine Differenzierungstheorie relevanten Einheiten diskutiert. Nimmt man, auch mit Blick auf den Bielefelder Kongress, die Systemtheorie zum Ausgangspunkt, ist an ihr schon vielfach diskutiert worden, ob die Trias aus Interaktion, Organisation und Gesellschaft – später ergänzt um die sich nie so recht einfügenden Protestbewegungen – ausreicht, um der Vielfalt sozialer Erscheinungsformen begrifflich gerecht zu werden (Baecker 2007, 2018; Heintz/Tyrell 2015; Kühl 2021). In Konkurrenz dazu stehen einerseits inzwischen klassische Alternativen wie Felder, Institutionen, soziale Kreise, Lagen, Formen, Milieus und Lebenswelten oder auch Welten der Rechtfertigung (Mölders 2019: 24 ff.; Schimank 2007). Andererseits sind »Neu- und Wiederentdeckungen« zu verzeichnen, so etwa, um nur wenige Beispiele zu nennen, die (sozial-kulturelle) Klasse (Reckwitz 2017), Fragmente (Passoth/Rammert 2019), Subsinnwelten (Lindemann 2014), soziale Formen (Karafillidis 2010), soziale Welten (Zifonun 2016) oder Nachahmungsstrahlen (Seyfert 2019; Tarde 2017).
Die Frage der Einheiten ist nicht zu trennen von der Aufgabe, den sozialen Raum bzw. die Gesamtkonfiguration dieser Einheiten zu bestimmen. Die soziologische Tradition verhandelte diesen Punkt vorzugsweise als Ebenendifferenz: Wie verhalten sich, schematisch gesprochen, Mikro-, Meso- und Makroebene zueinander? Ein anderer Aspekt der »Vermessung« der sozialen Welt betrifft die neuere Sensibilität für die womöglich unbegründete Beschränkung der relevanten handlungs- oder kommunikationsfähigen Entitäten, die in differenzierten Sphären operieren, auf die Gesamtheit des humanen, intentional agierenden Personals: Die Frage nach neuen und nicht zu vernachlässigenden Einheiten bzw. neuem Personal ist im Zuge des Prozesses namens Digitalisierung verstärkt gestellt worden (Baecker 2007, 2018; Kette/Tacke 2022; Siri in diesem Band). Robotern oder Künstlicher Intelligenz wird eine Autonomie zugetraut, die unmittelbar auf die Einheitsfrage verweist. Die Beteiligung an Handlungsträgerschaft (Schulz-Schaeffer 2007) oder an Kommunikation (Esposito 2017) wird darüber hinaus auch an Dingen (Latour 2014), Tieren oder nicht (mehr) lebenden Menschen (Lindemann 2009; Lindemann in diesem Band) – also an den Disktinktionszonen des Humanen (Hirschauer in diesem Band) – diskutiert. Wie ist es ferner um die Differenzierungswirkung von Unterscheidungen bestellt, die traditionell gesehen auf den Linien sozialer Ungleichheiten liegen, von Alter, Ethnizität, Geschlecht, Raum usw.? Handelt es sich um ›Sekundäreffekte‹?
Die Rede vom Sekundären verweist implizit wiederum auf die Debatte um den Primat einer Differenzierungsform. Ist die Moderne also von einem Differenzierungstypus derartig gekennzeichnet, dass dessen Prägung in einer Weise auf die nirgends bestrittenen weiteren Differenzierungen einwirkt, dass das Diagnostizieren eines Primats unumgänglich scheint (Nassehi 2017)? Wird funktionaler Differenzierung heuristisch ein so hohes Analysepotenzial zugeschrieben, dass sie auch ohne Primatverteidigung Forschungen sinnvoll anzuleiten vermag (Holzer, Kron, Weinbach in diesem Band)? Oder gilt, dass die Gegenwartsgesellschaft gerade durch das Ringen unterschiedlicher Differenzierungsachsen zu charakterisieren ist (Fischer in diesem Band)? Bei aller ob der Pluralität des differenzierungstheoretischen Spektrums gebotenen Vorsicht lässt sich wohl ein Trend zur Favorisierung multipler Differenzierung ausmachen (Mölders 2023; Renn 2014; Renn in diesem Band). Wenn hierunter zunächst einmal nicht mehr gefasst wird, als dass die Unterschiedlichkeit gegenwärtig beobachtbarer Differenzierungsachsen sowie deren wechselseitige Einwirkung aufeinander die Frage nach dem Primat eines Typus obsolet erscheinen lässt, so zeugt der vorliegende Band davon, dass dieser Trend gegenwärtige Überlegungen zur Fortführung der Differenzierungstheorie prägt. Die Diskussionen kreisen nun vermehrt darum, welche Einheiten (s. o.) zu berücksichtigen sind und mit welchen nicht aufeinander rückführbaren Differenzierungstypen wir es zu tun haben (Fischer, Hirschauer, Renn in diesem Band).
Jenseits dieser Gemeinsamkeiten muss von einer Ausdifferenzierung der Differenzierungstheorie(n) gesprochen werden, die sich gerade in der Benennung unterschiedlicher Differenzierungstypen niederschlägt: fraktale (Abbott 2001), fragmentale (Passoth/Rammert 2019), soziale, symbolische und strukturelle (Abrutyn 2021) Differenzierung, Humandifferenzierung (Hirschauer 2021 und in diesem Band), Differenzierung in Bedeutungszonen (Meyer et al. 2010) oder in Kollektive (Hansen 2022). In nicht wenigen dieser Ansätze wird auch das Verhältnis der »zwei Soziologien« (Schwinn 2004) und von vertikaler und horizontaler Differenzierung (Hillebrandt 2006) aufgegriffen. Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung scheinen sich nicht länger unversöhnlich gegenüberstehen zu müssen (Fischer, Renn, Witte in diesem Band). Uwe Schimank (2007) hatte noch postuliert, dass Differenzierungstheorie notwendig unvollständig bleiben müsste, weil sie Ungleichheitsaspekte – wenn überhaupt – nachrangig behandeln müsse. Hieran hegen einige Beiträge Zweifel (Renn, Hirschauer, Mölders, Witte in diesem Band).
Ließe sich die (dann immer noch umkämpfte) genaue Auskleidung der Diagnose multipler Differenzierung als ein erster Generaltrend ausmachen, so drängt sich ein zweiter Trend auf: Die empirische Wende der Differenzierungstheorie. Gemeint ist damit, den gelebten, praktizierten, operativ vollzogenen Differenzierungen empirisch nachzugehen und in der Tendenz deren Benennung, Systematisierung und Relationierung zu einer empirischen Frage zu erklären (Hirschauer, Siri, Renn, Vermaßen in diesem Band; vgl. Nassehi/Saake 2002, 2007). Den klassischen Großtheorien wurde nicht selten vorgeworfen, angesichts ihrer Flughöhe betriebsblind für empirische Details zu sein. Man kann bezweifeln, ob das jemals so zutraf, gleichwohl bleibt die starke Fokussierung neuerer Ansätze auf das Empirische augenfällig.
...Erscheint lt. Verlag | 18.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8496-2 / 3779984962 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8496-2 / 9783779984962 |
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