Aus der Krise zur Stärke? (eBook)

Zur Konstituierung industriegewerkschaftlicher Subjekte in Ostdeutschland
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
520 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45940-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus der Krise zur Stärke? -  Alexander Maschke
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In den letzten Jahren häufte sich in der Gewerkschaftsforschung der Befund, dass in Ostdeutschland eine neue, interessenbewusste Generation in die Betriebe eingekehrt sei. Alexander Maschke hält dieser These seine Studie zur Subjektkonstituierung in der Metallindustrie Mecklenburg-Vorpommerns entgegen. Er zeichnet die Entwicklung zweier IG Metall-Geschäftsstellen in einem Spannungsfeld von Industriekrise, gewerkschaftlicher Erneuerung, Betriebsratswahlen und Pandemie nach. Dabei reformuliert er den Jenaer Machtressourcenansatz unter Rückgriff auf die Kritische Psychologie dahingehend, Macht nicht nur auf ihr Vorhandensein zu prüfen, sondern auch auf die Erfordernisse, diese zu ergreifen, sowie sie zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu nutzen. Machtressourcen werden so als Machtpotenziale verstanden, deren Realisierung die industriegewerkschaftlichen Subjekte sich noch aneignen müssen.

Alexander Maschke promovierte an der Universität Rostock zur Konstituierung industriegewerkschaftlicher Subjekte in Mecklenburg-Vorpommern.

Alexander Maschke promovierte an der Universität Rostock zur Konstituierung industriegewerkschaftlicher Subjekte in Mecklenburg-Vorpommern.

2.Soziologie der Gewerkschaften


Das erste der beiden theoretischen Kapitel gibt einen Überblick über die für diese Arbeit grundlegenden Ansätze der Gewerkschaftsforschung. Dazu wird zunächst der Machtressourcenansatz dargestellt, wobei sich vor allem auf das von Dörre und Schmalz 2014 veröffentlichte Konzept bezogen wird. Anschließend wird die Bedeutung von Lohnabhängigenmacht als zentraler Kategorie des Machtressourcenansatzes hinsichtlich der betrieblichen und überbetrieblichen Regulation beschrieben. Dies wird mit einem Exkurs zur Regulationstheorie eingeleitet, um anschließend zu klären, wie sich Lohnabhängige mittels ihrer Interessenvertretungen an der Regulation der kapitalistischen Produktionsweise beteiligen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Differenzierung der Interessenvertretungen nach betrieblicher und überbetrieblicher Regulation als jeweilige Realisierungsräume. Daran anschließend und aufbauend auf der Kritik von Dörre an Walter Müller-Jentsch wird das der Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Gewerkschaften formuliert. Abschließend wird der analytische Rahmen der Regulation der industriellen Beziehungen in Mecklenburg-Vorpommern geklärt.

2.1Machtressourcenansatz


Der Jenaer Machtressourcenansatz ermöglicht es, Lohnabhängigenmacht beziehungsweise deren Akkumulation in Gewerkschaften und somit gewerkschaftliches Handlungspotenzial aus spezifischen Eigenschaften der Gewerkschaften, aus ihrer jeweiligen Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse und aus den in ihr organisierten Lohnabhängigen abzuleiten. Damit stellt das Konzept im Anschluss an Überlegungen zu Machtressourcen vor allem im angelsächsischen Raum explizit die Frage danach, ob Lohnabhängigenmacht vorhanden ist, und überwindet dabei die eindimensionale Betrachtung jener Macht als eine der bloßen Zahl (Marx 1962, S. 196), ohne diese aufzuheben. Diese quantitative Dimension bleibt als eine Dimension einer spezifischen Machtressource erhalten.

Das Konzept basiert auf der Annahme, dass es drei Gründe für den Aufbau von Lohnabhängigenmacht gäbe (Brinkmann et al. 2008, S. 24). So ziele erstens ein marxistisches Verständnis darauf ab, eine solche Macht als Potenzial zur Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken. Dagegen ziele der polanyische zweite Typ auf den Schutz vor Konkurrenz und der Marktmacht der Unternehmen ab. Beide Typen eine dabei, die im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital bestehende Asymmetrie durch die »kollektive Mobilisierungen von Machtressourcen korrigieren« (Schmalz und Dörre 2014, S. 219) zu können. Drittens bestehe auch ein reaktiv-nationalistisches Potenzial der Lohnabhängigenmacht (ebd.). Gerade die Unterscheidung der ersten beiden Typen erweist sich jedoch als schwierig. Denn auch ein marxistisches Verständnis von Gewerkschaften betont deren grundsätzliche Schutzfunktion durch die Überwindung der »unvermeidliche[n] Konkurrenz untereinander« (Marx 1962, S. 196). Daher liegt der Unterschied vor allem in den fehlenden transzendierenden Perspektive des polanyischen Typs. Gleichsam wirft es implizit die Frage nach der Beschaffenheit und dem Zweck von Gewerkschaften auf, um einem marxistischen Verständnis von Lohnabhängigenmacht gerecht zu werden.

Abbildung 4: Ebenen der Lohnabhängigenmacht

Quelle: Schmalz und Dörre 2014, S. 225

Die erste Jenaer Konzeption des Machtressourcenansatzes beschränkte sich darauf, drei verschiedenen Ressourcen zu ermitteln, was jedoch eine Erweiterung gegenüber den Überlegungen von Wright (2000) und Silver (2005) war. Neben der Organisationsmacht, in der die Überlegung von der Macht der Zahl eingegangen ist, und einer strukturellen Macht, wird von einer institutionellen Macht ausgegangen (Brinkmann et al. 2008, S. 25). In einer späteren Reformulierung des Ansatzes, wurde dieser um die gesellschaftliche Macht erweitert (Schmalz und Dörre 2014, S. 230). Im Folgenden werden die vier verschiedenen Machtressourcenkonzepte (siehe Abbildung 4) erläutert. Sie sind dabei nicht additiv zueinander aufzufassen oder empirisch eindeutig voneinander zu unterscheiden. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um die verschiedenen Facetten von Lohnabhängigenmacht und sie stehen damit in einem komplexeren Verhältnis zueinander (Schmalstieg 2015, S. 261). Alle aber eint die sich aus der Macht ableitende Fähigkeit, die eigenen Interessen gegenüber anderen durchzusetzen.

Zunächst wird die strukturelle Macht betrachtet, weil sie sich unmittelbar aus dem Status der Lohnabhängigkeit beziehungsweise der Stellung der jeweiligen Person oder Gruppe im Produktionsprozess ergibt. Darin sind es die Lohnabhängigen, die zwar nicht die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besitzen, aber notwendig sind, um die Produktionsmittel für den Akkumulationsprozess des Kapitals brauchbar zu machen. Die (Re-)Produktion von Mehrwert kann durch Lohnabhängige immer wieder gefährdet werden, ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen. Deshalb muss eine Betriebsführung daran interessiert sein, Störprozesse jeglicher Art – angefangen bei informellen kurzen Pausen bis hin zur gezielten Sabotage – von vornherein zu unterbinden (Schmalz und Dörre 2014, S. 222). Um Produktionsmacht auszuüben, die Schmalz und Dörre als eine Form der strukturellen Macht identifizieren (ebd.), ist noch keine kollektive und zentrale Organisierung der Lohnabhängigen in Gewerkschaften nötig. Auch spontane, kollektive Arbeitsniederlegungen in Form wilder Streiks ohne gewerkschaftliche Organisierung sind jederzeit möglich, wobei deren Häufigkeit in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hat (Frindert et al. 2022). Insbesondere Lohnabhängige in den wichtigen Exportbranchen und vor allem in Produktionsclustern oder entlang von inter- und transnationalen Lieferketten würden über ein hohes Maß an Produktionsmacht verfügen. Allerdings seien sie dabei ständig der Drohung mit Standortverlagerungen, Rationalisierungen und Veränderungen in der Produktionsorganisation ausgesetzt (Schmalz und Dörre 2014, S. 222).

Schmalz und Dörre machen zudem zwei besondere Formen der Produktionsmacht aus. Zum einen sehen sie die Lohnabhängigen im Bereich von Transport und Logistik mit Zirkulationsmacht ausgestattet – also der Macht, die Zirkulation der Waren zu verzögern oder zu unterbrechen (ebd. S. 223). Daneben schreiben sie den Beschäftigten im Care-Sektor – wobei sie den Bildungssektor mitdenken – Reproduktionsmacht zu. Diese bestehe darin, die Verfügbarkeit von Arbeitskraft einzuschränken, indem die Externalisierung der Sorgearbeit der Haushalte in zumeist öffentliche Dienstleistungen oder die Externalisierung gesellschaftlichen Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft ins vermeintlich Private gestört wird. Durch einen Sorgearbeitsentzug könne zumindest indirekt der Produktionsprozess gestört werden. Exemplarisch konnte das am Kitastreik 2015 nachvollzogen werden, den ver.di und GEW organisierten und der die Arbeitskraft der Eltern aufgrund mangelnder Betreuungskapazitäten in der familiären Sorgearbeit band. Allerdings kann die Reproduktionsmacht nicht mit den gleichen Konfliktinstrumenten zur Geltung gebracht werden, die etwa bei Tarifkonflikten in Industriebetrieben eingesetzt werden. So weist Artus unter anderem darauf hin, dass beim Kitastreik mehr die Eltern der Kinder als die »Interessengegner« getroffen worden seien (2019, S. 19).

Neben der Produktionsmacht innerhalb des ökonomischen Gefüges machen Schmalz und Dörre die Marktmacht als zweite Form der strukturellen Macht aus (Schmalz und Dörre 2014, S. 223). Damit ist die Verfügbarkeit der passenden Ware Arbeitskraft gemeint. Das bedeutet, dass diese Macht zum einen von der Anzahl der erwerbsfähigen und erwerbstätigen Personen abhängt und zum anderen von deren Qualifikation beziehungsweise, wie sie für die jeweilige Organisation des Produktionsprozesses passen. Das macht die Marktmacht zu einem Feld gesellschaftlicher Regulation. Diese wird zumeist staatlich gesteuert, da die Quantität der Arbeitskraft unmittelbar von der Einwanderungspolitik, dem Rentenalter, ...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Reihe/Serie International Labour Studies
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Arbeitssoziologie • Gewerkschaften • Gewerkschaftsforschung • Industriesoziologie • Kritische Psychologie • Machtressourcenansatz • Mecklenburg-Vorpommern • Ostdeutschland • Partizipative Forschung • Relativierungsforschung
ISBN-10 3-593-45940-X / 359345940X
ISBN-13 978-3-593-45940-0 / 9783593459400
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