Feministische Postsozialismusforschung -

Feministische Postsozialismusforschung (eBook)

Inter- und transdisziplinäre Zugänge

Anna Kasten (Herausgeber)

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2024 | 1. Auflage
235 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8442-9 (ISBN)
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Feministische Postsozialismusforschung als ein gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Wissensprojekt entfaltet sich auf drei Themengebieten: der kritischen Analyse der Geschlechterordnung in sozialistischen und kommunistischen Ländern, der kritischen Analyse des westzentrierten oder oft nostalgischen Blicks auf die Geschlechterordnung in (post-)sozialistischen Ländern sowie der kritischen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Sozialismus mit seinen Kontinuitäten und Diskontinuitäten auf die gegenwärtige Geschlechterordnung.

Prof.in Dr.in Anna Kasten ist Professorin für Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Gender und Diversity an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

Feministische Postsozialismusforschung als gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Wissensprojekt


Anna Kasten

»Feminism is the struggle to end sexist oppression. Therefore, it is necessarily a struggle to eradicate the ideology of domination that permeates Western culture on various levels, as well as a commitment to reorganizing society so that the self-development of people can take precedence over imperialism, economic expansion, and material desires« (hooks 2000 [1984], S. 24).

Feministische Postsozialismusforschung begreife ich als ein gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Wissensprojekt, das die beiden Forschungstraditionen feministische Forschung und Postsozialismusforschung miteinander verschränkt und diese Verschränkung zum Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses macht. Die Untersuchung der Geschlechterordnung bildet die Grundlage feministischer Forschung, die nach der »Verbindung epistemologischer Fragen mit global orientierten politisch-ethischen Strategien der Gerechtigkeit [sucht]. Wissen und Macht sind als Wirklichkeitssinn und Ermächtigung und Gerechtigkeit als Möglichkeitssinn zu befördern« (Singer 2010, S. 300; Herv. i. O.). »Geschlecht« fungiert hierbei zum einen als »wissens- und wirklichkeitskonstituierender Modus, als regulierende, Gesellschaft teilende und ordnende Konstruktion und […] [als ein] Schauplatz sich verschiebender Machtverhältnisse« (Hark 2007, S. 17). Geschlecht ist »immer schon zugleich rassifiziert, sexualisiert, lokalisiert« (Dietze/Haschemi Yekani/Michaelis 2017, S. 169). Zum anderen dient »Geschlecht« »als Werkzeug zur Entschlüsselung« (Scheide/Stegmann 2003, S. 1) dominanzstabilisierender Narrative über die Ost-West-Differenzierung.

Die Interdependenz zwischen feministischer und postsozialistischer Perspektive lässt sich als eine »kritische Ontologie der Gegenwart« (Meißner 2010, S. 280 ff.; Hark 2007, S. 10 ff.; Foucault 2005 [1984], S. 703 ff.) verstehen: als »Gesellschaftskritik […,] als kritische Rekonstruktion der strukturellen Bedingungen und Dynamiken, mit dem Ziel, Grenzen und Möglichkeitsräume für die Aushandlung von Emanzipationsvisionen und ‑zielen auszuloten« (Meißner 2010, S. 280 f.). Dabei geht es um die Thematisierung der Ambivalenzen in den wahrgenommenen Veränderungen und um die kritische Befragung, »unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten Geschlecht ein relevanter Faktor ist« (Hark 2007, S. 18). Von dieser kritischen Befragung soll weder die Geschlechterforschung noch die Postsozialismusforschung ausgenommen werden. Die feministische Postsozialismusforschung analysiert nicht nur die Geschlechterblindheit in der Postsozialismusforschung oder die Ignoranz postsozialistischer Perspektiven in der Geschlechterforschung. Vielmehr liegt der Fokus auf der Rekonstruktion der Verstrickung zwischen Geschlecht und Postsozialismus, um das Gewordensein der Gegenwartsgesellschaft mit ihren Grenzziehungen aufzeigen und neue Imaginationen für emanzipatorische Projekte entwerfen zu können.

1.Machtkritische Befragung der Wissensproduktion über den sogenannten Postsozialismus


In Forschungsdiskursen wird der Begriff Postsozialismus als eine Sammelbezeichnung benutzt, um den Wandel der ehemals sozialistischen Staaten zu untersuchen und zu betonen, dass die aktuellen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systeme und auch die Alltagswelten bis heute wesentlich durch den vor mehr als dreißig Jahren untergegangenen Staatssozialismus1 geprägt bleiben (vgl. Stykow 2013). Die sozialistische Tradition ist nicht abgebrochen, sondern wird in gewandelter Form weitergeführt, wenn es zum Beispiel um mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz, um Arbeitsplatzsicherung oder Kündigungsschutz geht (vgl. Iorio 2011, S. 76 f.). Gegenstand der Postsozialismusforschung sind nicht nur die entsprechenden Regionen Europas sondern auch Ostasiens (vgl. Hann 2002).2 Das Präfix »post‑« drückt weniger einen Übergang »vom autoritären Regime zur Demokratie, [eine] Transformation von der kommandierten Wirtschaft zur freien Wirtschaft und einen raschen Wandel der gesellschaftlichen Mentalität von kommunistisch zu kapitalistisch« (vgl. Buchowski 2001, S. 9) aus, sondern steht vielmehr für die transnationalen Aushandlungsprozesse und Machtpolitiken, die »in verschiedenen lokalen Kontexten unterschiedliche Formen annehmen und verschiedene Folgen zeitigen können« (Vonderau 2010, S. 19 f.). Das Präfix »post-« verweist auf die Auswirkungen von staatlichen Sozialismen, die bis heute nachwirken.

Postsozialismus ist »ein akademisches Konstrukt« (Humphrey 2002, S. 27). Gleichzeitig aber ist er mehr als ein Konstrukt, da er historischen Gegebenheiten entspricht (vgl. ebd.). Entstanden als Konzept, um in den 1990er Jahren aus einer westlichen Perspektive die Transformationen der ehemals staatssozialistischen Länder zu erforschen, hat sich die Postsozialismusforschung schließlich zu einer kritischen Beschreibung des West-Ost-Machtgefälles weiterentwickelt (vgl. Fretter/Nagel 2022, S. 6 f.): Die postsozialistische Perspektive »hinterfragt das hegemoniale Wendenarrativ und kann den Blick für vielschichtige, ambivalente Erzählungen öffnen« (Paulson et al. 2022, S. 70). Postsozialismus wird auch als »erinnerungspolitische Intervention, die das Imaginieren von anderen Gegenwarten und Zukünften ermöglicht« (ebd., S. 62 f.), konzeptualisiert. Bis heute ist es jedoch nicht unproblematisch, den Begriff der Transformation zu verwenden, da er die Gefahr der Reproduktion dieses Machtgefälles in sich trägt und der Essentialisierung und der Produktion eines vermeintlichen Westens und vermeintlichen Ostens in Gang setzen kann. Mit dem Begriff wird deutlich, dass die »Gegenwart besser verstanden werden kann, wenn in ihr die Fußspuren des Staatssozialismus erkannt und gedeutet werden können« (Segert 2007, S. 1). Um die Erfahrungen der einzelnen Länder passender analysieren (vgl. Fretter/Nagel 2022, S. 7) oder bestimmte Praktiken und gesellschaftliche Phänomene präziser untersuchen zu können, werden auch Termini wie Kommunismus, Staatssozialismus, real existierender Sozialismus oder auch »Land unter kommunistischer Parteiführung und einem Militärregime« in den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes verwendet.

Die Erforschung des politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Umwälzungsprozesses der ehemals sozialistischen Staaten Ost-, Mittel-, Südeuropas und der DDR wird unter dem hegemonialen Deutungsmuster der Transformation oder Transition geführt (Fischer 2010, S. 507; Hess 2009, S. 50; Niedermüller 2000, S. 294 f.; Kürti 1997). Die scheinbar linearen Kontinuitäten des Wandels und der Topos der Transformation werden dabei einer Kritik unterzogen (Segert 2007, S. 5; Heilmann 2004, S. 33 f.). Der Rekurs auf den Begriff Postsozialismus beinhaltet somit auch eine Kritik an Konzepten der »westlichen Hegemonie« (Rogers 2013, S. 10), die einen Raum »Osteuropa in der Transformation« (Hess 2009, S. 50) konstruieren.

Beispielsweise verorten hegemoniale Narrative gesellschaftliche Probleme wie den Rechtspopulismus in Ostdeutschland. Kritisch lässt sich dies als »Ossifizierung des Rechtspopulismus« (Heft 2018, S. 364) oder als »Sonderfall Ost – Normalfall West« (Quent 2016) beschreiben.

»Durch die Verlagerung von Rassismus auf Ostdeutschland wird eine Kulturalisierung ›des Ostens‹ betrieben. Dieser wird als weniger demokratisch im Vergleich zu Westdeutschland dargestellt. Rassistische Denk- und Handlungsmuster erscheinen als Folgeerscheinung einer überkommenen politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung und nicht als soziales Machtverhältnis, das es auf unterschiedlichen Ebenen zu adressieren gilt« (Trzeciak/Schäfer 2021, S. 7).

So bleibt verdeckt, dass es sich bei den Phänomenen des Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Rechtsterrors um ein gesamtdeutsches Problem handelt (vgl. Schmincke/Siri 2013).

In Bezug auf Ostdeutschland entwirft Steffen Mau das Konzept einer »frakturierte[n] Gesellschaft« (Mau 2019, S. 14; Herv. i. O.): Ähnlich wie bei Knochenbrüchen ließen sich gesellschaftliche...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8442-3 / 3779984423
ISBN-13 978-3-7799-8442-9 / 9783779984429
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