Die Sucht nach Verbrechen -  Dr. phil. Christian Hardinghaus

Die Sucht nach Verbrechen (eBook)

Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-565-8 (ISBN)
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Auf der Jagd nach Gerechtigkeit Von den sensationshungrigen Polizei-Gazetten viktorianischer Gassen bis hin zum modernen Podcast-Storytelling: True Crime ist heute Ausdruck morbider Popkultur. In den letzten zehn Jahren boomt das Genre so gewaltig, dass Wissenschaftler von einer Obsession sprechen und die Nachfrage an Geschichten über realen Mord und Totschlag mit der steigenden Kriminalitätsrate in Verbindung bringen. Warum zieht True Crime vor allem das weibliche Publikum an? Kann uns die Auseinandersetzung mit wahren Verbrechen davor schützen, selbst Opfer zu werden? Sind die Grenzen der Geschmacklosigkeit erreicht, wenn Fans über ihre 'Lieblings-Serienmörder' sprechen? Aus der Faszination für True Crime erwächst inzwischen ein weiteres Phänomen: das Websleuthing. Internetdetektive machen sich zwischen Bits und Bytes auf die Jagd nach Gerechtigkeit und versuchen über sogenanntes Crowdsolving den Strafverfolgungsbehörden entscheidende Informationen zur Ergreifung eines Täters zu liefern. Erste Studien bilanzieren ein positives Bild, warnen aber auch vor Gefahren wie Falschverdächtigungen und Selbstjustiz. Beides veranschaulicht dieses Buch durch den Rückgriff auf eine Vielzahl von Fallbeispielen. Eine Detailanalyse bietet Hardinghaus anhand von 18 kuriosen Fällen: Mysteriöse Cold Cases, unauffindbare Personen und nicht identifizierte Tote - jeder Fall ist ein Puzzle, das darauf wartet, zusammengesetzt zu werden. 'Die Sucht nach Verbrechen' ist ein Pionierwerk, das nicht nur für eingefleischte Fans des Genres, sondern auch für jene, die sich für die Psychologie der Kriminalität und die Auswirkungen der digitalen Welt auf die Strafverfolgung interessieren, unverzichtbar ist.

Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, arbeitet als Historiker, Autor und Fachjournalist. Er promovierte in den Fachbereichen Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. Neben Sachbüchern schreibt er auch historische Romane, Krimis und Thriller.

Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, arbeitet als Historiker, Autor und Fachjournalist. Er promovierte in den Fachbereichen Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. Neben Sachbüchern schreibt er auch historische Romane, Krimis und Thriller.

KAPITEL 2
DIE PSYCHOLOGIE HINTER DER FASZINATION TRUE CRIME


»True crime is like a window into the depths of the human psyche. It allows us to explore the complexity of evil and reflect on our own humanity.«

Gillian Flynn

Angst und Prävention


Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich und abwegig, dass ein literarisches Genre Ratgeber-Funktion ausüben könnte. Doch laut einer Umfrage unter True-Crime-Fans geben ein Drittel der Befragten, die selbst Opfer eines Verbrechens geworden sind, an, dass entsprechende Sendungen ihnen geholfen hätten, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. 63 Prozent hätten sich durch den Konsum von True Crime außerdem dazu entschieden, in ihre häusliche Sicherheit zu investieren, und 25 Prozent, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen.11 Erste wissenschaftliche Studien, die sich mit der Erklärung des Phänomens True Crime beschäftigen, beziehen die Verarbeitung eigener Ängste und Traumata durch Identifikation mit Opfern sowie den Präventionsgedanken in ihre Analysen ein. Aus psychologischer Sicht kann das Interesse an True-Crime-Inhalten teilweise durch das Konzept der »angstbasierten Faszination« erklärt werden. Zuschauer setzen sich bewusst einer Angst aus, die realistisch und greifbar erscheint, um potenzielle Risiken für sich selbst abzuwägen. Dieser reflektierende Prozess kann dazu dienen, ein Gefühl der Kontrolle zu entwickeln, indem Strategien und Verhaltensweisen erlernt werden, die im Falle einer ähnlichen Gefahrensituation angewendet werden könnten. Ein Grund also, warum wir uns Geschichten über wahre Verbrechen ansehen, resultiert aus unserem Überlebensinstinkt heraus.

True-Crime-Formate ermöglichen es, dass Menschen schreckliche Dinge durch entsprechende physiologische Reaktionen wie einen Adrenalinausstoß quasi hautnah miterleben und daraus lernen können, ohne selbst tatsächlich in Gefahr zu sein. Dies ist ein grundlegender Ansatz, der seit vielen Jahren auch in der Verhaltenstherapie bei Phobien und Angststörungen Anwendung findet. Ian Case Punnett vergleicht die Gattung True Crime mit Märchen, da beide Genres geschaffen seien, um Menschen zu zeigen, wie sie sich in Sicherheit bringen können, und veranschaulichen, wen sie meiden sollten.12

Die Gestaltung von True-Crime-Podcasts zielt oft darauf ab, eine interaktive Erfahrung für die Zuhörer zu schaffen. Durch ihren starken Einbezug in die Sendung entsteht eine Art Gemeinschaftsgefühl, das den individuellen Umgang mit den belastenden Themen erleichtern kann. Die Hosts übernehmen dabei eine Rolle, die über das einfache Storytelling hinausgeht. Sie agieren als Begleiter, die die Zuhörer nicht nur durch die Komplexität des Falls führen, sondern durch ihre eigenen gezeigten emotionalen Reaktionen eine direkte Verbindung zum Publikum darstellen. Darüber hinaus bieten viele True-Crime-Podcasts Social-Media-Plattformen für Nachbesprechungen, Anregungen oder Diskussionen an, wo Zuhörer ihre Gedanken und Gefühle mit anderen teilen, ihre eigenen Ängste thematisieren und selbst erlebte Gewalttaten ansprechen können. Diese Erkenntnisse korrelieren mit Studienergebnissen, nach denen Frauen mehr Angst vor Verbrechen zeigen und gleichzeitig beim True-Crime-Konsum überrepräsentiert sind. Natürlich reagieren Produzenten auf die spezifische Nachfrage, sodass der Großteil aller Sendungen Mordfälle thematisiert, in denen Männer Frauen umbringen, obwohl statistisch gesehen weltweit mit 80-prozentigem Anteil männliche Personen deutlich häufiger ermordet werden als weibliche. Allerdings sind Frauen mehrheitlich Opfer von Beziehungstaten und Sexualdelikten. 70 Prozent der von einem Partner getöteten Menschen sind Frauen. 70 Prozent von 1398 Opfern, die zwischen 1985 und 2010 von Serienmördern umgebracht worden sind, sind weiblich.13 Statistiken zeigen auch, dass Frauen sich am meisten zu Fällen hingezogen fühlen, in denen ihnen das Opfer selbst optisch oder charakterlich ähnelt.

Der Anspruch, über True Crime Ängste abzubauen und sich vor Gefahrensituationen zu schützen, kann allerdings auch ins Gegenteil umschlagen, sodass Erzählungen über wahre Verbrechen Ängste regelrecht triggern und überstrapazieren und somit zu einer zwanghaften Beschäftigung mit ihnen führen. Menschen, die obsessiv True Crime konsumieren, sind getrieben davon, abschätzen zu wollen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, selbst Opfer eines bestimmten Verbrechens zu werden. Die übertriebene Sorge kann zu Albträumen, Angstzuständen und Vertrauensverlusten bis hin zu Paranoia führen. Die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2023 zeigt, dass die Kriminalitätsrate in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 18,1 Prozent gestiegen ist.14 Gleichzeitig offenbart die R+V-Studie Die Ängste der Deutschen 2023 einen fünfprozentigen Anstieg der Angst vor Kriminalität.15 Ein Zusammenhang liegt nahe, doch die Medienpsychologin Johanna Börsting weiß auch, dass »Personen, die sehr häufig True-Crime-Formate konsumieren, eine Art Bias oder auch verzerrte Realitätswahrnehmung entwickeln können. Sie glauben dann, dass Straftaten viel häufiger passieren, als es in der Realität der Fall ist.«

Nach einer weiteren Studie, die 2023 an Fans des Genres durchgeführt worden ist, sind 76 Prozent der Meinung, True Crime helfe ihnen, Gefahren zu vermeiden; allerdings gibt fast die gleiche Anzahl mit 72 Prozent darüber hinaus an, durch den Crime-Konsum weniger Vertrauen zu anderen Menschen entwickelt zu haben.16 Neben den schweren Konsequenzen für das Sozialverhalten, das infolge übersteigerter Sorge auftritt, stellen britische Forscher fest, dass die Angst vor Straftaten sogar mit einer verminderten psychischen Gesundheit, einer Verschlechterung der körperlichen Funktionsfähigkeit und einer geringeren Lebensqualität einhergeht.17

Wahre Verbrechen sollen schon allein deshalb eine besondere Rolle in der Medienrezeptionsforschung einnehmen, da einerseits Studien eindeutig belegen, dass die Angst bei medialer Konzeption von realen Gewalttaten etwa in den News der gegenüber fiktionalen Inhalten größer ist.18 Andererseits zeigen Modelle, dass regelmäßige Rezeption von True Crime mit einer reduzierten Angst vor Kriminalität einhergeht.19 Hier mag tatsächlich eine Rolle spielen, dass im Gegensatz zu Nachrichten, die nicht nur das Potenzial haben, Ängste zu schüren, sondern diese sogar durch Sensationsberichterstattung aktiv fördern, der True-Crime-Bereich Lösungsmöglichkeiten anbietet und damit eben präventiv arbeitet. Vor allem, wenn dabei den Ermittlungsbehörden eine vorbildliche Rolle eingeräumt wird und das Vertrauen in das Rechtssystem gestärkt wird.

Doch selbst die Ansicht auf den Täter kann schützenden Charakter haben, wenn offenbar wird, welche Motive ihn dazu angetrieben haben, eine Gewalttat zu begehen, sodass Frauen auf Warnzeichen achten, die sie bei fremden oder eifersüchtigen Ex-Partnern erkennen können. Allerdings steht in diesem Subgenre meist die rekonstruierte Geschichte des Opfers im Zentrum der Erzählung. Zwischen szenischen Blöcken, in denen Schauspieler den Fall nachspielen, erinnern eingefügte Interviews mit Familienangehörigen und Freunden an die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um echte Menschen handelt. Auch den Angehörigen ist daran gelegen, dass der Tod ihrer Liebsten und das damit verbundene Unrecht nicht vergessen werden. Sie mahnen zur Vorsicht, indem sie die Gefahrensituation darstellen, in die sich die Geschädigten begeben haben. Sie haben Stiftungen gegründet, die anderen Opfern helfen und die präventiv tätig werden sollen. Insgesamt kann man schlussfolgern, dass unter dem Aspekt Prävention die menschliche Faszination für wahre Verbrechen gleichbedeutend ist mit der Angst vor solchen.

Infotainment und Voyeurismus


Die menschlichen Bedürfnisse nach Unterhaltung und Information (Infotainment) liefern im Gegensatz zum auf Nutzen ausgerichteten Präventionsgedanken deutlich trivialere Gründe, warum Menschen True Crime konsumieren, aber sie gehören nach Umfragen zu den meistgenannten. Dabei werden Erzählungen über wahre Verbrechen nicht zu den seichten Berieselungsangeboten gezählt, bei denen man nach einem harten Arbeitstag entspannen kann. Das True-Crime-Genre verlangt im Gegenteil erhöhte Aufmerksamkeit, um der Herleitung eines Falls folgen zu können. Möglicherweise gibt es für die Angabe vieler Nachtschwärmer, sie könnten bei der am frühen Morgen in Dauerschleife laufenden 90er-Jahre-Serie »Medial Detectives« sanft dahinschlummern, andere psychologische Gründe. Der Ausschlag dafür könnte sein, dass es sich um ständige Wiederholungen handelt, die Vertrautheit und Gewohnheit vermitteln. Der True-Crime-Bereich weist in puncto Unterhaltung Überschneidungen mit bestimmten anderen Genres auf. So schalten Krimiliebhaber entsprechende Inhalte ein, um in eine spannende Geschichte einzutauchen, Drama-Fans, um auf emotionaler Ebene Empathie mit den Opfern zu empfinden, und Liebhaber von Dokumentationen über Historisches oder Sozialkritisches aus Neugier, Wissensdurst oder ihrem Gerechtigkeitsempfinden heraus.

Besonders ausgeprägt unter dem Entertainment-Aspekt zur Erklärung des True-Crime-Phänomens ist die Angstlust, die auch Thriller- und Horrorfans antreibt. Die kleinere Gruppe der männlichen Fans weist wie in der gesamten Literaturbranche eine deutliche Präferenz für sachbezogene, informative Themen auf, die Wissbegierde wecken. Im Vordergrund des Interesses stehen nicht Opfer oder Verbrecher, sondern kriminalistische Ermittlungen, die zur Aufklärung des...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biografien • Cold Cases • Crowdsolving • Erinnerungen • Ermittlungen • Fahndung • Forensik • Gerichtsprozess • Internetdetektive • Kriminalbeamte • Kriminalistik • Kriminalität • Kriminalpsychologie • Mord • Mord und Totschlag • Motiv • Obsession • Opfer • Polizeiarbeit • Popkultur • Psychologie der Kriminalität • reale Fälle • Serienmörder • Täter • Tatort • Todesursache • True Crime • true crime fälle • Verbrechen • Verbrechensaufklärung • Verdächtige • Verstümmelung
ISBN-10 3-95890-565-X / 395890565X
ISBN-13 978-3-95890-565-8 / 9783958905658
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