Idyllen und Sehnsuchtsorte in Literatur und Medien für Kinder und Jugendliche (eBook)
331 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8304-0 (ISBN)
Dr. phil. Nils Lehnert ist seit April 2022 Lecturer für Kinder- und Jugendliteratur & Kinder- und Jugendmedien an der Universität Bremen.
1.Einleitung
In vager oder ironischer (wie man will) Anlehnung an das rhetorische Ideal eines angemessenen Verhältnisses von res und verba soll dieser Beitrag von etwas Kleinem ausgehend den Blick auf größere systematische Zusammenhänge der Idylle eröffnen. Konkret führe ich anhand eines Texts an das Thema heran, um von dort einige literaturgeschichtliche Referenzpunkte, die mir für den Zusammenhang des vorliegenden Bands relevant zu sein scheinen, aufzurufen. Daran lässt sich die Frage nach einem analytisch fruchtbaren und zugleich aus dem konkreten Material ableitbaren Begriff der Idylle oder des Idyllischen anschließen. Dies wird zunächst an einem Zugang zum Idyllischen als ein durch bestimmte Topoi indizierter Zusammenhang diskutiert und dann durch den Entwurf einer verfahrenslogischen Herangehensweise an Idyllen ergänzt. Um den Kreis zu schließen, konkretisiere ich diese Überlegungen noch einmal an meinem Ausgangspunkt. Dieser setzt folgendermaßen ein:
Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grand monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken, bloß weil ich die ruhige Geschichte des vergnügten Schulmeisterlein erzähle. (Jean Paul 1793/1960, S. 422)
Der hier zitierte zweite Absatz von Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal, laut Untertitel „Eine Art Idylle“, sagt schon sehr viel über die Idylle aus. Zunächst möchte ich aber etwas Kleineres als diesen trauten Kreis am Ofen in den Blick nehmen, eine Formulierung, eigentlich nur ein Wort. Es geht um den Hinweis, „keiner“ müsse „an die grand monde“ und „ans Palais royal“ denken, „bloß weil“ die Erzählinstanz „die ruhige Geschichte“ vom Schulmeisterlein erzähle. Das „bloß weil“ legt einen Zusammenhang nahe, der nicht selbstverständlich ist: Weshalb soll die mit dem Palais Royal eindeutig in Paris angesiedelte und daher welthistorisch-revolutionär gestimmte große Welt – die Erzählung erschien 1793 und wurde zwischen Dezember 1790 und Oktober 1791 geschrieben – uns überhaupt in den Sinn kommen, „bloß weil“ die Erzählinstanz vom Schulmeisterlein Wutz und seinem in jeder Hinsicht bescheidenen Leben erzählt? Nach heutigem Sprachgebrauch scheint Jean Pauls Formulierung die Assoziation der großen Welt mit der Geschichte des durch das Diminutiv schon im Titel verkleinerten Protagonisten im gleichen Zug aufzurufen, in dem er sie verwirft. Wenn das „weil“ kausal oder zumindest begründend verstanden wird, läge es jedenfalls nahe, dass das Negieren der Assoziation von grand monde und der Geschichte des Schulmeisterleins in irgendeiner Weise motiviert sein müsste; die Assoziation selbst sich also förmlich aufdrängte, und die Erzählinstanz sie daher von vornherein blockieren müsste. Oder, schwächer formuliert, das Erzählen der Geschichte wäre wenigstens der einzige Grund, aus dem man nicht an die Weltgeschichte, und was immer sonst mit dem Palais Royal (immerhin damals auch ein Ort der Prostitution; vgl. Krause 2021, S. 34–38) verbunden sein mag, denken muss. Doch auch dann wäre aufgerufen, was die Erzählung verdecken soll. Führt man sich den historischen Sprachgebrauch vor Augen, nach dem „weil“ auch temporal verstanden werden konnte, tritt dieser Evasionsaspekt noch deutlicher hervor: Nur für die Dauer der Erzählung lassen jene Assoziationen sich ausblenden, die, wie wir in der weiteren Geschichte erfahren, tatsächlich weit jenseits des Horizonts von Wutz liegen.
Die Formulierung „bloß weil“ nähme demnach in psychologischer Hinsicht auf, was die gesamte Inszenierung der Erzählsituation in diesem ersten Satz in räumlicher Hinsicht durchspielt. Die Vorhänge werden zugezogen, die Zuhörerschaft bildet einen möglichst engen, geschlossenen Kreis, um die Geschichte zu hören, und die Welt draußen, die sich ja doch nur „über der Gasse“ und damit schon fast vor der Haustür befindet, bleibt außen. Strukturell gehört eine solche Abgrenzung sicherlich zu den prominentesten Kennzeichen der Idylle. Sie schlägt sich in der schon oft beschriebenen Tendenz zu geschlossenen oder abgeschirmten Räumen (vgl. Tismar 1973, S. 8; Böschenstein-Schäfer 1977, S. 13; Böschenstein 2001, S. 121) – etwa der klassischen Struktur des Locus amoenus im Schatten unter einem Baum oder einer Felswand – ebenso nieder wie in den thematischen Verhandlungen dessen, was in der Idylle keinen Platz finden soll: „Oft reiß ich mich aus der Stadt los und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben“ (Geßner 1756/1973, S. 15). In der Vorrede von Salomon Geßners einflussreichen Idyllen von 1756 entspricht dem thematischen Ausschluss der Stadt und der Selbstentfremdung des Kulturmenschen noch der Gang nach draußen, vor die Tore, und darin konnte mit einiger Berechtigung auch der utopische Sinn von dessen kleinräumlichen Idyllen gesehen werden (vgl. Schneider 1980, S. 295 f., S. 304–306; Garber 2009, S. 265–267). Bei Jean Paul kommen die thematische und die räumliche Abschließung im Innenraum zusammen, um eine Erzählsituation zu inszenieren, die den einhegenden Rahmen des idyllischen Raums in einer narrativen Rahmen-Binnenstruktur spiegelt. Auch solche Entsprechungen von formalen und thematischen Merkmalen finden sich häufig in Idyllen – beim gerade zitierten Geßner-Beispiel kann man der Vorrede eine solche Rahmenfunktion zusprechen (vgl. Thums 2021, S. 73 f.).
Indem die Texte auf diese Weise ihre eigene Machart zum Gegenstand wiederholter Spiegelung machen – bzw. umgekehrt das Thematische offen in der Machart spiegeln –, stellen sie die Bedingungen ihrer eigenen Aussageweise und deren Implikationen aus. Wolfgang Iser interpretierte unter Berufung auf Ernst A. Schmidt die Bukolik, d. h. hier die Schäferdichtung der Antike und Renaissance, als „Selbstnachahmung der Dichtung“ (Iser 1991, S. 71), bei der mittels der Hirten nicht etwa das Hirtendasein als solches dargestellt wird, sondern die Zeichen der Schäferwelt zur Darstellung von etwas anderem, Nicht-Anschaulichem, nämlich der Dichtung eingesetzt werden. Mit dieser „Ablösung vom überlieferten Mimesisbegriff“ (ebd.) kommt die Praxis des literarischen Fingierens zur Anschauung. Iser bezieht dieses selbstreflexive und metapoetische Verfahren, wie gesagt, auf die Schäferdichtung der Antike und der Frühen Neuzeit. Die damit verbundenen Beobachtungen können aber auch Anregungen geben für einen weiter gefassten Begriff von Idylle, der die Gattungsbezeichnung nicht, wie in einschlägigen Lexikonbeiträgen (vgl. Häntzschel 1997, S. 123; Garber 1997, S. 288; Mix 2009) oder mehr oder weniger implizit auch in Renate Böschenstein-Schäfers instruktiver Einführung (vgl. Böschenstein-Schäfer 1977, S. 5), tendenziell auf die mit Salomon Geßners Idyllen einsetzende Textproduktion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einschränkt, sondern, mit den nötigen Differenzierungen, die antike und frühneuzeitliche Bukolik ebenso erfassen kann wie die weniger an einen bestehenden Gattungszusammenhang gebundenen Formen des Idyllischen seit dem 19. Jahrhundert.9 Dabei muss nicht immer von einer starken Form metapoetischer Selbstreflexivität ausgegangen werden, wie sie die allegorische Schäferdichtung der Frühen Neuzeit noch größtenteils prägt, aber die Doppelstruktur einer scheinbar einfachen, natürlichen Diegese, deren Künstlichkeit und Gemachtheit zugleich ausgestellt und verdeckt wird, ist ein Kennzeichen auch der...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8304-4 / 3779983044 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8304-0 / 9783779983040 |
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