Ein Leben zählt nichts - als Frau im arabischen Clan (eBook)

Spiegel-Bestseller
Eine Insiderin erzählt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31621-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Leben zählt nichts - als Frau im arabischen Clan -  Latife Arab
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Sie stehen für Raub, Schutzgelderpressung, Drogengeschäfte und Menschenhandel, betrachten den deutschen Staat als Selbstbedienungsladen, vor Polizei und Justiz haben sie keinen Respekt. Vor Frauen erst recht nicht. Latife Arab wurde in einen der größten Clans Deutschlands hineingeboren. Bereits als Kind war sie in die kriminellen Machenschaften involviert, musste als Kurierin herhalten oder Falschaussagen machen. Es folgten knapp dreißig Jahre, in denen sie ihrer Familie und ihrem Mann wie eine Sklavin zu dienen hatte, missbraucht und gedemütigt wurde. Nach sechs gescheiterten Versuchen schaffte sie es, sich und ihre Kinder zu retten. Latife Arab ist die erste weibliche Stimme, die aus dem inneren Kreis eines Clans berichtet und Einblicke in ein skrupelloses Familien- und Wertesystem gewährt. Es ist die Geschichte eines steinigen Neuanfangs und die einer Emanzipation, die noch immer andauert - denn die Großfamilie lauert überall.
  • Die erste weibliche Stimme, die aus dem Inneren eines der größten arabischen Clans in Deutschland berichtet
  • Kriminalität, Blutrache, Zwangsehen: Einblicke in ein skrupelloses Familien- und Wertesystem
  • Ein sehr persönlich erzähltes, enthüllendes und politisches Buch über die Macht der Clans und das Versagen des deutschen Staates


Latife Arab ist ein Pseudonym, das die Autorin schützen soll. 1980 in einem kleinen türkischen Dorf geboren, kam sie mit fünf Jahren nach Deutschland, wo sich ihre Familie zu einem der größten Clans in Deutschland entwickelte. Mit 28 Jahren kehrte sie der Familie den Rücken. Heute lebt sie mit ihren Kindern und ihrem deutschen Partner in der Nähe von Berlin.

ALMANYA

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wann ich auf die Welt gekommen bin. Das Datum, das sich in meinem deutschen Personalausweis findet, ist der 28.5.1980. Es steht dort wie ein unverrückbarer Fakt, in gedruckten Lettern, direkt unter meinem Namen. Auch der Name ist nicht der, mit dem ich geboren wurde. Ich weiß nicht mehr, der wievielte Name es ist, den ich heute trage. Irgendwann hört man einfach auf, darüber nachzudenken, und wechselt die Identität wie ein Kleidungsstück. Irgendein Erwachsener aus meinem Heimatdorf hat das Datum bestimmt, weil er zufällig an diesem Tag irgendwo in einer Behörde in der nächsten, weit entfernt gelegenen Stadt etwas Wichtiges zu tun hatte. Diese Reise hat er genutzt, um gleich alle Kinder anzumelden, die in den letzten Jahren im Dorf geboren worden waren. So kommt es, dass einer meiner Brüder, meine Cousins und Cousinen alle den gleichen Geburtstag haben wie ich, nur das Jahr ist ein anderes. Diese Mühe haben sie sich immerhin gemacht: grob zu schätzen, wie alt das jeweilige Kind wohl sein mochte. Zu gerne würde ich wissen, wann ich wirklich geboren wurde.

Die Heimat meiner Eltern, in den anatolischen Bergen im Süden der Türkei, ist, von oben betrachtet, wunderschön. Von den Hügeln sieht man die weiten Felder, Nuss-, Feigen- und Mandelbäume ragen in den Himmel, überall stehen bunte Obstbäume mit so vielen Früchten, dass jeder deutsche Obstbauer mit seinen mickrigen Apfel- und Kirschbäumen vor Neid erblassen würde.

Dieses Dorf war viele Jahre meine Welt. Hier lebten etwa zwei- bis dreihundert Menschen. Irgendwie waren wir alle miteinander verwandt. Unsere Sprache war Arabisch, wobei wir eigentlich Türken waren. Wer also waren wir? Türkische Araber, die in einem Kurdengebiet lebten und eigentlich auch kurdische Vorfahren hatten? Aber das durften wir nicht sagen, mit Kurden wollte niemand in Verbindung gebracht werden.

Die schlichten Häuser waren aus Lehm und Blocksteinen gebaut und hatten in der Regel zwei Ebenen. Auf der unteren lebten die Tiere, jeder Dorfbewohner hatte Kühe, Lämmer, Hühner oder Ziegen. Außen am Haus führte eine Treppe hoch in den Wohnbereich, der meist aus nicht mehr als einem Zimmer bestand, mit einem Holzofen in der Mitte und weiter nichts. In diesem Raum wurde gelebt, gekocht, gegessen und geschlafen, im Winter versammelten sich alle um den Ofen und es wurde wild diskutiert. In der warmen Jahreszeit, wenn es im Haus zu heiß war, spielte sich ein Großteil unseres Lebens im Hof, auf der Terrasse oder dem Dach ab. Fernsehen oder Spielsachen kannten wir Kinder nicht.

Das Haus meiner Großeltern galt mit seiner großen Terrasse als Zentrum des Dorfes. Mein Großvater war sehr angesehen und mit seinem gepflegten Schnurrbart der schönste Mann im ganzen Ort. Er hatte sogar gesunde Zähne, was auch nicht selbstverständlich war. Als junger Mann hatte er im Libanon für britische Diplomaten gearbeitet, hatte für sie eingekauft und sich um Haus und Garten gekümmert. Meine Großmutter war seine dritte Ehefrau, zusammen hatten sie zwölf Kinder. Sie war die wichtigste Frau im Dorf. Ich liebte sie über alles, sie war mein Vorbild, in ihrer Nähe hatte ich als Kind nie Angst.

Meine Mutter, ihre Tochter, wurde im Libanon geboren. Als Mitte der 1970er-Jahre der Bürgerkrieg begann, floh die Familie in die Türkei und ließ sich in diesem Dorf nieder. Mit vierzehn Jahren wurde meine Mutter verheiratet, ein Jahr später kam ich zur Welt. Mein Vater ist in der Türkei geboren, im gleichen Dorf wie ich. Er und meine Mutter sind verwandt: Cousin und Cousine. Anders als die Familie meiner Mutter war seine Familie jedoch verarmt und genoss im Dorf keinen besonders guten Ruf. Verheiratet wurden die beiden trotzdem. Zwischen ihren Familien waren seit Generationen Rechnungen offen, es gab ein altes Versprechen und Versprechen darf man nicht brechen. Mein Vater war fast nie zu Hause, er machte Geschäfte in Jordanien. Manchmal, wenn er von seinen Reisen zurückkam, brachte er Dinge mit, die ich nie zuvor gesehen hatte. Am meisten beeindruckt hat mich ein Stück weiße Schokolade in Glitzerfolie.

Meine Großmutter war überglücklich, als ich geboren wurde. Sie hatte meiner Mutter gewünscht, dass ihr erstes Kind ein Mädchen sein würde. Ein Mädchen konnte ihr zur Hand gehen. Schon im Alter von vier Jahren musste ich auf zwei jüngere Geschwister achten, mit dem Vieh, auf den Feldern und in der Küche helfen. Den Jungen gegenüber hatten wir Mädchen Respekt zu zeigen, daran erinnerte unser Vater uns jeden Tag.

Mir war also bereits früh klar, was meine Aufgaben waren. Meine Mutter hat mir nie etwas erklärt, sie wies mich einfach an, was ich zu tun hatte. Ich hatte zu gehorchen, meine Pflichten im Haushalt zu erledigen, durfte nichts hinterfragen, egal wie seltsam und unfair es mir erschien. Meine Großmutter hingegen sprach mit uns Mädchen. Sie bläute uns ein, immer wachsam zu bleiben und für unsere weiblichen Körper zu sorgen, damit wir eines Tages möglichst gut verkauft werden konnten. Waren unsere Körper unversehrt und rein, würden wir unseren Eltern viel Geld einbringen. Die Worte meiner Oma, von denen ich damals natürlich noch nicht viel verstand, habe ich bis heute im Ohr: »Betrachte das Ganze als Geschäft. Man kann ein Mädchen nur weiterverkaufen, wenn es unbeschädigt ist.«

Das Leben im Dorf war rau und hart, aber es war mein Leben. Ich kannte nichts anderes und wie wohl jedes Kind nahm ich es hin und machte das Beste daraus.

Ich kann mich an eine Situation erinnern, die mich stark geprägt hat. Eine meiner Cousinen war einem Cousin versprochen. Am Abend vor der Hochzeit saßen die Frauen der Familie zusammen und redeten auf das junge Mädchen ein, sie war vielleicht dreizehn Jahre alt. Ich erinnere mich an ihr Weinen, ihre Bitten an die Mutter, dass sie Angst habe und zu Hause bleiben möchte. Es half nichts. Die Frauen bereiteten sie darauf vor, was am nächsten Tag passieren würde: die Feier, die Hochzeitsnacht, das Leben als verheiratete Frau. Ich saß auf dem Schoß meiner Großmutter und lauschte fasziniert den unerklärlichen Dingen, die ich erst Jahre später zusammensetzen konnte.

Eine andere Geschichte, die ich niemals vergessen werde, ist die, wie eine meiner vielen entfernten Tanten sich in ihrem Haus mit Benzin übergoss und sich anzündete, nachdem sie über Jahre von ihrem Ehemann gequält worden war. Ihr Mann schrie um Hilfe, wir alle rannten hin und sahen sie lodern wie einen Feuerball. Ich kann mich an den Geruch von verbranntem Fleisch erinnern, daran, wie das lange Synthetikkleid an ihrem Körper klebte wie Gummi und sie dennoch keinen Ton von sich gab. Keinen Schrei, kein Jammern, keinen Schmerzenslaut. Diese Genugtuung gönnte sie ihrem Mann nicht. Ich sehe die vollen Brüste noch vor mir, die sie zu dieser Zeit hatte, da sie noch ihr jüngstes Kind stillte. Wie verzweifelt muss sie gewesen sein, ihrem Leben auf diese grausame Art ein Ende zu setzen. Als ihre Geschwister das Feuer mit Decken gelöscht hatten, war nicht mehr viel zu machen, meine Tante starb wenige Stunden später. In dieser Nacht schlief ich keine Sekunde. Das ganze Dorf war in Aufregung, jeder stellte sich lautstark entweder auf ihre oder auf die Seite ihres Mannes.

Ebenso deutlich steht mir noch vor Augen, wie ein entfernter Onkel von mir ein kleines Mädchen mit dem Traktor überrollte; ob absichtlich oder aus Versehen, das kommt darauf an, wen man fragt. Als Wiedergutmachung gab er ihrer Familie eines seiner Felder – so viel war in meiner Heimat das Leben eines Mädchens wert.

Das war das Frauenbild, mit dem ich aufgewachsen bin: Eine Frau ist eine Ware, ihr Wort hat kein Gewicht, ihr Leben keinen Wert. Und auch wenn ich es mit fünf Jahren noch nicht im Detail verstand, so hat es doch meine Vorstellung davon, was es heißt, eine Frau zu sein, bis in die tiefsten Schichten meines Unterbewusstseins geprägt. Bis heute begegne ich manchmal Gedanken und Gefühlen in mir, die ich hoffte längst hinter mir gelassen zu haben. Fühle, dass auch ich nichts wert bin, denke, dass es mir nicht zusteht, ein neues, freies Leben zu leben.

Wie alle Frauen im Dorf schuftete auch meine Mutter von früh bis spät. Nach dem Aufstehen versorgte sie die Tiere, dann ihre Familie, anschließend die Familie meines Vaters, und danach ging es auf die Felder. Abends wartete wieder der Haushalt. Dieser Kreislauf kannte keine Pause, sie arbeitete von morgens bis abends, jeden verdammten Tag. Die Männer waren für das Organisatorische zuständig, sie verkauften die Ernte und erteilten Befehle. Der Mann, Bruder, Vater oder Onkel bestimmt in dieser Kultur über alles, auch über dein Leben als Frau.

Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, woher wir kommen, kann ich meiner Mutter ein wenig verzeihen. Kann sie ein bisschen verstehen, ihre Herzlosigkeiten, ihre Wut nachvollziehen. Aber letztendlich hatte sie die Wahl, als sie nach Deutschland kam. Sie hatte die Möglichkeit, sich für ein Leben in Freiheit zu entscheiden. Sie hatte die Möglichkeit, sich zu bilden, lesen und schreiben zu lernen. Diese Chance hat sie nicht genutzt, hat sich immer tiefer in die neu wachsenden Strukturen hineinziehen lassen. Sie hat unser Dorf zwar verlassen, es aber niemals erlaubt, dass das Dorf sie verlässt.

Einige Zeit schon machten damals Geschichten bei uns die Runde: Einer aus dem Nachbardorf ist nach Almanya gegangen. Er hat sein Vieh verkauft und alle haben ihm Geld für die Reise geliehen. In Almanya gibt es Maschinen, die die Wäsche waschen, das Geld liegt auf der Straße. Sobald er dort ist, wird er sein ganzes Dorf nachholen, einen nach dem anderen.

Als meine Eltern beschlossen, ebenfalls nach Almanya zu gehen, war ich fünf...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • 4 blocks • Abou-Chaker • al-Zein • arabische Clans • Biografie • Biographien • clanaussteigerin • Die Macht der Clans • eBooks • erste Frau • Familienclan • Gangs of Berlin • Grünes Gewölbe • Insider • Kriminalität • Mafia • Neuerscheinung • ohnmacht des staates • Organisierte Kriminalität • Parallelgesellschaft • Remmo • schwacher staat • True Crime • Weibliche Stimme
ISBN-10 3-641-31621-9 / 3641316219
ISBN-13 978-3-641-31621-1 / 9783641316211
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