Weitere Sozialpädagogische SeitenSprünge -

Weitere Sozialpädagogische SeitenSprünge (eBook)

Rückblicke und Perspektiven
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
294 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8447-4 (ISBN)
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Fortsetzung erfolgt: Im zweiten Band der Sozialpädagogischen SeitenSprünge setzen sich die Autorinnen und Autoren erneut in vielfältiger und überraschender Weise mit innovativen Ideen und Herausforderungen der Sozialpädagogik auseinander. Durch die Wahl diverser Textformen lassen sie die Leserinnen und Leser auf originelle Art an richtungsweisenden Gedanken teilhaben. Die Texte umspannen Themen wie: Klassiker, Freiheit, Sinn, Lebenswelt, Nachhaltigkeit, Tertialität, Mandate Sozialer Arbeit, Subjektorientierung, wissenschaftliche Vielfalten sowie wissenschaftliche Logiken der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit. Wissenschaftsphilosophische, spirituelle, ethnografische, bildungstheoretische, ökologische, tugendethische sowie begriffliche Analysen runden den Band ab.

Bernd Birgmeier, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Professor für Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Eric Mührel, Dr. phil. habil., Dipl.-Päd. (Univ.), Dipl.-Soz. Arb. (FH), Professor für professionsspezifische und ethische Grundlagen sozialer Berufe, Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften. Michael Winkler, Dr. phil. habil., war bis 2018 Professor für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik sowie langjährig Direktor des Instituts für Bildung und Kultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er lehrt heute an der Evangelischen Hochschule Dresden und im Masterstudiengang der ARGE Bildungsmanagement in Wien. Und arbeitet als sozialpädagogischer Schriftsteller.

Wider die Asymmetrie – von symmetrischer Subjektkonstruktion und zirkulierender Reflexion in der Sozialpädagogik


Pascal Bastian und Jana Posmek

Urteilen und Entscheiden ist selten explizierter Bestandteil sozialpädagogischer Theorieangebote. Dennoch stellt die Fähigkeit, über Entscheidungen, die reflexiv gerahmt sind und sowohl theoretisches als auch erfahrungsbasiertes Wissen berücksichtigen, zu einem angemessenen professionellen Handeln zu gelangen, eine Kernkompetenz sozialpädagogischer Professionalität dar. Das Urteilen und Entscheiden wird somit zumindest implizit in theoretischen Darlegungen häufig mitgedacht. Bei genauerer Betrachtungsweise der diesbezüglichen Anforderungen (z.B. Bastian 2019) zeigt sich aus unserer Sicht jedoch eine gewisse Asymmetrie in der Betrachtungsweise der als relevant gesetzten Akteur:innen – üblicherweise die Professionellen auf der einen und die Adressat:innen auf der anderen Seite. Mit Blick auf die Subjektkonstruktion handelt es sich sogar um eine doppelte Asymmetrie: Einerseits bezüglich der Trennung zwischen Subjekt und Kontext (Kapitel 1) und anderseits hinsichtlich der Unterscheidung zwischen einem starken, professionellen und einem schwachen, adressierten Subjekt (Kapitel 2). Diese Asymmetrie werden wir auf den folgenden Seiten skizzieren und einen möglichen Gegenentwurf zeichnen (Kapitel 3).

1.Die kontextualisierten Professionellen: Von inneren und äußeren Bedingungen


Wenn man sich kritisch mit der in der Wissenschaft weit verbreiteten Konstruktion der Professionellen als starke, handelnde Subjekte befasst, sind gerade kognitionspsychologisch inspirierte Studien ein dankbares „Feindbild“ (vgl. etwa die seit Jahren geführte Debatte zu Diagnose und Fallverstehen, sehr eindrücklich im Heft 88 der Widersprüche (2003)). In einer solchen Perspektive auf Professionalität, wie sie sich etwa im Konzept der evidenzbasierten Praxis (McNeece/Thyer 2004) findet, wird die Fachkraft am deutlichsten als das handelnde Subjekt zum zentralen Bezugspunkt professionellen Urteilens, Entscheidens und Handelns erhoben (Bastian 2021). Einen besonders systematischen Entwurf dazu legen Baumann et al. (2013) mit ihrer „Decision-Making Ecology“ vor – ein Konzept, das sehr einschlägig in der internationalen Forschung rezipiert und angewendet wird (z.B. Lauritzen/Vis/Fossum 2018; Saltiel/Lakey 2020). Sie verorten die Entscheidungsfindung im Kopf der Fachkräfte, benennen aber auch Kontextbedingungen, welche die reine geistige Urteilsfähigkeit beeinflussen. Zu diesen zählen – neben fallspezifischen, organisatorischen und politischen Aspekten – weitere externe Merkmale wie Arbeitsbelastung, verfügbare Ressourcen, mediale Berichterstattung und die finanzielle Situation der Behörde. Aus dieser Perspektive entstehen Fehler aber auch durch die Fachkräfte selbst: Das Ziel einer rationalen Entscheidung wird durch kognitive Verzerrungen, denen selbst Expert:innen unterliegen, kontaminiert (Tversky/Kahneman 1974). Doch es gibt Abhilfe. Die Befähigung der Fachkräfte, zu möglichst „idealen“ Entscheidungen und wirksamen Hilfen zu gelangen, lässt sich dann vor allem mit versicherungsmathematischen Instrumenten und „evidenzbasierten“ Methoden verwirklichen (Shlonsky/Wagner 2005).

Strukturelle Bedingungen werden dabei nicht negiert, sondern als Kontext aus inneren und äußeren Bedingungen gefasst, die auf die Reinheit geistiger Urteilsfähigkeit einwirken (Bastian/Schrödter 2014). Dadurch wird ein defizitäres und negativ – durch Störfaktoren –, aber auch positiv – durch Methoden – beeinflussbares professionelles Subjekt konstruiert, das gleichwohl in der Verantwortung steht, sein professionelles Handeln selbsttätig durch die korrekte Anwendung methodischer Verfahren und fachliche Weiterentwicklung zu optimieren. Subjekt und Kontext sind streng getrennte Sphären.

2.Subjektivierungsweisen in der Betrachtung sozialpädagogischer Professionalität


Es gibt nun tatsächlich viele Gründe, solche evidenzbasierten Ansätze zu kritisieren, die über die Konstruktion probabilistischer Kausalitäten eine objektive Welt klarer Kategorisierungen und wirksamer Methoden erschaffen (Webb 2001). Die Konstruktion starker professioneller Subjekte finden wir aber auch in professionstheoretischen Ansätzen, denen man solche Simplifizierungen beim besten Willen nicht vorwerfen kann. Mark Humme (2015) hat in seiner gelungenen Dekonstruktion des Modells der „reflexiven Sozialpädagogik“ von Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto (2012) – eines der am meisten rezipierten Professionsmodelle der Sozialpädagogik – gezeigt, dass hier zwar die Bestimmung der Relation von Subjekt und Struktur und damit die Handlungsfähigkeit professioneller Subjekte konstitutiver Bestandteil der Überlegungen ist. Dennoch werde in der Reflexivitätsperspektive von „einem starken professionellen Subjekt ausgegangen, da unterstellt wird, dass professionelle Subjekte die Handlungsmöglichkeiten ihrer Adressat_innen direkt erweitern bzw. steigern können. […] [D]ie sozialpädagogische Fachkraft [wird] in ihrer Subjektivität als Ursprung von Professionalität vorausgesetzt. Strukturelle Dynamiken werden als vom Subjekt zu reflektierende Bedingungen betrachtet.“ (Humme 2015, S. 31)

Solche starken Subjektkonstruktionen finden sich folgerichtig ebenfalls in der sozialpädagogischen Forschung, auch in deren qualitativ-praxeologischen Ausprägung. In einer systematischen Aufbereitung des Forschungsstandes zum Kinderschutz konnten Katharina Freres, Mark Schrödter und Pascal Bastian (2019) herausarbeiten, wie die Professionalität der in diesem Arbeitsfeld tätigen Fachkräfte in qualitativen Studien kritisch beurteilt wird: In ihrem Handeln zeigen sich diverse Defizite, wie etwa der unsystematische Umgang mit Fallinformationen, die unreflektierte Übernahme von Problemdeutungen und Beobachtungskategorien anderer „mächtigerer“ Professionen wie der Medizin oder die Responsibilisierung von Eltern. Die Ergebnisse werden dann häufig mit einem unzureichenden Professionalisierungsgrad der Fachkräfte erklärt sowie – und hier kommen wieder die äußeren Bedingungen zum Tragen – mit der affirmativen Übernahme ökonomischer, effizienz- und effektivitätsgesteuerter Rationalisierungsstrategien im Kontext international erstarkender Sicherheits- und Manageralismuspolitiken.

Auch hier zeigt sich eine strenge Trennung des Subjekts als professionelle:r Entscheider:in und einem diskursabhängigen Kontext, der diese Entscheidungen beeinflusst. Diese ist besonders in ihrer Diskrepanz zum Subjekt des:der Adressat:in interessant: Denn die Adressat:innen werden als in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet und von ihnen hervorgebrachte Subjekte konstruiert. Diese Verwobenheit stellt eine grundlegende Bedingung für die Begründung von Interventionen dar. Sozialpädagogische Theoriebildung macht auf die ambivalenten Prozesse der Subjektivierung in ihrer Gleichzeitigkeit von Fremd- und Selbstführung (Kessl 2006) aufmerksam und entwirft das durch sie adressierte Subjekt als ein hybrides und dezentriertes. Ein relationaler Blick auf die Adressat:innen ist der Sozialen Arbeit daher nicht fremd. Denn, so Maria Bitzan und Eberhard Bolay (2017, S. 74),

„[w]er also, ‚Adressat_in‘ wird, bestimmt sich weder aus der Handlung eines ,autonomen‘ Subjekts noch allein aus einem sozialpolitisch-institutionellen Definitionsprozess. Vielmehr treffen unterschiedliche Deutungen, Zumutungen, Wahrnehmungen und Problematisierungen zusammen, ohne dass sie immer zusammenpassen würden – das erzeugt Widersprüche, die die Adressat_innen aushalten bzw. bewältigen müssen.“

Während Adressat:innen also im Vergleich zu den Professionellen als deutlich schwächere Subjekte konzipiert werden, ist mit Blick auf Letztere ein starker Subjektbegriff viel wirkmächtiger, vor allem auch, wenn es um eine kritische Bewertung der ihnen zugeschriebenen Handlungen geht. Und so scheitern Fachkräfte regelmäßig an den starken übermächtigen Kontexten, denen sie doch eigentlich ihr professionelles Handeln...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8447-4 / 3779984474
ISBN-13 978-3-7799-8447-4 / 9783779984474
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