Was heißt hier noch real? (eBook)
175 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962247-7 (ISBN)
Claus Beisbart, geb. 1970, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bern, forscht über computerbasierte Methoden in den Wissenschaften und über Künstliche Intelligenz.
Claus Beisbart, geb. 1970, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bern, forscht über computerbasierte Methoden in den Wissenschaften und über Künstliche Intelligenz.
Kapitel 1
Einleitung
Kapitel 2
Was ist virtuelle Realität? Und wie entsteht sie?
VR-Ausrüstungen
Virtuelle Realität
Wie virtuelle Realität entsteht
Von der Computersimulation zur virtuellen Realität
Von anderen Technologien zur virtuellen Realität
Virtuelle Realität und andere Phänomene der Computerwelt
Fazit
Kapitel 3
Leben wir in einer computergenerierten Welt?
Das Gehirn im Tank
Gründe gegen das Gehirn-im-Tank-Szenario
Das Simulationsargument
Der Fehler im Argument
Fazit 67
Kapitel 4
Wie real ist die virtuelle Realität?
Was heißt hier schon »real«?
Der Realismus von David Chalmers
Gründe für den Realismus
Probleme mit dem Realismus (1): Die Vielzahl der Objekte und ihre Abhängigkeit von Interpretationen
Probleme mit dem Realismus (2): Die fragile Existenz der Objekte
Fiktionen
Fiktionalismus vs. Realismus und die Folgen
Fazit
Kapitel 5
Was darf ich in der virtuellen Realität tun?
Einwände gegen eine Ethik für die virtuelle Realität
Von den Folgen her gedacht (1): Kurzfristige Konsequenzen
Von den Folgen her gedacht (2): Längerfristige Konsequenzen
Von den Einstellungen her gedacht
Fazit
Kapitel 6
Was bringt mir die virtuelle Realität?
Der instrumentelle Wert von VR-Szenarien (1): Entwicklung von Fähigkeiten
Der instrumentelle Wert von VR-Szenarien (2): Wissenserweiterung
Der intrinsische Wert von VR-Szenarien
Die Erlebnismaschine
Unterschiede zwischen der Erlebnismaschine und der heutigen virtuellen Realität
Einen Garten pflegen – lieber in der gewöhnlichen oder der virtuellen Realität?
Fazit
Kapitel 7
Virtuelle Realität – Utopie oder Weltflucht?
Die Utopie der Welterschaffung
Die Utopie der grenzenlosen Wahlfreiheit
Die gegenwärtige Situation
Bleibt der OR treu!
Anmerkungen
Literaturhinweise
Personenregister
Sachregister
Wie virtuelle Realität entsteht
VR-Ausrüstungen sind dadurch definiert, dass sie Eindrücke oder Erfahrungen mit gewissen Eigenschaften wie Immersion erzeugen. Aber wie genau tun sie das? Woher kommen die Bilder und Töne, die der Person den Eindruck vermitteln, sie befinde sich in einem anderen Szenario, einer anderen Welt?
Letztlich ist dafür ein Computer verantwortlich. Das Headset und die Touch-Controller funktionieren nur dann wie gewünscht, wenn sie an eine Konsole oder einen anderen Computer angeschlossen sind. Dort wird andauernd ein Computerprogramm ausgeführt, was einigen Strom verbraucht. Wegen der entscheidenden Rolle des Computers sprechen daher einige nur dann von virtueller Realität, wenn diese durch einen Computer generiert wird.10 Entsprechend der oben gegebenen Definition ist der Computer für VR-Ausrüstungen nicht notwendig, doch beruhen de facto alle VR-Ausrüstungen, die heute von Interesse sind, auf dem Computer.
[23]Wie erzeugt der Computer das VR-Szenario, in das wir mit Hilfe der VR-Ausrüstung eintauchen? In diesem Zusammenhang ist die Technik der Computersimulation entscheidend. Computersimulationen kommen ursprünglich aus den Wissenschaften. Sie werden etwa für die Wettervorhersage oder die Prognose der Klimaerwärmung eingesetzt. Schauen wir uns daher als Beispiel an, wie Computersimulationen in die Erforschung des Wetters Einzug hielten. Auf dieser Basis lässt sich gut verstehen, wie Computer VR-Szenarien generieren.
Das Wetter von morgen interessiert die meisten Menschen. Daher gab es schon früh Versuche, das Wetter vorherzusagen. Eine ganz einfache Regel lautet, dass das Wetter morgen genauso ist wie das Wetter heute. Die heutigen Wettervorhersagen sind aber deutlich verlässlicher als diese einfache Regel. Entscheidend dafür war zunächst die Erkenntnis, dass das Wetter durch Vorgänge in der Atmosphäre hervorgebracht wird, die sich mit Hilfe von physikalischen Naturgesetzen beschreiben lassen. Diese werden durch mathematische Gleichungen, die sogenannten Navier-Stokes-Gleichungen, ausgedrückt. Der Norweger Vilhelm Bjerknes (1862–1951) bezog diese Gleichungen 1904 erstmals auf die Atmosphäre, um zu zeigen, wie das Wetter vorhergesagt werden könnte.11
Die Gleichungen, welche die Gesetzmäßigkeiten in der Atmosphäre ausdrücken, verbinden mehrere physikalische Größen wie etwa den Luftdruck und die Temperatur miteinander. Diese physikalischen Größen können unterschiedliche Werte annehmen: Die Temperatur kann beispielsweise 12 oder 24 Grad betragen. Weil die Werte der physikalischen Größen veränderbar sind, sagt man, dass diese Größen in die Gleichungen als Variablen eingehen. Die Gesetze besagen dann aber, dass die Werte der genannten physikalischen Größen nicht völlig unabhängig voneinander sind. Wenn die [24]Werte gewisser Variablen gegeben sind, dann sind auch die von anderen Variablen eindeutig bestimmt.
In die Navier-Stokes-Gleichungen gehen nun nicht nur Größen wie Luftdruck und Temperatur, sondern auch deren Änderungsraten ein. Diese beschreiben, wie sich die Größen mit der Zeit verändern. Damit kommt die zeitliche Entwicklung ins Spiel: Die Gleichungen beschreiben die Zeitentwicklung der Atmosphäre. Sind die Werte der physikalischen Größen und ihrer Änderungsraten für einen bestimmten Anfangszeitpunkt bekannt – sind also sogenannte Anfangsbedingungen gegeben –, dann wird die weitere Entwicklung der Atmosphäre durch die Gleichungen bestimmt. Man kann daher ausrechnen, wie sich die Atmosphäre weiterentwickelt. Daraus ergibt sich eine Vorhersage, wie sie für die Wettervorhersage gewünscht wird. In der Mathematik konnte man sogar zeigen, dass die Anfangsbedingungen den Zeitverlauf für sogenannte deterministische Systeme eindeutig festlegen. Das Wetter ist nun wenigstens annäherungsweise ein deterministisches System.
Insgesamt schuf Bjerknes mit seinen Erkenntnissen die Grundlagen für eine wissenschaftlich fundierte Wetterprognose. In der Praxis half Bjerknes’ Vorschlag aber erstmal nicht weiter. Die entscheidenden Gleichungen waren zwar bekannt, doch ließen sie sich nicht lösen. Das liegt daran, dass die physikalischen Größen in der Atmosphäre nicht nur von der Zeit, sondern auch vom Ort abhängen. In der Schweiz ist es meist wärmer als in Norwegen, und in höheren Schichten der Atmosphäre ist es kälter als in tieferen. Die Navier-Stokes-Gleichungen berücksichtigen dies, indem sie jedem Ort in der Atmosphäre physikalische Größen zuweisen. Dadurch haben wir es mit einer riesigen Menge an physikalischen Größen zu tun: Für jeden Ort gibt es Größen wie Temperatur und Druck. Daraus ergeben sich zwei Probleme:
-
[25]Man muss die Temperatur an jedem Ort kennen, um den Anfangszustand bestimmen und die Gleichungen lösen zu können.
-
Es ist wahnsinnig kompliziert, die Gleichungen zu lösen. Wir haben es mit extrem vielen Variablen zu tun, daher können wir die Gleichungen nicht mit ein paar bekannten mathematischen Funktionen lösen, wie das in anderen Fällen möglich ist.
Es waren also weitere Schritte notwendig, um die Wettervorhersage zu verbessern. Dabei war der Computer entscheidend.
Der nächste Schritt bestand in einer Vereinfachung, »Diskretisierung« genannt. In der Meteorologie wird die Atmosphäre dabei gedanklich in Blöcke zerlegt. Die Blöcke erhält man etwa, indem man die Erdoberfläche mit einem Netz von Dreiecken überzieht. Bei aktuellen Simulationen haben diese eine Seitenlänge von etwa 10 km. Wenn man nun ausgehend von einem Dreieck auf der Erdoberfläche in die Höhe geht, ergibt sich eine Säule. Diese wird gedanklich in ca. 90 aufeinanderliegende Blöcke unterteilt. Wenn man analog für alle Dreiecke auf der Erdoberfläche vorgeht, dann ergibt sich eine gedankliche Aufteilung der Atmosphäre, die die Erde umhüllt.
Die entscheidende Idee besteht nun darin, nur noch jedem Block konkrete Werte für die physikalischen Größen zuzuordnen. Die Temperatur variiert dann nicht mehr kontinuierlich zwischen der Schweiz und Norwegen, sondern springt von Block zu Block ein wenig hin und her.
Eine ähnliche Diskretisierung wird auch in Bezug auf die Zeit vorgenommen. Die Zeit wird also in Zeitintervalle einer bestimmten Länge zerlegt, beispielsweise den Zeitraum zwischen 12 und 15 Uhr, den zwischen 15 und 18 Uhr und so weiter. Für jedes Zeitintervall werden die Werte der physikalischen Größen nur einmal berechnet.12
[26]Mit Hilfe der Diskretisierung wird es für die Meteorologie einfacher, einen Anfangszustand festzulegen. Immer noch braucht man sehr viele Werte physikalischer Größen, doch hat man nach und nach ein passendes Netz von Messstationen aufgebaut, so dass man einigermaßen vernünftig abschätzen kann, was der Anfangszustand ist.
Die Diskretisierung ist auch für das zweite Problem, also die Lösung der Gleichungen, zentral. Denn auf der Basis der Diskretisierung lassen sich die ursprünglichen Gleichungen durch neue Gleichungen annähern. Diese beziehen sich nur noch auf die Blöcke und die gewählten Zeitintervalle. Jede dieser neuen Gleichungen ist jetzt lösbar. Es müssen nur ganz einfache Rechenschritte vollzogen werden. Grob gesagt muss beispielsweise zur Temperatur, die in einem Block in einem Zeitintervall herrscht, etwas hinzugezählt oder abgezogen werden.
Es gibt allerdings immer noch ein Problem: Die Rechenschritte, die es nach der Diskretisierung zu vollziehen gilt, sind zwar einfach, aber es gibt sehr viele davon. Das wird deutlich, wenn wir uns als Beispiel Deutschland anschauen. Seine Fläche beträgt etwa 357 376 Quadratkilometer. Wenn man es in Dreiecke mit ca. 10 km Seitenlänge zerlegt, kommt man auf mehr als 2000 Dreiecke. Wenn jede Säule über einem Dreieck in 90 Blöcke zerlegt wird, dann sind wir schon bei fast 200 000 Blöcken. Für jeden von diesen müssen mehrere physikalische Größen ausgewertet werden, und das alles für mehrere Zeitintervalle. Insgesamt sind wir damit schnell bei Millionen von Rechnungen. Ein Mensch würde dafür viel zu lange brauchen. Ehe er auch nur einen Bruchteil der Rechnungen durchgeführt hätte, wäre der Zeitpunkt, für den das Wetter vorgesagt werden sollte, bereits da. Eine echte Vorhersage, die heute schon sagt, was morgen geschieht, ist so nicht möglich. Lewis Fry Richardson (1881–1953), der Erste, der die Diskretisierung der einschlägigen Gleichungen [27]untersuchte, schrieb 1922 frustriert, es werde vielleicht » in der fernen Zukunft einmal möglich sein, die Berechnungen schneller durchzuführen, als das Wetter voranschreitet […] Aber das ist ein Traum.«13
Inzwischen hat der Computer Richardsons Traum wahrgemacht. Denn ein Computer ist ein Rechner, und bei hinreichender Rechenleistung kann er sehr viele Rechenschritte in kurzer Zeit durchführen. 1950 wurde erstmals...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2024 |
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Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Analytische Philosophie • Bedeutung • Bewusstsein • Computergenerierte Welt • Computerprogramm • Computersimulation • Computerwelt • David Chalmers • Descartes • Erlebnismaschine • Eskapismus • Ethik • Fiktion • Gedankenexperiment • Gehirn im Tank • Geist • Matrix-Maschine • Philosophie • Philosophie des Geistes • Putnamsche Gedankenexperiment • reale Welt • Realismus • Realität • Realitätsmaschine • Realitätsverlust • Rechnersimulation • Simulationsargument • Simulationsmodell • Sinn • Skeptizismus • Solipsismus • Soziologie • Utopie • Virtuelle Realität • VR • Wahlfreiheit • Wahrheit • Was ist Realität • weltenflucht • Welterschaffung • Weltflucht • Welt im Geist • Wissen |
ISBN-10 | 3-15-962247-9 / 3159622479 |
ISBN-13 | 978-3-15-962247-7 / 9783159622477 |
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